Friedrich Wilhelm Krummacher - Blicke ins Reich der Gnade - II. Isaschar, oder Das Lager zwischen den Grenzen.
1. Buch Mose 49, V. 14, 15.
Isaschar wird ein knochiger Esel sein und sich lagern zwischen den Hürden. Und er sah die Ruhe, dass sie gut ist, und das Land, dass es lustig ist; da hat er seine Schultern geneigt, zu tragen, und ist ein zinsbarer Knecht geworden.
In dem Segen Jakobs, dem die verlesenen Worte entnommen sind, liegen wunderbare Dinge verborgen. Zunächst handelt sich's hier allerdings von äußeren Verhältnissen der zehn Stämme und von Dingen dieser Zeit. Aber hat man erst den Spaten des Geistes etwas tiefer eingesetzt und die Oberfläche durchstochen, so stößt man auf eine Goldlage geistlicher Sachen und Wahrheiten, dass man anfangs seine Not hat, all' den Reichtum nur zu überschauen und gehörig vor sich auseinander zu legen.
Als wir vor 14 Tagen mit unserer Betrachtung nur bei einigen Worten der merkwürdigen Verheißung verweilten, die dem Juda gegeben ward, da ahnten wir schon, über welchen Schachten wir standen, und es klang gleichsam hohl unter unseren Füßen. Heute haben wir uns nun wieder auf demselben Grund und Boden zusammengefunden, mit Hilfe des Heiligen Geistes Silber und Gold zu graben, wo freilich dem ersten Anscheine nach nur Heu und Stoppeln zu finden sind. Sehen wir auf den Isaschar nach dem Fleische, den fünften Sohn Jakobs von der Lea, so sind wir mit der Erklärung unserer Textesworte bald fertig. Es wird darin dem Isaschar geweissagt, er werde ein arbeitsamer Landmann werden und sein Stamm ein ackerbauendes Geschlecht. Aber es gibt auch einen geistlichen Isaschar. Wollte Gott, dass seine Hütte in unserer Gemeine nirgends anzutreffen wäre. Diesem Isaschar nach dem Geiste, dessen wohlgetroffenes Bildnis sich in unserm Texte uns darstellt, wollen wir in gegenwärtiger Stunde einmal näher unter die Augen setzen.
Wir sehen:
1. wo er sich lagert,
2. wie er in dies Lager hineingeraten und
3. welchen Mühen und Gefahren er in demselben unterworfen ist.
1.
Isaschar ist ein knochiger Esel. Welch ein wunderlicher Name! Der flößt schon nicht das beste Vorurteil ein. Juda heißt ein junger Löwe, das klingt schon angenehmer. Naphthali wird eine schnelle Hindin genannt, Joseph ein Ölbaum am Quell, dessen Zweige über die Mauer schreiten, Jonathan ein Adler, Sulamith eine Taube, Israel eine Rose. Das hat alles schon einen schöneren Schall. Aber ein knochiger Esel, da sollte man ja schon beim Klang des Namens alle Lust verlieren, mit der Person, die er bezeichnet, in nähere Bekanntschaft zu treten. Und doch, wer weiß, wie mancher von uns selber unter jenem widerlichen Namen in den Registern Gottes eingeschrieben steht. Aus welchem Grunde Isaschar so heiße, werden wir sehen, wenn seine geistliche Gestalt sich uns erst enthüllt hat.
