Krummacher, Friedrich Wilhelm - XXXIII. Davids Tod und Vermächtniß.
Auch die Asche der Kaiser und Könige, der Helden und Weisen wägen wir in unsrer Hand, und sprechen dem Sänger des 8. Psalms nach: „Was ist der Mensch, Herr, daß du sein gedenkest, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?“ Und doch ragt der vergängliche Adamssproß über Alles, was Großes und Größtes um ihn her vor Augen ist, hoch empor. Die Asche, die er zurückläßt, ist nur der Staub der Wanderschaft, den in ihm ein für die Ewigkeit geschaffenes Wesen bei seinem Auffluge zu lichteren Höhen vom Fuße schüttelte; sein gebrechlicher und verwesender Leib nur das Reisekleid, in dem er seiner wahren Heimath, dem Lande der Unsterblichkeit, entgegenschritt? In unsern Tagen ergeht es aber Manchem mit seiner Hoffnung auf ein besseres Jenseits, wie dem Bergmann, der in einem labyrinthischen Schachte sich ängstlich über seine Grubenlampe herbeugt, weil sie inmitten der Finsterniß, die ihn umgraut, und der schauerlichen Abgründe, an deren Rande er sich weiß, jeden Augenblick zu erlöschen, und ihn unrettbar einem entsetzlichen Untergange preiszugeben droht. Schmach aber Jedem, dem es also noch ergehn kann, nachdem in das Dunkel des Todes das gewaltige Licht aus dem offnen Grabe in Joseph's Garten erhellend und verklärend hereinbrach! Wie wird ein Solcher schon durch die lebenskräftige Ahnung vieler Heiden beschämt, die jenes Licht noch nicht erglänzen sahen, und für ihre Unsterblichkeitshoffnung keines andern Grundes sich bewußt waren, als den sie in der zu einem höheren Dasein organisirten menschlichen Natur zu finden glaubten; und wie vollends durch die Männer und Frauen des alten Bundes, welche die nach Gottes weisem Rathe ihnen nur erst in Gestalt einer leise heraufsteigenden Dämmerung zu Theil gewordenen Offenbarung über die zukünftige Welt mit einer Vertiefung auszubeuten wußten, daß ihnen mindestens das außer allem Zweifel stand, was der Prediger Salomo Cap. 12, 7 bezeugt: „Der Leib kommt wieder zur Erde, wie er gewesen ist; der Geist aber wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.“ Das Glaubensauge Mancher unter ihnen reichte indeß, wie schon zum öftern bemerkt worden ist, noch ungleich weiter. Daß Letzteren auch der Mann beigehörte, den wir heute vom Schauplatz seiner Erdenkämpfe werden abtreten sehen, wird Niemanden Wunder nehmen.
1. Könige 2, 10. Also entschlief David mit seinen Vätern und ward begraben in der Stadt Davids.
1. Chronika 29, 28.: Und er starb in gutem Alter voll Leben, Reichthum und Ehre.
In dieser schmucklosen Kürze, und dennoch bedeutsam und inhaltreich genug, gibt die heilige Geschichte uns Kunde von dem Lebensende Davids, und entschleiert uns sein Sterbebette zuerst, und dann das reiche Vermächtniß, das er der Welt hinterlassen.
1.
Wahr ist's, die Kinder Israel hatten, bevor die nachdavidischen großen Propheten, namentlich ein Jesaias, Hesekiel und Daniel ihren Mund aufthaten, um die Hoffnung nicht zwar ihrer persönlichen Fortdauer nach dem Tode, wohl aber eines seligen Fortlebens in der jenseitigen Welt noch schwere innere Kämpfe zu bestehn. Die Blicke der meisten unter ihnen reichten nicht weit über den Scheol oder das Todtenreich hinaus, unter dem sie sich zwar keine Stätte der Vernichtung, ebensowenig aber einen Ort beglückten Anwohnens beim Throne Gottes dachten.
