Friedrich Wilhelm Krummacher - Blicke ins Reich der Gnade - III. Das Mutterherz Gottes.
Jesaia 49, 14-16.
Zion aber spricht: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselbigen vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.
O welch ein Wort, welche unvergleichliche Zusage! Siehe, ein Obstbaum am Quell, von dem schon viel tausend Pilger sich goldene Frucht geschüttelt von alters her, und er grünt und blüht und trägt auch heute noch, und seine Blätter welken nicht. Schüttle ihn nur, betrübte Seele, hier regnet's Manna. Lasst uns diesen göttlichen Ausspruch näher betrachten und zwar:
1. Zions Bau,
2. Zions Klage,
3. Gottes Zuspruch.
1.
Zion, so heißt in unserm Texte die wahre Kirche, die Taube Gottes, aus Wasser und Geist geboren. Anderwärts wird sie Jerusalem genannt, und sehr häufig, wie ihr wisst, einer Wohnung, einer Hütte, kurz, einem Gebäude verglichen, wie auch Petrus sagt: „Und auch ihr, als die lebendigen Steine, baut euch zum geistlichen Hause.“ Ein reiches und umfassendes Bild der wahren Gemeine.
Fragen wir zuvörderst nach dem Baumeister, so findet sich's, es ist nur einer. Der Zimmermann der Welten ist auch der Gründer seiner wahren Kirche, welche die Stadt seines Stifts heißt. Der Plan dazu ist älter als die Welt. Ehe noch etwas war, stand er schon auf dem Pergamente des göttlichen Ratschlusses vollständig verzeichnet. Die Höhe, Weite und Breite des Gebäudes war genau vermessen, die Zeit, binnen welcher es zur Vollendung kommen sollte, genau berechnet, Ziegel und Steine gezählt und die Orte bestimmt, wo sie würden gebrochen werden. Vor sechstausend Jahren hat der liebe Gott mit dem Bau den Anfang gemacht, und er ist noch am Bauen bis diesen Tag, genau nach dem ewigen Plane und Grundrisse. Und der Herr baut allein, durchaus allein; kein Fremdling darf mit Hand anlegen. Wenn unser einer mit arbeiten will, wird nichts draus. Will er uns brauchen zum Bau, so zerbricht er uns erst Arme und Beine, dass wir nichts mehr können, und verrenkt uns das Gelenk der Hüfte, wie weiland dem Jakob. So nur kann er uns brauchen. Er allein will bauen, der Tempel soll sich bauen lassen. Er eifert um die Ehre seines Namens.
Wir fragen nach dem Fundamente der wahren Kirche, und siehe! da kommt uns Paulus mit der Antwort schon entgegen: „Einen andern Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, Christus.“ Der Gottmensch ist das Fundament. Aber die Stadt ist gebaut in der Form, die Jakob mit den Händen machte, da er Ephraim und Manasse segnete. Es ist eine Kreuzkirche, der gekreuzigte Christus ist die Grundlage. Wo man einen andern Christum hat, als den, von dem Johannes ruft: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt,“ wo der Blutbürge fehlt und sein genugtuendes Opfer und das Blut, das da rein wäscht von allen Sünden, da mag eine Kirche sein, aber kein „Haus des Herrn“. Die wahre Kirche steht auf Christo, aber nicht auf dem, welchem auch ein Pilatus Gerechtigkeit widerfahren ließ: „Ich finde keine Schuld an ihm;“ nicht auf dem, mit welchem sich auch eine ungläubige Philosophie und Ästhetik zu vertragen weiß, sondern auf dem Christo ruht sie, der den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit ist und bleiben wird.