Wo finden wir Isaschar? Zwischen den Grenzen. „Isaschar,“ heißt es, „wird ein knochiger Esel sein und sich lagern zwischen den Grenzen.“ O weh! mit diesen Worten hat der Erzvater seinen Sohn schon übel empfohlen. Ja, wenn es nur noch hieße, er wandert zwischen den Grenzen, so dürfte man noch sagen: Warte nur ein wenig, so ist die Grenze überschritten und das gelobte Land gefunden. Aber nein! Er hat sich gelagert, dadurch wird die Sache um so viel schlimmer. Zwischen den Grenzen lagern oder liegen, ist immer schon ein übler, unglückseliger Stand. Wie schrecklich richtet der Herr die Leute, die mit ihrem Herzen so zwischen Wärme und Kälte in der Mitte schweben: aus seinem Munde will er sie speien, diese Lauen. Er sähe lieber, dass sie das eine oder das andere wären, warm oder kalt; das Mittehalten ist ihm verhasst. Wie beurteilt er diejenigen, die weder zu seiner Fahne, noch zu derjenigen der Welt schwören mögen, und ihn zwar nicht verwerfen, aber auch für ihn sich nicht entscheiden wollen, sondern so zwischen beiden Parteien, seinen Feinden und Freunden, schmiegsam in der Mitte schweben? Er erklärt sie geradezu als seine Feinde und will sie als solche behandeln: „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreuet.“ Und wenn er heutzutage seine Kirche besuchte und sähe, wie Tausende von denen, die für seine Boten wollen angesehen sein, mit ihren Predigten zwischen die Grenzen seines lauteren Evangeliums und die einer selbsterfundenen von Gott entfremdeten Menschenweisheit sich gelagert haben, was würde er sagen? Ich sehe die Worte auf seinen Lippen liegen: „Ach,“ würde er seufzen, „dass ihr gläubig wärt oder ungläubig! Nun aber seid ihr keins von beiden.“ Ja, völlig ungläubig wäre noch besser, als dieses unselige Mittelding und dieses Hangen zwischen beidem.
Wo lagert denn nun Isaschar, der geistliche nämlich, und sein Stamm, und zwischen welchen Grenzen hat er seine Hütte aufgeschlagen? Isaschar gehört nicht eigentlich zu denen, die weder kalt noch warm sind; auch nicht zu denen, die weder für sind, noch wider, weder christlich, noch heidnisch; Isaschar ist für; Isaschar ist sogar in einem gewissen Sinne gläubig, ja er scheint im Reiche Gottes zu lagern, und doch steht es sehr schlimm mit ihm. Er liegt fest zwischen Kanaan und Ägypten, zwischen dem Stande eines bekehrten und dem eines unbekehrten Menschen. Man kann ihn nicht wohl unter die Weltmenschen rechnen, aber noch viel weniger unter die Kinder Gottes. Man darf ihn nicht mehr mit dem unschlachtigen und verkehrten Geschlechte dieser Welt in einen Rang und eine Ordnung stellen, aber noch weniger ist er zu dem auserwählten Volke, dem königlichen Priestertume zu zählen. Er hat sein Lager zwischen den Grenzen des Gnadenreiches und denen des Reiches Belials mitten inne. Er wird in diesem unglückseligen Zwischenstande mit den Bürgern des ersteren Reiches nimmer zu Tische sitzen; aber mit den Bürgern des andern wird er verderben und verbrennen.
Treten wir nun unserm Isaschar ein wenig näher, dass seine äußere und innere Gestalt sich uns ganz enthülle. Seine äußere Erscheinung, sein Leben und Treiben, hat wirklich einen schönen Schein und eine gute Farbe und flößt die besten Vorurteile für ihn ein. Meinst du, dass du ihn fändest im Rate der Gottlosen und auf dem Wege der Sünder oder da die Spötter sitzen? Nein; da ihn suchen wollen, das hieße ihm schweres Unrecht tun; aus diesem Sodom ist er längst schon ausgegangen und hat sich abgesondert. Er opfert nicht mehr auf den Höhen und in den Hainen, und die Versammlungen derer, die Unrecht saufen wie Wasser, ein Gräuel und schnöde sind, sind ihm gar verhasst und widerlich. Du findest ihn nimmer in Schenken und Kammern, noch auf den Schand- und Gräuelplätzen, wo die tolle, blinde Welt, wie vom Schwindelgeiste ergriffen, in unbändiger Lust hintobt und taumelt, und wo die Leute tanzen zum Schalle der Pfeife, die der Satan ihnen bläst. Er hat nichts gemein mit denen, die zur Losung haben: „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ und liegt nicht mit den Säuen am Träbertrog. Auch darfst du ihn nicht finden wollen unter den moralischen Leuten, die zwar ehrbar wandeln und bürgerlich rechtschaffen, aber von einem göttlichen und gottesdienstlichen Leben nichts wissen mögen, in ihrer Ehrbarkeit volle Genüge habend; Gottes Wort und Reich, Sakrament, Gebet und Opfer, wie alte, vertragene Lumpen und Lappen weit von sich werfen, darüber die Nase rümpfen, als über ein Spielwerk der Kindischen und Schwachen. Nein, unter den Stillen im Lande, unter den Gottesdienstlichen musst du Isaschar suchen; wo man predigt vom Namen des Herrn, wo das Panier des Kreuzes hoch gehalten wird, wo man bekennt zur Ehre des Vaters, dass Christus der Herr sei, wo man das Wort reichlich unter sich wohnen lässt und sich ermahnt mit lieblichen und geistlichen Liedern, und heilige Hände ausstreckt gen Himmel, wo man weidet auf den grünen Auen der ewigen Offenbarung, und aus der lebendigen Wasserquelle der gewissen Gnaden Davids Leben und volles Genüge trinkt: da ist er zu finden, da hat Isaschar seine Hütte und sein Zelt; er wohnt unter den Heiligen und in ihren Versammlungen ist er anzutreffen.
