Saatmann, Julius - Predigt zur Eröffnung des evangelischen Gottesdienstes

Saatmann, Julius - Predigt zur Eröffnung des evangelischen Gottesdienstes

Predigt,
gehalten zu Recklinghausen,
zur Eröffnung
des
evangelischen Gottesdienstes
daselbst
am 11. Sonntage nach Trinitatis 1845

von
Julius Saatmann,
Pastor in Herne

Unser Anfang und unsre Hülfe stehet im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Amen.

Zum ersten Male seid ihr, geliebte Brüder und Schwestern! als evangelische Christen an diesem Orte zum gemeinsamen Gottesdienste versammelt; zum ersten Male hier zum Gebete vereinigt, erhebet ihr eure Herzen und Hände zusammen zu Gott und dem Vater unsers Herrn Jesu Christi, dem Geber aller guten und vollkommenen Gaben; zum ersten Male erschallt nun auch unter euch die Predigt des Evangeliums, die gute fröhliche Botschaft von Christo und von dem Heile, das in Ihm die ewige Liebe und Erbarmung uns sündigen Menschen bereitet hat. - Und, nicht wahr? ihr könnt euch hier nicht also heute versammelt sehen, ohne euch innigst gerührt und mächtig gedrungen zu fühlen zum Danke gegen den Herrn, der nach langem Wünschen, Sehnen und Bitten nun endlich ein Haus euch geöffnet und eine Stätte bereitet hat, da ihr zusammen kommen und Ihm die Opfer eurer Anbetung darbringen, da ihr Sein heiliges Wort vernehmen und euch erbauen könnt auf dem gemeinsamen Grund eures Glaubens als Glieder der evangelischen Kirche. Nicht wahr? ihr könnt euch heute hier nicht also vereinigt sehen, ohne zugleich euch der hohen theuren Gemeinschaft recht lebendig bewußt zu werden, zu der ihr durch das Band Eines Glaubens und Eines Bekenntnisses verbunden seid. Ihr werdet von Herzen dazu Ja und Amen sagen, wenn ich über euch ausrufe: Gesegnet sei euch dieser Tag! gesegnet diese Stunde für und für! Der Herr gebe dem geringen Anfange einen guten Fortgang, und segne die Andachtsstunden, die fortan unter euch gehalten werden, namentlich dazu, daß Ihm unter euch ein geistiger Tempel erbauet, ja, daß ihr selber als lebendige Steine hinzugefügt werdet dem heiligen Baue seiner Kirche, die da ist die Gemeine der Heiligen! Ja, dann segne Er auch die Betrachtung, die wir in dieser Stunde nun anstellen wollen! Wir legen derselben denjenigen Abschnitt der heiligen Schrift zum Grunde, den die Kirche selbst uns für den heutigen Sonntag vorgezeichnet hat, und den wir lesen

Ev. Luc. 18, 9-14

In dem verlesenen Evangelium werden uns zwei Menschen vorgestellt, welche ihren Gottesdienst verrichten. Beide kommen darum in den Tempel, an den Ort, da Gottes Ehre wohnet und Er sein Volk zu segnen verheißen hat. Und doch - welch' ein Unterschied zwischen beiden! Der Eine kommt aus lauterm Herzensdrang und - geht von dannen reichgesegnet. Der Andere - wir fühlen's ihm an, - hat nur den äußern Schein der Frömmigkeit, und ob er auch gleich jenem den Tempel besticht, er kann doch Gott nicht gefallen und bleibt ohne Segen! -