Wir betrachten den Bau selber; er besteht aus Steinen, ja aus lebendigen Steinen. Freilich, Steine sind wir alle von Natur, harte, kalte Steine, dem wahrhaftigen Leben abgestorben, und von dem Gewichte unsrer Schwere am Boden gehalten. Wie mancher sitzt schon jahrelang in diesen Bänken; es ist ihm gepfiffen worden, und er wollte nicht tanzen; ist ihm geklagt, und er wollte nicht weinen; es hat auf ihn geregnet und geschienen, geschneit und gehagelt, geblitzt und gedonnert, und er ist was er war, hart, unverändert: ist das nicht Felsenart und Steineswesen? Gottlob, dass einer da ist, der es vermag, dem Vater Abraham aus Steinen Kinder zu erwecken. Gerade dieses spröde, widerspenstige Material hat er sich zum Bau seines geistlichen Tempels ausersehen, dass die Größe seiner Kunst offenbar werde. Nicht die Engel und himmlischen Scharen, nicht die Teufel und gefallenen Morgensterne; die in Tod und Elend verkommenen Adamskinder, die bilden den Steinbruch, aus welchem er die Mauern Zions aufführt. Wie alles, so hat er auch das Geschäft des Ausbrechens selbst übernommen. Seine Gesellen, Die Prediger und Evangelisten, bringen kein Steinlein los. Er spreche denn das Wort durch ihren Mund und führe den Hammer in ihrer Hand: „Mein Wort,“ spricht er, „ist wie ein Feuer und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt.“ Die Arbeit des großen Baumeisters in diesem Steinbruche ist nicht einförmig, sondern sehr mannigfaltig. Etliche Steine werden abgelöst, allmählich, in sanfterer Weise, durch lange Vorbereitung. So Maria, Lazarus, Martha. Andere werden losgehämmert; da geht es schneller, aber auch empfindlicher und unter heftigen Wehen. So Petrus, Nikodemus u. a. Noch andere werden gar gesprengt, wie mit Pulver und Feuer, wie Paulus auf dem Wege nach Damaskus und der Kerkermeister, da tut es einen Knall und der Stein ist plötzlich los. Wann aber kann man sagen, der Stein sei los? In dem Augenblicke, meine Brüder, da der Mensch ein armer Sünder wird, und es mit ihm zum moralischen Untergange kommt in der Buße. Dann ist er los, und steckt nicht mehr im Bruche; denn Gott hat ihn losgebrochen, und er ist ein ganz anderer jetzt, als die Steine, die noch sitzen, und ist ein lebendiger Stein geworden, zur Besinnung erwacht und schreiend zu Gott. Diesen Stein behält nun der Baumeister in seiner Werkstatt und Arbeit, haut ihn zurecht mit dem Hammer seines Worts, poliert ihn auf dem Schleifsteine der Trübsal und mauert ihn also in die Wände seines Tempels ein, auf den Grund Christus mit dem festen Kalk und Kitt des wahren Glaubens, den er wirket. „Es werden in seinem Lande heilige Steine aufgerichtet werden,“ sagt Zacharias, und der Herr spricht beim Hesekiel: „Ich habe dich, Tyrus, auf den heiligen Berg Gottes gesetzt, dass du prangst unter den feurigen Steinen.“
Fassen wir nun den Bau etwas genauer ins Auge, so bemerken wir unter den lebendigen Steinen eine erstaunenswürdige Einheit und Gleichheit. Woher sie stammen mögen, aus Europa oder Asien aus den Weißen oder Schwarzen, aus den Wilden oder Kultivierten, sobald sie dem Tempel sind beigefügt, sehen sie sich alle gleich. Alle mit Blut besprengt, alle schwarz in den Augen der Welt und schwärzer in ihren eigenen; in Gottes Augen alle rein wie die Lilien und weißer denn der Schnee. Sie sind allzumal zerbrochene Seelen, gebeugte Leute, Fremdlinge in Mesech, Pilger Gottes, ohne bleibende Stadt, die zukünftige suchend. Sie haben alle Angst in dieser Welt, und alle sehnen sich bei ihnen selbst und warten auf die Kindschaft, das ist auf ihres Leibes Erlösung, und sind wohl selig, doch in der Hoffnung. Alle sind ein Leib, alle ein Geist, alle berufen auf einerlei Hoffnung des Berufes. Sie haben alle einen Herrn, den, der vom Holze herrscht, einen Vater, den im Blute des Lammes Versöhnten, einen Glauben, denn sie suchen alle ihr Leben außer sich in Christo, eine Taufe, die Taufe in den Tod des andern Adams. Das ist die Einheit der wahren Kirche. Vollkommene Einheit des Wesens, aber die größte Mannigfaltigkeit der Formen und der Gaben. „Man wird zu Zion sagen, dass allerlei Leute daselbst geboren werden,“ singt David. Alle geboren aus Gott, das ist die Einheit, sonst aber allerlei Leute. „Siehe,“ spricht der Herr bei Jesaias zu seiner Kirche, „ich will deine Steine wie einen Schmuck legen, und will deinen Grund mit Saphiren decken. Aus Kristallen will ich deine Fenster machen, deine Tore von Rubinen und deine Grenzen von erwählten Steinen.“ Sa, Edelsteine sind sie alle, aber der, könnte man sagen, ist ein grüner Smaragd: die Hoffnung ist sein hervorstechender Charakter; bei dem andern ist's die Liebe, und er ist ein roter Rubin; bei einem dritten ist es kindliche Einfältigkeit und Demut: er ist ein blauer Saphir; ein vierter ist ein heller Kristall, in Weisheit und Erkenntnis leuchtend usw. Der ist beschaulich und eingekehrt, jener apostolisch und wirksam nach außen; der ist ein Säugling in Christo, jener ein Jüngling in ihm, und der dritte ein Vater in dem Herrn. Der ist so zu Christo gekommen, jener wieder anders.