Wohl schwebte ihnen, wie wir wissen, in weitentlegener grauer Vergangenheit einem lichten, verheißungsreichen Meteore gleich das Bild des zu Gott entrückten Henoch vor. Aber diesem Bevorzugten ward ja ausnahmsweise nur, und zwar darum dieses liebliche Loos beschieden, weil er, wie es ausdrücklich von ihm heißt, „ein göttlich Leben führte;“ und wer hätte gewagt, eines Gleichen sich zu rühmen? Das Gesetz stempelte Alle zu Sündern, und das versöhnende Opfer der Zukunft sah sie nur erst als ein tiefes noch ungelöstes Räthsel aus dem Schatten- und Bildwerk der heiligen Hütte an. Häufig finden wir an den Alten bestätigt, was der Hebräerbrief, Cap. 2, 15 bezeuget, daß sie nemlich, ehe das Werk der Erlösung vollbracht war, „ durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mußten.“ So hören wir den Sänger des 88. Psalmes, den in vielseitiger Bedrängniß an der Pforte des Todes stehenden Korachiten, in seinem von Anfang bis zu Ende die düsterste Schwermut!) athmenden Liede sagen: „Ich bin geachtet gleich denen, die zur Grube fahren; ich bin ein Mann, dem keine Kraft blieb. Ich liege unter den Todten verlassen wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, deren Du nicht mehr gedenkest, und die von deiner Hand abgeschnitten sind. Du hast mich gelegt in die Grube der Tiefe, (d. i. wie in das Todtenreich.) In dunkle Oerter, in Abgründe legtest du mich. Wirst du denn an den Todten Wunder thun, oder werden Schatten aufstehn und dich preisen? Erzählt man im Grabe von deiner Huld, und von deiner Treue im Verderben? Werden im Dunkel deine Wunder erkannt, und deine Gerechtigkeit im Lande des Vergehens? - Du entferntest von mir den Freund und den Nächsten; an die Stelle meiner Bekannten trat der (dem Scheol ähnliche) dunkle Ort.“ - Hier scheint in der That jede Hoffnung erloschen: doch nur die Hoffnung auf ein seliges Fortleben nach dem Tode, nicht auf eine Fortdauer überhaupt. In dem folgenden Psalme, der den eben erwähnten ergänzt, erhebt sich derselbe Sänger wieder zur Lobpreisung Gottes, dessen „Arm gewaltig sei, dessen Thron auf Gerechtigkeit und Recht gegründet stehe, und vor dessen Angesicht Gnade und Treue hergehn,“ und hier dämmern wieder etwas lichtere Aussichten vor seiner Seele auf. - Der unbekannte Sänger des 115. Psalms macht als einen Beweggrund für den Herrn, ihm das Leben noch zu fristen, den Umstand geltend, daß „die Todten, die in das Schweigen Hinunterfahrenden ihn nicht preisen würden.“ Er denkt sich also das Todtenreich lautlos, und die Abgeschiedenen in einem Zustande des Schlummers oder Schlafwachens; darum aber nicht des Lebens beraubt oder gar der Vernichtung anheimgefallen.