Meine geliebten Freunde. Habt ihr als evangelische Christen auch noch keinen Tempel, kein prachtvolles Gebäude, darinnen ihr zur gemeinsamen Andacht euch versammelt: - o hier, an dieser Stätte, die durch Gottes Güte und durch die Freundlichkeit der Menschen euch geboten ist, werdet ihr euch, wie heule, so fortan zum öftern vereinigt sehen zur Anbetung Gottes und eures Heilandes Jesu Christi. Und wenn der Apostel sagt, daß der allmächtige Gott, Schöpfer Himmels und der Erde, nicht in Tempeln wohnet von Menschenhänden gemacht; wenn es nicht sowohl darauf ankommt, daß Ihm, dem Herrn, prachtvolle Gebäude geweihet werden, als vielmehr darauf, daß wir uns selbst Ihm weihen zur Wohnung und zum Tempel; und wenn der Heiland spricht: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen; so wisset ihr ja, daß ihr auch hier auf eine gottgefällige und für euch gesegnete Weise eure Gottesdienste feiern und Ihm würdig die Opfer eurer Anbetung darbringen könnt. Ja, auch hier will der Herr unter euch sein mit Seinem Wort und Geiste und euch segnen mit seinen Gnadengaben, auch hier seinen Altar aufrichten und die theuren Unterpfänder eurer Erlösung euch spenden, daß ihr erbauet, erquickt und gestärkt werdet an dem inwendigen Menschen, und immer mehr bereitet zu dem Eingange in das obere Heiligthum, wo der himmlische Sabbath gefeiert und dem Dreimalheiligen ewig Lob und Dank von reinen Lippen gesungen wird. Es kommt nur auf den innern Sinn an, womit ihr hier eure Gottesdienste feiert, und da kann und soll uns denn das Beispiel des Zöllners in dieser Stunde lehren:

Wie wir als Christen in der rechten gottgefälligen Weise unsre gottesdienstlichen Versammlungen besuchen sollen.

Heiliger Vater, heilige uns in Deiner Wahrheit; dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

I.

Unser Evangelium erzählt: Es gingen zween Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, zwei Menschen, die, wie verschieden sie auch an Rang und Stand und äußerer Bildung sein mochten, doch beide als Menschen in einem gleichen Verhältniß zu ihrem Gott und Schöpfer standen; beide sind geschaffen von Gott und zu ihm; beide bestimmt für ein ewiges Leben, und alle Welt mit ihren Gütern und Freuden ist nicht im Stande, den Bedürfnissen ihrer unsterblichen Seelen wahre Befriedigung zu gewähren. Diese Befriedigung können sie nur finden bei dem Ewigen und in seiner Gemeinschaft. - Sie kommen beide zum Tempel; hier, hat der Herr ja verheißen, will er sich den Menschen besonders offenbaren und sie segnen mit jenen göttlichen Gaben und Kräften, deren sie für ihren höhern ewigen Beruf bedürfen, wie er denn in seiner, das Heil der Menschen immer suchenden, Liebe es auch geboten hat, daß man darum seinen Tempel besuchen, hier die vorgeschriebenen Gottesdienste halten, sich ausschließlich mit Ihm, dem Ewigen und seinem Worte beschäftigen, unter frommen heiligen Betrachtungen zu ihm beten soll. Und ja, von beiden, sowohl von dem Pharisäer als auch von dem Zöllner, heißt es: Sie gingen hinauf in den Tempel zu beten. Aber betrachten wir sie näher, so springt uns doch sogleich ein großer Unterschied zwischen beiden in die Augen; wir müssen erkennen, daß, wenn auch beide als Menschen vermöge ihrer gleichen göttlichen Bestimmung dieselben Bedürfnisse haben, doch nur von dem Einen diese Bedürfnisse recht lebendig gefühlt werden, daß, wenn auch beide zum Tempel kommen, doch nur von dem Einen dieses Haus des Herrn in der rechten Absicht besucht wird, daß, wenn auch beide beten und ihren Gottesdienst verrichten, doch nur von dem Einen solches auf eine gottgefällige Weise geschieht. Der Andere, der Pharisäer - ach! er fühlt kein höheres Bedürfniß. Mag er auch mit frommer Miene und Gebehrde hinauf zum Tempel gehen: o sehet nur, wie er sich herandrängt im Tempel, höret nur sein Gebet, das er spricht, und ihr müsset euch überzeugen, verwerflich war die Absicht, in der er zum Hause Gottes kam. Er kam nicht im heiligen Verlangen nach der Gemeinschaft Gottes, nicht im Drange der Sehnsucht nach höhern himmlischen Gütern, nein, er kam in dem Wahne, durch seinen Tempelbesuch Gott einen Dienst zu leisten und sich selber dadurch ein Verdienst bei Gott zu erwerben. Dabei wollte er vor den Leuten fromm scheinen, wollte von ihnen gesehen und gerühmt werden. Er war einer von denen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären und verachteten die Andern, und er erinnert uns unwillkührlich an jenes Wort des Herrn: Wenn du betest, sollst du nicht sein, wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen werden. - Wie so ganz anders stellt sich uns der Zöllner dar! Wahrlich, ihn treibt ein inneres Verlangen in den Tempel, ein inneres Bedürfniß, das nur in der Gemeinschaft mit seinem Gott Befriedigung finden kann. Tritt uns solches nicht deutlich genug aus seinem Gebete entgegen? - O sehet, wie ist sein Gemüth so tief bewegt! wie ist sein Herz so ergriffen von Schaam und Unruhe im Gedanken an seine Sünde! wie sehnt er sich nach Trost und Frieden! wie fühlt er sich so bedürftig der göttlichen Kraft und Gnade! Das sucht er im Hause des Herrn; darum kommt er, zu beten, kommt im Verlangen nach der Gemeinschaft seines Gottes; vor ihm will er sein Herz ausschütten, ihn anrufen um die himmlischen Güter seiner Gnade. -