So wirkt der eine Geist, nachdem es ihm gefället,
Den unterschiednen Glanz;
Wird dann ein jeder Stein an seinen Ort gestellet,
So ist der Tempel ganz.
O Pracht der Himmelsstadt, da solche Edelsteine
Von tausend Arten seind,
Das ist die wahre Kirch', der Heiligen Gemeine,
Die hier so arm erscheint. 1)
2.
Wir kennen Zion, die Wohnung des Herrn. „Und der Herr,“ sagt David, „hat die Tore Zions lieb.“ Aber wie treu und innig er sie liebt, das scheint Zion nicht zu wissen. Denn Zion klagt: „Der Herr hat mein vergessen, der Herr hat mich verlassen.“ D Zion, klage über dich, dass du glaubst, du würdest die Herrlichkeit Gottes sehen.
Freilich, es können Umstände eintreten, wo nichts gerechter scheint, als diese Klage. Da zur Zeit Noahs alle Welt unter die Waffen trat wider Gott und seinen Gesalbten, und das Volk des Herrn bis auf eine Familie zusammengeschmolzen war, da in den Tagen der Könige der Samen Abrahams von Jehovah abtrat, und die Kniee der Auserwählten an den Altären Molochs und Baals sich niederbeugten, da der König Babels dahertrat im eisernen Kriegsschuh über Salems Trümmer, und der große Feind Antiochus den Gräuel der Verwüstung setzte auf Gottes Altar, und die Bücher Gottes zerrissen und verbrannt wurden, da in späteren Tagen die papistische Finsternis sich über die Kirche lagerte, und dann, noch finsterer, denn diese, eine gottlose Aufklärerei ihr „Kreuzige“ zu schreien begann wider den Herrn Herrn: ach, wer mochte es da der Tochter Zion verargen, dass sie ihre Harfe an die Weiden hing, dass sie sich bedeckte mit Trauer, wie eine Witwe, und in das Klagelied ausbrach: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen!“
Und wie ist dir zu Mute zu dieser unserer Zeit, du Jungfrau Israel? Ja, die Zeit ist wieder angenehm. Da stehst du auf deinem Turme, du Wächterin, und schaust um dich her, wie es stehe um deinen Bau, und siehe! es steht köstlich. Von hier und von da und vielen Orten und Enden hörst du wieder Hosianna schreien; Hosianna dem, der da kommt im Namen des Herrn. Es ist wieder ein Zeugen und Rühmen erwacht in dem Lande, da es still und traurig war, ein Zeugen von dem, der deine Liebe ist. Das rotfarbene Kreuzpanier wird wieder aufgeworfen; es regnet wieder Funken aus der Höhe, das Volk beginnt zu weissagen, die Ältesten haben Träume und die Jünglinge sehen Gesichte. Da kannst du ja nicht anders, als die Harfe wieder von den Ästen nehmen und dem Herrn ein Lob- und dem Fürsten dieser Welt ein Trutzlied singen. Aber so man dich fragen wollte: „Hüterin, ist die Nacht schier hin?“ dann freilich würdest du auch jetzt nicht anders als mit Weinen antworten können: „Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fraget, so werdet ihr doch wiederkommen und wieder fragen.“ Du gedenkst daran, wie du im Grunde doch noch immer seist das Würmlein Jakob und wie eine einsame Hütte im Weinberge. Gedenkst, wie an tausend Orten die Straßen gen Zion noch wüste liegen, und die Priester seufzen und die Jungfrauen jämmerlich sehen. Du wirfst deine Augen auf die zahllose Schar von Mietlingen auf und unter der Kanzel, die allerwege noch das Volk in die Irre führen, und an Golgatha vorüber hinein in Fluch und Verderben; wirfst sie auf die Millionen verirrter Schafe, die vom großen Hirten nicht hören mögen, und sterben wollen, den ewigen Tod sterben, und man begreift es nicht, warum? Im Blicke auf diese Finsternis um dich her da möchte das Herz dir wieder brechen, und schon schwebt sie dir wieder auf der Zunge, die alte, bittere Klage: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen.“