Selbst im Munde Davids begegnet uns einmal eine Aeußerung, die mindestens an jene trüben Vorstellungen vom Zustand der Abgeschiedenen, der gerechten sowohl wie der gottlosen, anstreift. Psalm 6, 6 hören wir ihn sagen: „Im Tode gedenket man deiner nicht, o Herr, und wer wird im Scheol dich preisen?“ Aehnliches vernehmen wir aus seinem Munde im 10. Verse des 30. Psalms. An beiden Orten beabsichtigt er jedoch nur, den möglich stärksten Ausdruck seinem Wunsche zu geben, daß der Herr ihm vergönnen wolle, noch länger auf Erden ihn verherrlichen, und den Menschenkindern seinen Namen verkündigen zu können. An andern Stellen sehen wir ihn auch wieder zu ungleich tröstlicheren und heitereren Anschauungen vom Zustande nach dem Tode sich erheben. So Psalm 17, 16: „Ich werde schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit und mich sättigen, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“ So Psalm 48, 15: „Dieser Gott ist unser Gott immer und ewiglich; er führet uns auch über den Tod.“ So Psalm 52, 10 u. 11: „Ich bin wie ein grüner Oelbaum im Hause Gottes; auf Gottes Huld vertraue ich immer und ewiglich. In Ewigkeit will ich dich preisen, und auf deinen Namen, weil er gut ist, will ich harren vor deinen Frommen.“ - Wie hätte doch auch ein Mann, dem durch den heiligen Geist über Größe, Umfang und Tragweite des göttlichen Erlösungsplans ein so helles Licht aufgegangen war, wie unserm David, nicht fortschreitend zu einer über die dunkeln Vorstellungen der mehrsten seiner Zeitgenossen vom Todtenreich sich hoch emporflügelnden Anschauung hindurchdringen sollen? Im 16. Psalme feiert er in der That schon einen Triumph über den Tod, indem er spricht: „Es freut sich mein Herz, und es jubelt meine Seele: denn auch mein Fleisch wird sicher wohnen, sintemal du meine Seele nicht in der Hölle lassen, noch deinen Frommen hingeben wirst, daß er (bleibend) die Grube schaue. Kundthun wirst du mir den Weg des Lebens: Freude die Fülle wird mir vor deinem Angesichte, und liebliches Wesen zu deiner Rechten werden ewiglich.“ Allerdings ist dieses Wort ein messianisches; aber David spricht's als Vorbild des Messias. Die Gläubigen des alten Bundes hatten hinsichtlich der „letzten Dinge“ schon die Wahrheit, nur nach Gottes weiser Führung noch nicht die ganze. Sie bekannten, wie die Schrift bezeugt, daß sie „Gäste und Fremdlinge seien auf Erden.“ Sie sahen die Verheißung zwar noch nicht erfüllt; doch „vertrösteten“ sie sich derselben in Hoffnung. Der Glaubensblick einiger Auserwählten unter ihnen reichte jedoch, wie wir wissen auch schon weiter, als der der großen Menge. Was Hebr. 11, 10 von dem Vater Abraham geschrieben steht, ist uns bekannt. Unser David begegnet uns namentlich im 103. Psalm auf einem Standpunkte, der dem neutestamentlichen sehr nahe kommt. Hier schwebt er bereits auf Glaubensflügeln „über den Höhen der Erde,“ und sieht die Schauer des Grabes und der Verwesung tief unter sich. Freilich trat, was der Gottesfürchtigen jenseits des Grabes warte, in bestimmter Lehrform erst nach David, und zunächst durch die Propheten hervor. Wir hörten früher schon einen Jesaias (Cap. 25,8) von seiner Seherwarte ins Volk hinein posaunen: „Der Herr wird, (nemlich zur Zeit des Messias) den Tod vernichten ewiglich und abwischen die Thränen von allen Angesichtern.“ Wir vernehmen, wie er Cap. 26, 17 triumphirt: „Deine Todten werden leben, meine Leichen werden auferstehn. Wachet auf, und frohlocket ihr Bewohner des Staubes: denn dein Thau ist ein Thau des Heils und die Erde wird die Abgeschiedenen gebähren!“ Nicht minder wissen wir, wie Ezechiel Cap. 37 das glorreiche Wiederaufkommen des israelitischen Volkes unter Bildern schildert, welche unverkennbar von der Todtenauferweckung, die als eine unzweifelhafte Thatsache der Zukunft vorausgesetzt wird, entnommen sind, und hörten den Propheten Daniel zu Anfang des zwölften Capitels seiner Weissagungen sagen: „Viele, so im Staube der Erde schlafen liegen, werden aufwachen: Etliche zum ewigen Leben, Etliche zu ewiger Schmach und Schande. Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit gewiesen haben, wie die Sterne immer und ewiglich.“