Möchtet ihr, geliebte Brüder und Schwestern, möchtet ihr immer in gleicher Absicht die Versammlungen besuchen, die fortan zum gemeinschaftlichen Gottesdienste sollen gehalten werden! Möchte es das Verlangen nach Gott, die Sehnsucht nach dem Erlöser, nach den ewigen Gütern seiner Gnade sein, die euch hieher treibt, so oft eine gottesdienstliche Feier veranstaltet wird! Und wie? - darf man nicht in guter Zuversicht annehmen, daß dieses bei euch der Fall sein wird? Habt ihr nicht das Bedürfniß, das Verlangen nach einer gemeinsamen Gottesverehrung, die Sehnsucht nach der Predigt des Evangeliums unter euch längst empfunden, und war dieß Bedürfniß, dieß Verlangen nicht um so mächtiger geworden, je schmerzlicher ihr die Entbehrung fühltet, und je lebendiger in euch zu dieser bewegten Zeit das Bewußtsein eurer Gemeinschaft an der evangelischen Kirche erwachen mußte? - O so werdet ihr ja wohl eure gottesdienstlichen Versammlungen in der rechten Absicht besuchen, nicht, wie jener Pharisäer, um von den Leuten gesehen und gerühmt zu werden - obgleich ihr euch auch eures Gottesdienstes nicht vor den Leuten schämen, es vielmehr als eine heilige Pflicht erkennen sollt, durch eure Theilnahme auch vor den Menschen euren Glauben und den Herrn selber zu bekennen, dem ihr angehört und der euch in der Gemeinschaft seiner Kirche so überschwengliche Segnungen bietet. - Aber nicht um der Menschen willen werdet ihr eure Gottesdienste halten, sondern um des Herrn selber und um des Heiles eurer eignen Seele willen. Ihn, den Herrn, euren Gott und Heiland werdet ihr suchen in den Gebeten und Gesängen, und in der Predigt seines heiligen Wortes, Ihn und bei ihm alles dasjenige, was die höhern Bedürfnisse eures unsterblichen Geistes befriedigen kann. Bedürfen wir nicht des Lichtes der göttlichen Wahrheit in der Finsterniß, womit die Sünde unsern Geist umnachtet hat? - Nun, hier sollt ihr sie lernen, die göttliche Weisheit, die der Eingeborne vom Vater uns verkündigt hat; durch das Licht des Evangeliums sollt ihr erleuchtet werden, damit ihr wachset in der Erkenntniß und zum Himmelreiche gelehret werdet. - Fühlt euer Herz nicht das Bedürfniß des Trostes und der Beruhigung unter den Nebeln und Stürmen des Lebens, fühlt ihr nicht ein Verlangen nach Gnade und innerm Frieden bei dem Bewußtsein eures sündlichen Verderbens und eurer mannichfachen Sünden und Vergehungen? Nun, hier könnt ihr getröstet werden und den Frieden Gottes erlangen; sie soll euch gepredigt werden, die überschwengliche Liebe Gottes, die frohe Botschaft von Christo, an welchem wir haben die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden. - Bedürfen wir nicht in unsrer sündlichen Ohnmacht und Schwäche der höhern Kraft und Unterstützung, der himmlischen Stärkung und Ermuthigung, um das Böse in uns und außer uns zu überwinden, um im Kampfe mit der Welt, mit der Sünde, mit den Versuchungen des Lebens siegreich zu bestehen und nicht zu unterliegen? Nun, hier sollt ihr gestärkt, in guten Vorsätzen und heiligen Gesinnungen befestigt, zu einem neuen göttlichen Leben sollt ihr erweckt und für den Himmel gebildet werden durch das Evangelium, das uns die Heiligkeit Gottes und die Gnade unsers Heilandes verkündigt, das uns den Beistand des heiligen Geistes und den Gnadenlohn des ewigen Lebens verheißet. Sehet, Geliebte, um diese eure höhern Bedürfnisse zu befriede gen, das sei jedesmal die Absicht, warum ihr eure gottesdienstlichen Versammlungen besucht. Suchet die beseligende Gemeinschaft Gottes und Jesu Christi, kommt im Durste nach Wahrheit, im Hunger nach Gnade und Gerechtigkeit, im Verlangen nach Kraft zur Erneuerung und Heiligung eures Herzens und Lebens, in der Sorge um das ewige Heil eurer Seele - und ihr kommt in der rechten Absicht; euer Besuch des Gottesdienstes wird dem Herrn gefällig sein.