Doch wenn auch Zion als Gesamtheit, wenn auch die wahre Gemeine als Gemeine es nicht wagte, in unserer Zeit noch mit jener Klage vor Gott zu treten, so weiß ich doch, in Zion, in den Herzen der einzelnen Zioniten, ist sie nicht verstummt. Ich horche mich um unter euch, ihr Kinder Gottes, und o! es ist ja des Seufzens genug an allen Enden. Bald heißt es hier, bald dort: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen.“ Da sitzt hier ein armer Büßer im Winkel und weint, schlägt an seine Brust und schreit: „Gott sei mir armen Sünder gnädig,“ und weiß die Arme und das Herz des Heilandes noch nicht zu finden, und denkt nicht anders als: „mich hat der Herr verlassen, der Herr hat mein vergessen.“ Dort liegt ein Kämpfer im harten Streite wider die Sünde und ihren Vater, und wie er sich herumschlage, er kann die Natter nicht bezwingen, es wachsen ihr neue Köpfe, da sinkt er hin, der arme Streiter, und schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum verlässt du mich also!“ Hier sitzt eine arme Seele in der Finsternis schwerer Anfechtungen, fürchterlicher Zweifel, banger Schreckensgedanken, dass ihr alle Gebeine erbeben. Sie verzweifelt an ihrem Gnadenstande, verzweifelt an Christo und seiner Liebe, und aus ihrem Herzen bricht mit Ungestüm die Klage: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen.“ Dort schmachtet ein anderer im Feuer äußerer Trübsal schon lange, lange Zeit, und der Herr verzieht. Und die Feindin freut sich und spricht: „Wo ist nun dein Gott?“ und ach, sein Gott will sich nicht zeigen. Die Füße des Herrn bleiben in tiefen Wassern, sein Haupt in Wolken verhüllt, dass auch die Freunde schon anheben zu sagen: „Wärst du fromm, so würde Gott nicht also über dich kommen,“ und der arme Dulder hebt an zu zagen und jammert: „der Herr hat mich verlassen.“ Und wie die Ursachen sonst noch heißen mögen; genug, die Klage: „der Herr hat mein vergessen!“ ist unter uns, nicht wahr? geliebte Reichsgenossen! in diesem oder jenem Herzen ist sie, in der oder der Kammer wird sie laut zu Zeiten und wird laut wohl auf manchem Lager unter uns, mit vielem Geschrei und Tränen des Nachts, wenn die Welt gar stille ist und die Leute schlafen.
Nun tretet denn zusammen, göttlich betrübte Seelen. Denn den Traurigen nach der Welt gilt unsere Predigt nicht. Tretet zusammen! Denkt nicht, ich werde nun anheben, euch zu strafen, um eures Unglaubens willen. Nein, das kommt mir nicht zu. Straft euch doch der Herr nicht. „So willst du uns denn trösten?“ Nein, liebe Seelen, ich nicht; was hilft das? Aber einen andern bringe ich mit, der will trösten, und der kann es. Siehe, der allmächtige Gott ist es selber. Er hat euern Kummer gesehen, und die Eingeweide seiner Barmherzigkeit brausen gegen euch, seine weinenden Kinder. Da steht er. Ach, seht die Holdseligkeit seines Angesichts, seht diesen Glanz der zärtlichsten Liebe, der ihn umleuchtet, seht diese offenen, ausgestreckten Vaterarme, und hört, hört dieses Schlagen des erbarmungsvollen Herzens. Er hat ein Wort zu euch zu reden. Ach, fürchtet nichts: es ist ein Wort, das mit einemmale die dunkle Nacht eurer Seele in hellen Morgen wandeln wird.