In solchem Umfange waren dem David die Schleier von der Zukunft der Entschlafenen allerdings noch nicht gehoben; doch waren sie es weit genug, um ihn ohne Grauen sein Haupt zur letzten Ruhe niederlegen zu lassen. Seine Abschiedsworte haben wir bereits vernommen. Hoffnungsworte waren es, Worte freudigster Erwartung. Sein letzter Erdengedanke war der „ewige Bund,“ den „Gott der Herr ihm gesetzt hatte.“ Der letzte Blick seiner scheidenden Seele haftete an dem „Stern aus Jakob,“ der nach Jehovas untrüglicher Zusage der Welt erscheinen werde. So ging er „voll Leben“, d. i. lebenssatt, aber auch unverdunkelten Bewußtseins mit Frieden heim: ein armer Sünder, jedoch sicher gebettet im Schooße der freien Gnade seines Gottes. Seinen Leib bestattete man in der Stadt Davids auf der Zionshöhe, ohnfern der geweihten Stelle, an der künftig der Tempel sich erheben sollte, und sich erhoben hat. Die Grabschrift setzte ihm der Griffel der heiligen Geschichte in den Worten 1. Könige 15, 5: „David hat gethan, was dem Herrn wohlgefiel, und war nicht gewichen von Allem, das der Herr ihm geboten hatte sein Lebenlang, ohne in dem Handel mit Uria, dem Hethiter.“ Die späteren Könige wurden sämmtlich an ihm als dem Musterkönige gemessen. Tausend Jahre nach seinem Tode wallfahrtete man noch zu seiner Ruhestätte, und Petrus durfte in seiner Pfingstpredigt sagen: „Sein Grab ist bei uns bis auf diesen Tag.“ Man zeigt heute noch den ehrfurchtsvoll nahenden Pilgern südlich von der Stadtmauer am Hügel Zion als das Grab Davids ein Gewölbe, über welchem gegenwärtig eine christliche Kirche emporragt.
Wie „voll Leben“ so starb David laut der Bemerkung der Geschichte auch „voll Reichthum und Ehre.“ Sein Vermächtniß war groß und herrlich. Was er zunächst seinem Volke hinterließ, waren neben einem allseitig trefflich geregelten Staatshaushalte, einer Achtung gebietenden Machtstellung des Reichs, einem ruhmgekrönten und kampfgeübten Heere und einem allgemeinen Wohlstand der Bewohner in Stadt und Land, der nach den Satzungen Gottes wieder hergestellte öffentliche Gottesdienst, eine reiche Zahl tüchtiger Beamten frommer und eifriger Diener am Heiligthume, dazu für das allgemeine Landeswohl ein ansehnlicher Staatsschatz, und außer dem göttlich genehmigten Grundriß zum Tempelbau, das reichste und kostbarste Material zur Ausführung dieses Plans.
2.
Größeres aber noch, als dieses Alles, vererbte er der ganzen Welt, und zwar in seinem persönlichen Bilde zunächst, dann in seinen Heilserfahrungen, und vor Allem in seinen Psalmen. Trotz seiner Fehltritte, der jederzeit gründlich bereuten, und darum aus dem Buche Gottes getilgten, bleibt er allen Regenten und Machthabern der Erde das mustergültigste Vorbild. In voller innerer Wahrheit wußte und fühlte er sich als „König von Gottes Gnaden,“ der Krone und Scepter lediglich von dem Könige aller Könige zu Lehen trage, und bis zu seinem letzten Athemzuge trachtete er mit vollem ganzem Ernste darnach, als ein echter theokratischer Fürst, der in Allem einzig nach den Satzungen und Weisungen Gottes sein Regiment auf Erden führe, erfunden zu werden. Darum ließ ihm der Herr auch Alles, was er vor die Hand nahm, wohlgelingen, und nichts leuchtete dem Volke heller ein, als daß Gott der Herr wahrhaftig mit dem Könige sei.