II.

Wir reden nun aber ferner von der Stimmung, in der wir an dem Gottesdienste Theil nehmen müssen, wenn dieser rechter Art sein soll. - Daß diese Stimmung eine andächtige sein muß, daß man seine Gedanken nicht zerstreuen und mit andern fremdartigen Betrachtungen beschäftigen darf, daß vielmehr die ganze Seele auf Gott und das Ewige hingerichtet, die ganze Aufmerksamkeit und Theilnahme den frommen Gebeten und den heiligen Betrachtungen, die gemeinschaftlich angestellt werden, gewidmet sein muß, das, meine Geliebten, versteht sich von selbst. Diese Andacht aber muß eine demüthige und gläubige sein. - Blicket hin auf den Pharisäer und den Zöllner, wie sie dort im Tempel stehen, und erkennet wiederum den großen Unterschied zwischen beiden. Könnt ihr denn wahre Andacht wahrnehmen in der Haltung des Pharisäers? Er blickt ja unstät umher, und als er den Zöllner erblickt, da beschäftigt und zerstreut ihn der Gedanke an diesen Menschen, der ihm vielleicht als ein Sünder bekannt ist; mit Hochmuth und Verachtung schaut er auf ihn hin; - ach! er ahnet nichts von dem, was eben jetzt in der Seele dieses Sünders vorgeht. - Wie weit entfernt ist dieser Pharisäer von der Demuth, die uns stets, und namentlich im Hause Gottes erfüllen soll! Höret nur das Gebet, das er spricht: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin, wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch, wie dieser Zöllner; ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe.“ Wie erhebt sich dieser Mensch doch selbst! Wie thut er sich doch was darauf zu Gute, daß er sich von groben Lastern frei weiß, wie pocht er auf seine guten Werke und seinen ehrbaren Wandel, und meint damit ein verdientes Anrecht auf Lohn, auf die Seligkeit vor Andern zu haben! - Er sagt zwar: „ich danke dir, Gott,“ aber das ist ihm kein Ernst, das ist nur Mundgeplärr. Denn hätte er Gott in Wahrheit von Herzen dafür gedankt, daß er durch seine gnädige Bewahrung vor groben Vergehungen bewahrt geblieben, hätte er dann seine Mitmenschen, hätte er dann den armen Zöllner so verachten, so hoffärtig und lieblos verurtheilen können? Hätte er dann nicht vielmehr in wahrer Demuth mit seinen Brüdern ein tiefes Mitgefühl haben, sie mit aller Liebe entschuldigen oder für sie beten müssen? - Ach! sein Hochmuth hat ihn verblendet, daß er sich selbst nicht kennt in seinem innern Verderben und keinen Begriff hat von seinem Verhältniß zu dem heiligen Gott. Darum hören wir von ihm nur Selbstruhm, aber kein Wort von Selbstanklage, kein Seufzer über anklebende Sünden, keine Bitte um Erbarmung und Vergebung kommt über seine Lippen. - Wie andächtig und demüthig erscheint, diesem stolzen Pharisäer gegenüber, der arme Zöllner! Ganz vertieft in heilige Betrachtung steht er da, nur beschäftigt mit sich selbst und seinem Gott. „Er steht von ferne;“ in der Demuth seines Herzens hält er sich nicht werth, dem Heiligthume zu nahen und bleibt im Vorhofe des Tempels stehen. „Er will auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel.“ Er fühlt es, vor dem Gott, der im Himmel wohnet, vor den. Heiligen und Gerechten ist er ein Sünder, unrein, unheilig und kann er nicht bestehen; er fühlt es, daß dieser Gott der Sünde zürnt und sie strafen muß. Ach! in der Angst über seine Sünden, in dem Schmerze der Reue über seine Vergehungen schlägt er an seine Brust die gefallenen Hände und spricht mit bebender Lippe: Gott sei mir Sünder gnädig! Er verhehlt seine Missethat nicht, nein, er bekennt sich vor dem heiligen und allwissenden Gott als einen strafbaren Sünder, der Gottes Zorn wohl verdienet habe. In tiefer Demuth bittet er um Gnade. O diese Demuth, meine Geliebten, das ist die rechte Stimmung, in der auch wir bei unsern Gottesdiensten vor dem Herrn erscheinen müssen. Und wie dürfte sie uns fehlen, wenn wir uns dessen nur recht bewußt sind, daß wir hier vor dem heiligen, unendlichen Gott stehen? müssen wir nicht seiner Reinheit und Heiligkeit, seiner Macht und Majestät gegenüber unsre Sünde und Unreinigkeit, unsre Schwachheit und Ohnmacht lebendig empfinden?