Wie! So wäre Isaschar ein Heuchler? Ei behüte, das kann man gar nicht sagen. Die Heuchler machen wieder ein ganz besonderes Völklein aus. Diese Pharisäerzunft liegt ja nicht zwischen den Grenzen, sondern ist noch mitten in Ägypten. Aber wenn Isaschar zur wahren Kirche sich hält und zu den Kindern Gottes, mit denen die Welt nichts mag zu schaffen haben und das ohne Heuchelei und mit Aufrichtigkeit, was fehlt ihm denn noch? Ach, gar viel, ja alles, was wesentlich zum wahren Gnadenstande gehört. Er lebt in der Gemeinschaft der Heiligen, das ist wahr, aber nur äußerlich, nicht im Geiste und in der Wahrheit. Er ist kein Glied an dem heiligen Leibe, dessen Haupt Christus ist; wohl äußerlich mit ihm verknüpft, aber nicht wesentlich ihm einverleibt. Er ist kein Zweig an dem großen Zedernbaume; er hat wohl einiges Vergnügen in seinem Schatten, aber er ist ihm nicht also eingepfropft, dass er aus seinem Safte und Leben grünte und blühte. Er ist keine Rebe am göttlichen Weinstocke; wohl ihm angebunden äußerlich mit irgendeinem menschlichen und verweslichen Bande, so wie die Früchte etwa, die man an die Christbäumlein bindet, zur Freude der Kinder, aber nicht lebendig im Geiste mit ihm verwachsen. Sehen wir auf seinen Verstand, da ist nicht ägyptische Finsternis mehr und Gewirr von kräftigen Irrtümern. Nein, er ist reich an Erkenntnis des Heils, weiß vielleicht den Katechismus mit Haupt- und Nebenfragen und die halbe Bibel auswendig, eine Menge schöner Lieder dazu und viele Historien der Erweckten und Wiedergeborenen. Aber was ist's? Lauter selbsterrungenes und selbstgemachtes Wesen, erarbeitetes Gut und eitel Menschenwerk. Er hat sich's angelesen und angehört, hat sich's von Menschen antun, anpredigen, angewöhnen lassen. Aber der Heilige Geist hat keinen Anteil an seiner Erleuchtung, er ist nicht von Gott gelehrt: darum liegt auch, was er so verschluckt hat, als ein totes Kapital in ihm, das keine Zinsen trägt; die Speise ist unverdaut geblieben und nicht zu Saft, Blut und Leben geworden, und seine Narde gibt keinen Geruch. Sehen wir auf seinen Wandel, so ist eigentlich nichts dagegen zu erinnern. Isaschar steht untadelig da vor Menschenaugen, lebt still, zurückgezogen, häuslich, ist ehrsam, fleißig, ordentlich, hält sich nur zu christlichen Freunden und verschmäht die Lustbarkeit der Welt. Aber ist das nun der Wandel, den Gott meint, wenn er spricht: „Ich bin der Allmächtige, wandle vor mir und sei fromm?“ und den Jesajas meint in dem Aufruf: „Kommt ihr nun, vom Hause David, lasst uns wandeln im Lichte des Herrn?“ auf den der Apostel hinweist in den Worten: „Unser Wandel ist im Himmel“, und in dem andern Spruche: „So wir im Geiste leben, so lasst uns auch im Geiste wandeln?“