3.
„Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen: siehe! in die Hände hab' ich dich gezeichnet; deine Mauern, o Zion! sind immerdar vor mir.“ O, welch ein Zuruf, welch eine gnädige Tröstung. Lege dir diese Worte auseinander, liebe Seele, versenke dich ganz hinein, lass keine Silbe unerwogen, und sage, ob das nicht trösten heißt. Nicht wahr, es ist schon eine große, große Seligkeit, vor dem Allmächtigen mit schweigender Ehrfurcht niedersinken und zu ihm mit Grund und Wahrheit sagen dürfen: „Mein Gott, mein Gott?“ Noch seliger ist es, frei offen vor ihn hintreten, und ihn „Abba, Vater, lieber Vater“ nennen dürfen. Aber merke wohl! es ist, als ob der liebe Gott auch das bedacht hätte, dass uns einem lieben Vater gegenüber doch eine gewisse Ehrfurcht noch in etwa hindert, ganz zutraulich, ganz kindlich offen und hingebend zu sein, und dass wir einer Mutter gemeiniglich, wenn auch nicht mit mehr Liebe, doch mehr Zärtlichkeit zutrauen, und ungehemmter und freier mit ihr verkehren können. Und nun siehe! auf dieses menschliche Gefühl mit zarter Sorge Rücksicht nehmend, tritt er vor dich hin, liebe Seele! und stellet sich dir dar als deinen Gott, als deinen Vater? Ach nein, das nicht allein. Er will auch, o! kannst du's ohne Weinen hören? er will auch deine Mutter sein; ja deine Mutter.
Mit einer Mutter vergleicht sich der Herr an unserm Orte und dass er das tut, wie ist das groß, welch eine Liebe liegt darin, welch eine Zärtlichkeit und welch ein Trost für dich, betrübte Seele! Du sollst nun ja nicht mehr denken, du gehörst einem andern an, oder seiest von Gott nur so an Kindesstatt angenommen. Freilich, das wäre schon etwas Großes. Aber nun sagt dir Gott gar, er sei deine Mutter, die dich geboren habe. Geboren? Ja freilich! denn woher wäre denn die neue Kreatur in dir und wäre sie auch ein kleines Kindlein erst? Ist sie nicht aus Gott geboren, wie Johannes sagt? Siehe, so nahe bist du ihm verwandt, du Neugeborener! Gott deine Mutter! Gedanke voll Süßigkeit! Siehe, Mutterarme sind es, in denen du ruhst, ein Mutterherz, an dem du gebettet liegst und Mutteraugen, die dich bewachen. Eine Mutter führt dich: o welche Liebesführung wird das sein! Eine Mutter trägt dich: wie sorgsam mag die tragen! Dich pflegt, nährt, tränkt eine Mutter: wirst du nun noch fragen, was werde ich essen, was trinken? Eine Mutter wäscht und reinigt dich: ei, wie wird die ihr Kindlein so sauber machen und in so schöne Stücke kleiden! Eine Mutter züchtigt dich, also eine Mutter, die, wenn sie züchtigen muss, selber mehr Schmerz empfindet, als das gezüchtigte Kind. Eine Mutter tröstet dich, wie der Herr auch sagt: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet,“ und eine Mutter bringt dich auch einmal zur Ruhe: was willst du mehr, du glücklich Kind? Ei, lege dein Haupt an deiner Mutter Brust, und dann sei still und habe Frieden. „Gott meine Mutter?“ Ja, ja! mein Bruder, nimm es nur an aus seinem eigenen Munde, er ist's wahrhaftig. „Ach, dann habe ich genug; dann sage nur Amen; dann schließe nur die Predigt, es ist genug.“ Nein, liebe Seele, noch nicht Amen; du sollst noch ein Mehreres hören. Auch das will der Herr dir noch sagen, wie er dich liebe und wie seine Mutterliebe beschaffen sei.