Ist nicht auch Alles, was uns hier vorgehalten wird, geeignet, unser Schuldbewußtsein und das Gefühl unsers sündlichen Elends zu wecken und uns zu demüthigen vor dem Herrn, unserm Gott? Das Gesetz, das uns hier vorgehalten wird, klagt es uns nicht als Sünder an und ruft uns zu: Ihr seid alle abgewichen und allesammt untüchtig geworden; da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer? Und wenn uns das Evangelium die Gnade und die Versöhnung durch Christum verkündigt und uns alle die theuren Güter des Heils und des Lebens vorhält, welche der Sohn Gottes uns am Kreuze erworben hat: soll und muß das alles uns nicht zum Bewußtsein bringen, daß wir in uns selbst arme verlorene Sünder sind, und eben darum zu unsrer Rettung, Heiligung und Beseligung jener Gnadengaben und Heilsgüter so dringend bedürfen? ja, muß das alles uns nicht um so mehr demüthigen, je lebendiger wir es ja empfinden müssen, daß wir solcher hohen und theuren Gnade gar nicht werth sind? - Nun denn, meine Geliebten, in dieser demüthigen Stimmung feiert heute und immerdar euren Gottesdienst. Keiner spreche im thörichten Wahn eitler Selbstgerechtigkeit: ich bin nicht, wie andere Leute, ich bin kein Räuber, kein Ungerechter, kein Ehebrecher.