Ist Isaschars Wandel eine Frucht des Heiligen Geistes, ein aus dem Boden des neuen Herzens entquollenes, klares Bächlein? Ach, was wollte er sein! Er ist teils die Frucht einer guten Erziehung und Gewöhnung, oder eines guten Umgangs; teils eine selbsterwählte Geistlichkeit, eine angearbeitete, selbsterworbene Güte, ein Werk, zu dem der Heilige Geist sich nimmermehr bekennen wird, weil er wirklich nicht den geringsten Anteil daran hat. Sehen wir auf Isaschars gottesdienstliches Leben, siehe! auch da tritt alles angenehm in die Augen. Aber diese Gebete, die er täglich darbringt, diese Lieder, die er singt in der großen Gemeine, oder daheim mit den Seinen, sind die das Räuchwerk nun von Gott zuvor gegeben, und dann ihm wieder zurückgeopfert als seine Gabe, entzündet im Feuer des Heiligen Geistes und in der Schale eines tiefgebeugten und zerbrochenen Herzens dargelegt, so wie es dem Herrn allein lieblich duftet? Ach nein! es ist wieder eigene Fabrikation. Isaschar betet, weil er beten will, nicht weil er beten muss; es betet Isaschar, aber nicht Christus und sein Geist in ihm. Wie unglücklich ist seine Lagerstätte zwischen den Grenzen! Er ist ein Christ, ohne wiedergeboren zu sein; er erkennt das menschliche Verderben an, ohne sein eigenes noch gefühlt zu haben; er ist gelehrt in geistlichen Dingen, ohne erleuchtet zu sein; er glaubt an Jesum, ohne wahres Bedürfnis nach ihm zu haben; er rechnet sich zu den Heiligen und ist doch keiner; er weiß vom Gnadengang zu zeugen, und ist noch selber nicht hineingekommen; er denkt, er lebe und wandle ganz nach Christenweise, und ist doch nach Geist, Herz und Seele nichts mehr und weniger als ein natürlicher Mensch, der innerlich durchaus noch keine wesentliche Veränderung erlitten hat, der nicht das Geringste aufweisen kann, was der Geist in ihm gewirkt und geschaffen hätte, sondern der sich auf eigene Hand ins Christentume selbst hinein gezwängt und gearbeitet hat. Es ist nicht der neue Adam in ihm geboren, sondern der alte ist in ihm fromm geworden, und das ist übel. So ist Isaschars Stand. Nicht in Ägypten mehr, aber auch nicht in Kanaan; aus der Welt, in einem gewissen Sinne wenigstens, ist er ausgegangen, aber noch lange nicht ins Reich der Gnade eingetreten. Christliche Form und evangelischer Zuschnitt in Denkart, Wort und Wandel; aber es fehlt das Leben aus Gott, das neue Herz. Isaschar hat sich gelagert zwischen den Grenzen.
2.
Wie aber ist er nun in diese Lagerstätte hineingeraten? Unser Text sagt uns kurz und treffend: „Er sah die Ruhe, dass sie gut ist, und das Land, dass es lustig ist.“ Was Isaschar ist, er ists nicht durch des Vaters Zug, nicht durch den Ruf der Gnade, noch durch des Heiligen Geistes Anfassung, Werk und Arbeit; er ist es geworden durch eigene Wahl, durch die Einsprache seines eigenen Geistes, und auf Antriebe nicht sowohl von Seiten Gottes, als vielmehr von Seiten seines eigenen, natürlichen Herzens. Hat ihn der Sündenschmerz zum Evangelio getrieben? Der Rauchdampf Sinais? Der Donner Ebals? Das Schmachten nach Erlösung? Das ängstliche Sorgen für seiner Seele Heil und Rettung? Ach nein, das kann man gar nicht sagen. Ganz andere Gelüste und Vorteile trieben und zogen ihn, ein Christ zu werden.