„Kann auch ein Weib ihres Kindes vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?“ So fragt der Herr. Bemerkt die Steigerung in diesen Worten; schon mehrere alte Ausleger machen darauf aufmerksam und sagen: „Darin liegt die Kraft.“ Kann auch ein Weib vergessen, will der Herr zuerst sagen. Ein Weib, vorzugsweise von Gott mit reicher Fülle des Gefühls begabt, kann die auch wohl vergessen, d. h. aufhören, Liebe zu empfinden? Doch ja, vielleicht vergisst sie Vater und Mutter, und hängt ihrem Manne an; aber wird sie auch ihres Kindes vergessen können? Nun, es sei ein ungeratenes Kind: sie zürnet ihm, aber wird, sie es darum vergessen, ganz aus ihrer Liebe ausschließen, aus ihrem Herzen verbannen können? Nimmermehr, nicht wahr, ihr Mütter? Doch wir nehmen an, sie vergäße ihren erwachsenen Sohn, ihre entfernte Tochter, sollte sie denn auch wohl ihres Kindleins, des zarten, hilflosen Säuglings vergessen, und aus ihrer Liebe und Sorge ihn entfernen können? Nein, nein! wie sollte es möglich sein? Ein Tiger würde das können, aber keine zärtliche Mutter. Doch wir denken uns Unmögliches möglich, wir nehmen an, ja, ein Weib könne auch ihres Kindleins vergessen, wird es denn aber auch wohl mit einer Mutter dahin kommen können, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? dass sie ohne Mitleid ihren Säugling in Elend, Not, Jammer und Schmerz sich könnte krümmen und verschmachten sehen? Nein, nein! eines Weibes Auge, das nie geweint, würde da zur Tränenquelle werden; und wo wäre die Mutter, die da nicht von Herzen ausrufen würde: „Ach du mein armes, armes Kind, dass ich für dich leiden könnte!“ Wenn also der Herr fragt: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen,“ nicht wahr, so seid ihr Mütter mit der Antwort bald zur Hand, und ruft mit einer Stimme: „Nein, nein! das ist nicht möglich!“ Nun so wisst: „So spricht der Herr, will ich auch eurer, meiner Kinder, nicht vergessen.“ Also er liebt sie mit der Zärtlichkeit der zärtlichsten Mutter. Doch nein, hier ist noch mehr, als Mutterzärtlichkeit, hier ist Liebe über Mutterliebe; denn der Herr sagt ja nicht: „So will ich auch eurer nicht vergessen;“ er spricht: „Und ob sie desselben vergäße, und wenn das Unmögliche möglich würde, dass eine gute Mutter sich des Sohnes ihres Leibes nicht erbarmte, so will ich, der Unveränderliche, der ich von nichts abhängt, so will ich doch dein nicht vergessen!“ Das ist stark, hier öffnet sich ein Abgrund der Liebe, zu dessen Boden ein menschliches Auge nicht hinabdringt. Für solche Mutterzärtlichkeit haben wir keinen Begriff, keinen Maßstab, keinen Ausdruck. Tochter Zion! wagst du's noch klagen: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen?“ Ach, solche Klage ist Unrecht, ist Sünde, ist Lästerung; hinweg damit, und nieder in den Staub und bete an!
Und wie lautet nun der Schluss unseres göttlichen Zurufs? „Siehe,“ spricht der Herr, „in meine Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.“ O wie das tröstlich lautet sowohl für Zion im allgemeinen, als für die einzelne bekehrte Seele.
Wie ein Baumeister, der eine Stadt bauen will, zuvor den Grundriss entwirft, und die Stadt nach ihrem ganzen Umfange mit Häusern, Straßen, Plätze und Palästen im Plane verzeichnet, so hat auch der Herr seine geistliche Stadt verzeichnet, und das Pergament sind seine allmächtigen Hände. In seinem Plan und Abrisse steht sie fertig da in ihrer Pracht, wer will's ihm wehren, seinen Plan ins Werk zu stellen? Er wird bauen bis zur Vollendung und ihr aus Samaria und der Kananiter Grenzen mit dem Feldgeschrei: „Brecht ab, reißt ein,“ ihr werdet euer Fähnlein nicht auf den Mastbaum stecken. Zions Mauern sind immerdar vor ihm, er gedenkt seiner Gemeine Tag und Nacht, er hat nichts anders, was ihm Lust macht hier auf Erden; die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden.