Denn wenn wir auch von groben Verbrechen uns frei wissen, wenn uns die Menschen auch nichts Böses nachsagen können, o so bestehet doch in einer solchen äußern Ehrbarkeit des Wandels noch lange nicht das wahre Wesen einer christlichen Frömmigkeit. Wie? ist denn das Herz rein von argen Gedanken und böser Lust? regt sich im Innern keine sündliche Begierde? Lebt da nur die lautere Liebe zu Gott und dem Nächsten und geht, was wir thun und lassen, Alles aus dieser Liebe hervor? Wohnt da nicht allerlei Böses in Gedanken, Trieben und Neigungen, Gottesfeindschaft, Unglaube, Eigensucht, Weltliebe? Muß nicht jeder, der sein Leben und Wesen im Lichte der göttlichen Heiligkeit erkennt, sich als Sünder demüthigen, mit dem Zöllner an seine Brust schlagen und sprechen: Gott sei mir Sünder gnädig? - So möge euch denn alle bei eurem Gottesdienste das Eine Gefühl durchdringen, das Gefühl eurer Sündhaftigkeit und Hülfsbedürftigkeit! So möget ihr denn stets hier vor dem Herrn erscheinen als solche, die nicht einer mit dem andern sich vergleichen, nicht einer über den andern sich erheben, sondern die da von Herzen und wie mit Einem Munde das Bekenntniß ablegen: es ist hier kein Unterschied; wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir an Gott haben sollen. Dann wird euer Gottesdienst rechter Art und Gott gefällig sein. Denn Er, der Herr, spricht: „Ich sehe an den Elenden und der gedemüthigten Geistes ist und der sich fürchtet vor meinem Worte“. Dann, o dann wird auch der Glaube nicht fehlen, der euch hier beseelen und euren Herzen den rechten Segen der gemeinsamen Gottesverehrung zuführen soll. Wo man sein Sündenelend fühlt, wo man seiner Hülfsbedürftigkeit sich recht lebendig bewußt ist, da ergreift man ja gerne die dargebotene Gnade Gottes, da wendet man sich ja gerne und mit Vertrauen an die erbarmungsreiche Liebe, die dem Sünder Rettung und Hülfe bietet. Das ist der Glaube, der seligmachende Glaube. Ach! bei dem Pharisäer finden wir ihn nicht; er denkt nicht an Gottes Barmherzigkeit, er will seine Gnade nicht bei dem Vorrat!) von eignen Verdiensten; Gott, meint er, muß ja mit ihm zufrieden sein, muß Wohlgefallen an ihm haben, ist ihm Lohn schuldig. Der demüthige Zöllner dagegen, der seine Sünde wie eine druckende Last fühlt, sein inneres Elend erkennt, der sich von aller eignen Gerechtigkeit entblößt, ja sich verloren sieht, wenn Gott mit ihm ins Gericht gehen will - er wendet sich zuversichtlich an die Gnade Gottes und sucht Vergebung seiner Sünden in wahrer Buße und mit lebendigem Glauben. - Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott gefallen; ohne Glauben kann auch der Besuch des Gottesdienstes nicht rechter Art und Gott gefällig sein. Oder wie? ist es nicht eben der Glaube, wodurch allein wir uns die göttlichen Lehren und Verheißungen, die theuren Wahrheiten und Güter aneignen können, welche i n dem Worte Gottes uns vorgelegt werden? Und wenn nun in seinem Worte der Herr selber zu uns redet, um uns die ewigen Rathschlüsse seiner göttlichen Weisheit und Liebe zu offenbaren und uns zu unterweisen zur Seligkeit, sollten wir dann zweifeln? Wenn er selber durch die Predigt seines Evangeliums uns verkündigen lässet, was ei in seiner Liebe für uns zu unsrer Erlösung gethan, was für Schätze der Gnade, des Heils und des Lebens er uns bereitet hat: dürfen wir denn solche Schatze verachten und ungläubig von uns weisen? sollen wir nicht vielmehr dankbar und begierig achten auf seine Heilslehren, und gläubig den Segnungen seiner Gnade unsre Herzen öffnen? Darum, meine Geliebten, wie euch Ein Gefühl der Sünde und der Hülfsbedürftigkeit hier durchdringen möge: so erfülle und verbinde euch alle auch Ein Glaube, der Glaube an den Gott und Vater, der euch geliebet und in seinem Sohne euch zur Seligkeit erwählet, der Glaube an Jesum Christum, euren gemeinsamen Heiland, euren einigen Hirten und Bischof der Seelen, der sich für euch dahingegeben, ewiges Heil und ewiges Leben euch erworben, der fein Blut für euch vergossen und mit seinem einigen Opfer am Kreuze in Ewigkeit vollendet hat alle, die geheiligt werden. In diesem Glauben bringet dem Herrn demüthig die Opfer eurer Anbetung dar; in diesem Glauben vernehmt die Predigt des Evangeliums und ergreifet heilsbegierig die Gaben eurer Erlösung durch Christum. Sieh! dann kann es nicht fehlen, der Besuch eurer gottesdienstlichen Versammlungen bringt euch reichen Segen.