Davids Lebensgang bleibt das strahlendste Denkmal der freien Gottesgnade. Wer würde die Seelen zählen können, die seit fast drei Jahrtausenden an demselben in ihren Anfechtungen und Herzensängsten sich aufgerichtet, gestärkt und erhoben haben? Wer einen Gott sucht, bei welchem „viel Vergebung ist,“ der Gebete erhört, die Haare auf den Häuptern der Seinen zählte, ein unverrücktes Aufsehn auf sie hat, und als Hüter, der nicht schläft noch schlummert, auf Schritt und Tritt ihnen zur Seite geht, der begegnet diesem Gott in den Erfahrungen und Erlebnissen des Königes von Israel. Kein Trostspruch ist in der Schrift enthalten, der in Davids Führung nicht seine tatsächliche Bestätigung fände. Die goldne Kette göttlicher Herablassungen und Gnadenerweisungen, von der sie durchzogen sind, stempelt sie schon zu einem vorlaufenden Evangelium in Schriftzügen des wirklichen Lebens. O, wie hat an David sich bewahrheitet das Wort des 84. Psalms: „Die durch das Thränenthal gehen, machen es quellenreich!“
Das kostbarste Erbtheil aber, für das die Welt den König Israels zu segnen hat, sind seine Psalmen, diese unsterblichen Lieder, welche nach des Sängers eigenem Zeugniß (2. Sam. 23, 1 und 2) unter Anregung und durch Eingebung des Heiligen Geistes seinem Herzen entströmten, und darum einen Bestandtheil des „festen prophetischen Gotteswortes“ bilden. Wer weiß nicht, daß nachmals der Herr Christus selbst u. A. Lucas 24, 44 und Match. 23, 43 die Psalmen als dem heiligen und untrüglichen Bibel-Canon beigehörig anerkannt und feierlich beglaubigt hat, und daß ihrer als solcher im neuen Testamente überhaupt zu siebzig Malen Erwähnung geschieht. In den Psalmen spiegelt sich die ganze Lebensführung des Sängers wieder, und ebenso dem Wesen nach diejenige aller Gotteskinder, deren Weg, wie der Davidische, durch Leiden zur Herrlichkeit und durch's Kreuz zur Krone hindurchgeht. Es erschließt sich uns in den heiligen Gesängen das innerste Heiligthum der Gemüthswelt eines Menschen Gottes mit der ganzen Stufenleiter wechselnder Zustände und Stimmungen eines solchen: mit seinen Klagen wie mit seinen Jubeln, mit seinen Schmerzen wie mit seinen Seligkeiten, mit seiner aus Gott geborenen Liebe, wie mit seinem nicht minder geheiligten Haß, mit seinen die Wolken durchdringenden Seufzern und seinen inbrunstvollen Dankergüssen. Es tönt uns in den Psalmen nicht blos die Herzenssprache Davids, sondern zugleich diejenige der gottgeweihten Gemeine aller Jahrhunderte an. Vollkommen wahr ist und leicht erklärlich, was ein Schriftausleger sagt, indem er behauptet, es gebe kein alttestamentliches Buch, welches sich so ganz und gar aus dem Herzen und Munde des gläubigen Israels in das Herz und den Mund der Kirche übergeerbt habe, wie das alttestamentliche Gesangbuch ohne Gleichen, der Psalter. Allerdings wird dieser an Fülle des Gehalts von unsern christlichen Kirchenliedern insofern überragt, als der Geist, der in jenem erst an die ihn noch umschließende Hülle pocht, in letzteren bereits die Schale durchbrochen hat, und entbunden und froh die von Heil und Segen triefenden Schwingen regt. Die Erlösung, im Psalter nur erst in Aussicht gestellt und heiß ersehnt, ward jetzt ja längst zum Ziele geführt, und wir besingen das durch das Opfer am Kreuze vollbrachte Heilswerk des erschienenen Davidsohnes, und jauchzen der Auferstehung des Friedensfürsten und seiner Erhöhung zur Rechten des Vaters. Und doch klingen uns auch aus den gesalbtesten unsrer Christusgesänge immer wieder Psalmakkorde entgegen, zum Zeugniß, daß auch unsere evangelischen Stimmungen und Empfindungen, welche, nur neutestamentlich verklärt, dieselben sind, die in dem Psalter sich ergossen, in diesem ihre entsprechendste Ausdrucksform, ihren angemessensten Leib bereitet finden. Ja, zur Kundgebung dessen, was vor Gott unser Herz bewegt, erscheinen uns die Psalmen unentbehrlich. Mehr oder minder mit denselben getränkt, werden wir, so oft wir Klagen und Bitten, Danksagungen oder Lobpreisungen dem Allmächtigen in den Schoos zu schütten haben, immer wieder, oft unbewußt, die Sprache jener alten Lieder reden. Diese Sprache ist zur Reichssprache der Heiligen des Herrn geworden. Selbst die weltliche Dichtung pflegt, wo sie sich zum Erhabenen aufschwingen will, mehrentheils den kühnen Flug nur mit Psalmworten zu versuchen, und erkennt dadurch thatsächlich an, daß der Geist, aus dem die Psalmen geboren wurden, ein wesentlich anderer und ungleich höherer sei, als, selbst auf der höchsten Stufe seiner Schöpferkraft, der natürliche Menschengeist.