Und wie sein Zion im Ganzen, so hat er jedwedes seiner Schäflein in seine Hände gezeichnet, und o, dass du da dein Bild nur einmal sehen könntest, liebe Seele, du würdest staunen, so herrlich stehst du in diesen Händen abgemalt. Nicht in der Gestalt, die du jetzt noch trägst, nicht in deinem Todesleibe und den Gebrechen und Sünden, die dir noch ankleben, siehe! wie du einst werden sollst, so hat der Herr dich in die Hände gezeichnet: er sieht dich schon im Glanze vollendeter Verklärung, während du hier unten in lauter Streit und Elend noch umhergehst, und wie du in seinen Händen abgezeichnet stehst, gerade so sollst du einst werden. Seine Hände wollen dafür sorgen. Und meinst du, es könne ein Augenblick kommen oder ein Ort sein in der Welt, da des Herrn Auge nicht über dir wäre? Wisse, du bist vor ihm immerdar. Size in einem Winkel und weine, oder schwemme dein Bette des Nachts in Tränen, liege mit Elias unter dem einsamen Wachholderstrauche, oder verkrieche dich in die hohen Wälder, wo sie am dichtesten sind, das Mutterherz Gottes ist bei dir, sein Mutterauge über dir, und seine Hand hat die deinige umfasst, solltest du es auch nicht fühlen. Sei es wo und unter welchen Umständen es wolle, so oft du klagst: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen,“ so redest du irre und vertust dich sehr, Gott weiß es. Ach, wenn dir einmal nur wie einst dem Knaben des Propheten deine Augen aufgetan würden, Geister zu sehen, Bruder, du würdest staunen.
Hinweg denn mit der unnötigen Sorge! Wer es darf, der getröste sich mit der Mutterliebe seines Gottes. Er vergisst nicht seines Kindes, auch nicht seiner Kindlein, auch seiner Säuglinge nicht. Ach nein, die jetzt geborenen Kindlein mögen ihm ja wohl am nächsten am Herzen liegen und die Schwächsten mag er am sorglichsten tragen. Aber sind wir auch seine Kinder? Ja, ja! ihr seid's, so ihr das anders von euch sagen könnt, dass ihr mit inniglichen Tränen seine Gnade sucht, dass ihr von Herzen nach den Früchten seines Kreuzes schmachtet, und mit zerbrochenem Geiste allen Ernstes Die Reinigung in Jesu Blut begehrt, dann ist der neue Mensch ans Licht geboren; dann seid ihr Gottes Kinder. Und so ihr eurer Kindschaft auch nicht so recht fröhlich werden könntet, und die Mutterliebe eures Gottes noch nicht schmecktet, erglaubt euch diese Mutterliebe; die Zeit des Schmeckens wird dann auch schon kommen. Ach, sie möchte uns gerne sanftere und fröhlichere Wege gehen lassen, als sie gemeiniglich tut, wenn es unser Heil nicht anders erheischte. Doch denket an die Geschichte von den zwei Weibern und an das Kind, um das sie stritten vor dem Richtstuhle Salomos. Siehe, sollte die Gefahr und Not so groß werden, dass du sie nicht mehr tragen könntest, dann wird sich's zeigen, wer deine Mutter ist.
Sehe sich aber ein jeglicher vor, dass er sich nicht der Mutterliebe Gottes getröste ohne Grund, und nicht auf Liebe hoffe, wo nichts zu hoffen ist. Nur Zion darf den Herrn seine Mutter nennen. Was in den Schoß dieser Mutter hineinbringt, es ist nicht Tugend oder Bildung, es ist nicht Fasten oder Singen, es sind nicht Taten noch Verdienste, es ist allein ein arm zerbrochen Herz, ein zerschlagener Geist und ein zum Kreuze seufzendes Gemüt. Das „Herr gedenke mein!“ des Schächers, das „Ach“ einer gebeugten Sünderseele zum Opferlamme, das allein zerreißt den Himmel, das allein dringt an des Vaters Herz; es ist der Schlüssel zum Heiligtume; und dieses „Ach“, das geb' euch Gott in Mund und Herzen! Amen.