III.

Solchen Segen erfuhr jener bußfertige Zöllner. „Er ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem Pharisäer. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedrigt werden; und wer-sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden.“ Verschwunden sind seiner Seele Schmerzen, und seines Herzens Angst und Unruhe ist aufgelös't in seligen Frieden. Denn er hat Antwort bekommen auf seine Klage und Bitte, und empfangen die Vergebung seiner Sünden von dem Herrn. Er fühlt es, Gott hat ihn wieder an- und aufgenommen als sein Kind und Erbe des ewigen Lebens. Er, der sich selbst erniedrigt hat, ist nun von Gott erhöhet, und als ein begnadigtes Gotteskind geht er dankbar fröhlich, im Frieden des Herrn, vom Tempel zurück in sein Haus. Und, was meint ihr, wird sich solches nun nicht auch in seinem ganzen Leben und Wandel offenbart, wird die Gnade, die er gefunden, ihn nicht auch gezüchtigt haben, zu verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste, ernstlicher zu wachen über sich selbst, muthiger zu kämpfen gegen alles Böse, treulich zu wandeln in der Liebe zu Gott und dem Nächsten? O gewiß, meine Geliebten, die Rechtfertigung des Sünders vor Gott hat, wo sie in Wahrheit erfahren wird, immer nothwendig die Erneuerung des Herzens in ihrem Gefolge; und je fester und freudiger du deiner Begnadigung vor Gott durch den Glauben bewußt wirst, um so treuer und eifriger wirst du immer der Heiligung nachjagen in der Furcht und Liebe Gottes. - Der Pharisäer ging auch hinab in sein Haus, aber nicht gerechtfertigt, nicht gebessert, stolz und hochmüthig, ungläubig und liebeleer, wie er gekommen war. Er hat keine Gnade empfangen, denn er hat sie nicht begehrt. Und weil er sein inneres Elend nicht fühlte, weil er in der Verblendung seines Hochmuths sich selbst für fromm hielt, wie hätte er der Besserung, der Heiligung seines Sinnes und Wandels nachtrachten können, da ja die Erkenntniß der uns anklebenden Gebrechen und Untugenden, das reuige Gefühl unsers sündlichen Verderbens der erste nothwendige Schritt zu aller wahren Besserung ist. Mag er denn auch vor groben Lastern und Verbrechen sich ferner bewahrt, mag er sich äußerlich auch immer anständig und ehrbar verhalten, und vor den Menschen für einen frommen rechtschaffenen Mann gegolten haben: ach! von seinem Tempelbesuch hat er doch keinen wahren Segen erfahren, in seinem Herzen hat er doch alle Kraft der Gottseligkeit verleugnet, und vor dem Herrn trifft ihn das Urtheil: wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden.