Und wie wohl thut's, und wie erhebt's die Seele, wenn wir vor Jahrtausenden schon im Glauben und Bekenntniß wie in den Empfindungen und Erfahrungen der Heiligen des Herrn uns selber wiederfinden, und in ihren Psalmen nicht allein demselben Gott begegnen, dem auch wir unsere Kniee beugen, sondern die damaligen Frommen auch schon der nemlichen Gnade sich getrösten sehn, auf welche wir unsere ganze Hoffnung setzen! Wie lieblich ergeht sich's an der Hand jener Alten in dem ersten verheißungsreich aufdämmernden Morgenroth, in welchem der herrliche Sonnenaufgang sich ankündete, der nun schon so lange als eine vollendete Thatsache die Kinder des neuen Testamentes beseligt! Mit wallendem Herzen vernehmen wir im zweiten Psalme den Zuruf: „Küsset den Sohn, daß er nicht zürne; Heil aber Allen, die auf ihn trauen!“ Im 110. Psalm begrüßen wir mit Hosianna Ihn, der Davids Sohn und zugleich Davids Herr ist, und an welchen aus des ewigen Vaters Munde das Wort ergeht: „Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege; denn du bist ein Priester ewiglich nach der Ordnung Melchisedeks!“ Mit einer ganzen Reihe davidischer Psalmen, u. A. dem 6., dem 16., dem 22. und 69. beten wir die unendliche ewige Liebe an, die sich bis in den Tod, ja den Tod am Kreuzesstamme für uns erniedrigte. Im 118., wo „in den Hütten der Gerechten“ das Triumphgeschrei erschallt: „Die Rechte des Herrn ist erhöht, die Rechte des Herrn behält den Sieg,“ meinen wir schon in Josephs Garten zu stehn, und stimmen ein in den Jubel: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist dies geschehn, und ist ein Wunder vor unsern Augen.“
Wer kennt nicht die köstliche, selber im Psalmenschwunge sich ergehende Lobrede Luthers auf den Psalter? „Wohl dürfte,“ sagt er, „der Psalter eine kleine Bibel heißen, darin Alles, was in der ganzen Bibel steht, auf's schönste und kürzeste gefaßt ist. In den Lob- und Dankpsalmen siehst du allen Heiligen in's Herz gleichwie in schöne lustige Garten, ja in den Himmel selbst, wie so feine, herzliche, lustige Blumen darin aufgehn von allerlei schönen, fröhlichen Gedanken gegen Gott und seine Wohlthat. Wiederum, wo findest du tiefere, kläglichere Worte der Traurigkeit, denn die Klagpsalmen haben. Da siehst du abermal allen Heiligen in's Herz; aber wie in den Tod, ja, wie in die Hölle. Wie ist's so finster und dunkel da von allerlei betrübtem Anblick des Zornes Gottes! Also auch, wo sie von Furcht und Hoffnung reden, brauchen sie solcher Worte, daß dir kein Maler also könnte die Furcht oder Hoffnung malen, und kein Cicero oder Redekundiger sie also abbilden. Und das Beste ist, daß sie solche Worte gegen Gott und mit Gott reden, welches macht, daß zwiespältiger Ernst in den Worten ist. Daher kommt's auch, daß der Psalter aller Heiligen Büchlein ist, und ein jeglicher, in welcherlei Sache er steht, Worte darinnen findet, die sich auf seine Sachen reimen, und ihm so eben sind, als wären sie allein um seinetwillen so gesetzet, daß er sie auch selbst