Möchtet ihr darum nicht dem Pharisäer gleichen, meine Geliebten, möchtet ihr aus jeder gottesdienstlichen Feier, die ihr begehet, gleich dem Zöllner wahren Segen mit hinwegnehmen! Möchtet ihr unter der Predigt des Evangeliums euch namentlich eurer Rechtfertigung vor Gott aus Gnaden durch den Glauben immer fester und lebendiger bewußt werden und es immer seliger erfahren, daß ihr durch Christum begnadigte und versöhnte Gotteskinder seid und an ihm, eurem auferstandenen Haupte alle Kräfte des Heils habet, Alles, was da dienet zum göttlichen Wandel und Leben! Möchte Keiner je aus diesen gottesdienstlichen Versammlungen in sein Haus und in das geschäftige Leben zurückkehren, ohne sich in seinem Innern erfaßt und erquickt, ohne sich in der Gemeinschaft des Herrn und seiner Gnade befestigt, in seinem Glauben gestärkt, in seiner Liebe belebt und zu neuem Eifer in der Heiligung, zu einem rastlosen Trachten nach dem, das droben ist, zu einer unwandelbaren Treue in der Nachfolge Jesu Christi ermuntert und ermuthigt zu fühlen! - O er würde ja vergeblich gehalten, dieser Gottesdienst, es würde euch ja zu desto schwererer Verantwortung gereichen, daß das Evangelium unter euch verkündigt wird, wenn solche Segensfrüchte sich nicht an euch offenbaren, wenn ihr durch die Predigt des göttlichen Wortes nicht erleuchtet, nicht zu Christo und seiner Gnade geführt, nicht erneuert und geheiligt werden solltet; es würde euch nur desto größere Verdammniß bringen, wenn ihr die Gnade, die der Herr euch nun bietet, nicht ernstlich zu eurem Heile, zu eurer Seelen Seligkeit benutzen wolltet. - Doch, nicht wahr? meine Geliebten, ihr wollt ,a gerne, dankbar und treulich, die euch gebotene Gelegenheit wahrnehmen und eifrig darnach trachten, ernstlich darum beten, daß der rechte Segen, Gnade und Frieden, Kraft und Leben von Gott, unserm Vater und unserm Herrn Jesu Christo in immer reicherm Maaße euch zu Theil werde. Ihr wollt ja zu dem Ende fleißig und gewissenhaft die Versammlungen besuchen, welche von heute an alle Monat zum gemeinsamen Gottesdienste unter euch gehalten werden, wollt mit demüthig gläubiger Andacht an diesem Gottesdienste Theil nehmen und mit heilsbegieriger Seele das Wort der Predigt aufnehmen und es behalten und bewegen in euren Herzen. D! je treuer ihr das thut, desto reichlicher werdet ihr auch daheim, in euren Häusern, das Wort Christi unter euch wohnen lassen, desto lieber dann auch selber suchen in der Schrift und täglich schöpfen aus dieser lauteren Quelle neue Kraft und Gnade zu einem gottseligen Leben, neuen Muth, die Beschwerden der irdischen Wallfahrt gottergeben zu tragen und zu laufen durch Geduld in dem Kampfe, der uns verordnet ist, neue Stärke, um alle Anfechtungen der Sünde, alle Lockungen der Welt und alle Versuchungen, die euch und eurem Glauben etwa nahe treten könnten, siegreich zu überwinden. So wird denn das Wort Gottes in Wahrheit der feste Grund, darauf ihr stehet, das Element, darin ihr lebet, und der Glaube an ihn, den einigen Mittler, unsern Herrn Jesum Christum, durch den allein wir Sünder vor Gott gerecht und selig werden, er ist dann das Band, das euch als Glieder unsrer theuren evangelischen Kirche zur schönsten brüderlichen Gemeinschaft verbindet und zu dem Streben euch vereinigt, in der aufrichtigen Liebe zu ihm, der euch zuerst geliebt, allewege zu wandeln nach seinem Wohlgefallen. Wie ihr dann brüderlich euch zusammen haltet und einer den andern zu stärken und zu fördern suchet auf dem Wege des Heils: so zeigt ihr's dann auch in eurem ganzen Wandel und im Umgange mit allen Menschen, daß der Glaube, der euch vor Gott gerecht macht, kein todter, sondern ein lebendiger, ein durch die Liebe thätiger Glaube ist. Ihr lasset euer Licht dann leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Ja, als das auserwählte Geschlecht, als das königliche Priesterthum, als das heilige Volk, das Volk des Eigenthums verkündigt ihr dann die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis; zu seinem wunderbaren Licht. Und siehe! euch, ja auch euch, gilt dann die Verheißung des Herrn, der da spricht: Fürchte dich nicht, du kleine Heerde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben. Amen.

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