nicht besser setzen noch finden kann, noch wünschen mag. Welches denn auch dazu gut ist, daß, wenn einem solche Worte gefallen, er gewiß wird, er sei in der Gemeinschaft der Heiligen, weil diese alle ein Liedlein mit ihm singen, sonderlich, so er kann auch dieselben Worte zu Gott reden, wie sie gethan haben, welches im Glauben geschehn muß; denn einem Gottlosen schmecken sie nicht. Summa, willst du die heilige christliche Kirche gemalt sehn mit lebendiger Farbe und Gestalt in einem kleinen Bilde gefaßt, so nimm den Psalter vor dich, so hast du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja, du wirst auch dich selbst darinnen finden, dazu Gott selbst, und alle Kreaturen.“ Mit Bestimmtheit können dem David von unsern 150 Psalmen nur 80 zugeschrieben werden. Nichtsdestoweniger trägt die ganze Sammlung mit Recht die Aufschrift: „die Psalmen David's.“ Denn mit Ausnahme des 90., des Psalmes Mosis, sind alle übrigen ihm nachgesungen, und in seinem Geist und seiner Tonart den Herzen der durch ihn angeregten Sänger entquollen. Nächst Gott gebührt ihm unser Dank für die unaussprechliche Gabe.
So scheiden wir denn von dem Könige Israels, dem Manne, der uns in der aufrichtigen, rückhaltlosen und unbedingten Hingabe seines Selbst an den Gott aller Gnaden den Weg zum Himmel zeigte. Und siehe, aus weit entlegener Vergangenheit schlägt ein prophetischer Posaunenchor an unser Ohr, und Stimmen vom Geiste Gottes getragen vereinigen sich zu einer wunderbaren Verherrlichung des Sohnes Isai. Es ruft Jesaias, der Evangelist des Alten Testaments: „Auf dem Stuhle David's und in seinem Königreiche wird seiner, des Davidssohnes, Herrschaft Mehrung und des Friedens kein Ende sein.“ Der Herr selbst spricht durch seines Propheten Mund: „Einen ewigen Bund will ich mit euch machen, nemlich die gewissen Gnaden Davids.“ „Ja,“ fällt der Seher Amos ein: „Der Herr hat verheißen: Zur selbigen Zeit will ich die zerfallene Hütte Davids wieder aufrichten, ihre Lücken verzäunen, und sie bauen, wie sie vor Zeiten gewesen ist.“ Hesekiel ergänzt dieses Wort, indem er hinzufügt: „Ich will meiner Heerde helfen, spricht der Herr, und will ihnen einen einigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nemlich meinen Knecht David, und ich der Herr will ihr Gott sein; aber mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein.“ Gehobenen Herzens lauschen wir diesen und ähnlichen verheißungsvollen Klängen, und indem wir fragen, wer es sei, dem sie gelten, steht Einer vor uns „wie eines Menschen Sohn,“ dem aber die Engel Gottes ihre Kniee beugen, und spricht: „Ich bin die Wurzel des Geschlechtes Davids, ein heller Morgenstern. Das sagt der Heilige und der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, und der da aufthut und Niemand schließet zu, und der zuschließt und Niemand thuet auf!“ - Wir haben Ihn erkannt, wir sinken anbetend vor Ihm in den Staub, und frohlocken ihm zu: „Hosianna dem Sohne Davids! Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“