Er sah die Ruhe an, dass sie gut ist. Was für eine Ruhe war das? Die Sabbatruhe in Christo? Der Friede mit Gott? Das Lager im Verdienst des Mittlers? Das Entbundensein von Fluch und Sünde und das Ausruhen vom mühseligen Werkdienste im Gesetzwesen? Ach nein! Eine ganz andere Ruhe wars, die unseren Isaschar anlockte und nach welcher ihn gelüstete. Er sah das Land an, dass es lustig ist. Was für ein Land? Das schöne Land, das helle droben, zu welchem Jesus Weg und Pforte ist, oder das Gnadengebiet, wo man von seinem Tau und Sonnenscheine lebt? Gelüstete ihn danach? Fühlte er dahinein ein verborgen Heimweh? Nein, das lässt sich auch nicht wohl von Isaschar rühmen. Es war im Grunde doch etwas anderes, was ihn lockte. Und was denn namentlich? Nun, bald ist es dies, bald jenes, was in den misslichen Stand und in das Zwischenlager Isaschars hinein führt. Dieser fühlt sich durch die Eintracht angezogen und durch die gegenseitige Liebe, die er unter den Stillen im Lande antrifft. Er hat vielleicht schmerzliche Erfahrung gemacht von der Falschheit der Welt und ihrer Tücke, wie sie weder Treue hält, noch Glauben, und voll Grolls und Haders ist, hat Freunde gesucht und sich bitterlich betrogen gefunden. Da fällt sein Auge auf die Gemeine der Gläubigen, wie sie ein Herz sind, und an einander hangen mit Liebe und Treue, und sich gegenseitig dienen, wie Brüder den Brüdern. Das gefällt ihm wohl. Er sieht diese Sache an, dass sie gut ist, und sein Schluss steht fest, er schlägt sich zu den Frommen.
Jener hat von Natur ein weiches Gemüt, ist leicht bewegt, liebt feierliche Szenen und Auftritte und die angenehmen Rührungen, die sie hervorbringen. Da gefällt ihm denn das Leben der Kinder Gottes, ihr gottesdienstliches Treiben, ihre lieblichen Gesänge und Gebete. Er sieht an das Land, das es lustig ist, und fasst so aus dem Eigenen den Gedanken: „Hier ist gut sein, hier wollen wir Hütten bauen.“ Dieser hat von Natur Geist empfangen und Trieb zum Denken und Forschen; mit diesem Triebe fällt er auf die Schrift: hier findet er Nahrung in Fülle, hier kann er seine Denkkraft und seinen Scharfsinn üben. Mit dem lebendigsten Interesse gibt er sich ans Lesen und Durchforschen und seine Freude ist's fortan nur unter solchen zu wohnen, denen dasselbe Buch zum Haus- und Lebensbuche geworden ist; er findet Lust an wechselseitigem Austausche christlicher Meinungen und Ansichten und an biblischen Unterhaltungen und Gesprächen; er schließt sich aus eigener Wahl den Kindern Gottes an, ohne den Samen der Wiedergeburt aus diesem Worte in sein Herz aufgenommen zu haben. Jenen, von Natur mit einem regen Sinne fürs Schöne begabt, ergötzen die erhabenen Geschichten, die reizenden Schilderungen, die glänzenden Bilder und Gleichnisse, die lieblichen und rührenden Auftritte, von welchen die Schrift so voll ist. Er liest das heilige Buch mit feuriger Begeisterung, aber freilich mit keiner andern, als mit der, mit welcher er auch die gleißenden Erzeugnisse weltlicher Poeten liest, und er hält sich zu den Christen um des ästhetischen Genusses willen; von Bekehrung ist hier nicht die Rede. Der macht die Bemerkung, dass in den Häusern der Frommen doch unendlich mehr Ordnung und Eintracht wohne, als in denen der Weltkinder. Der Friede, der hier waltet, und die Stille, die Liebe und der stete Frohsinn, dann auch der Segen, der kein Ende nimmt und der gute Fortgang der Geschäfte, o wie ihm das alles gefällt und wohltut, zumal, wenn er auf den großen Abstand hinblickt, in welchem sein Haus zu diesen Häusern steht. Er sieht diese Ruhe an, dass sie gut ist. „Ich bin des ewigen Lärmens und Zankens müde,“ denkt er, „es soll nun auch in meinem Hause anders werden: auch ich will das Christentum einführen,“ und er führt es ein. Es wird gelesen, gesungen, gebetet; man lärmt, man schwatzt, man tobt nicht mehr, und siehe! das Haus ist nun neugeboren; ach ja! das Haus, nur leider! nicht das Herz. Der Leib ist da und die Form, aber es fehlen Geist und Leben, der Mensch ist aus der Welt hinweg, doch ach! die Welt ist darum noch nicht weg aus ihm. Der Rock ist gewechselt, aber die Person dieselbe geblieben.
Seht, meine Brüder! so wird man ein Isaschar, zwischen den Grenzen gelagert. Man sieht die Ruhe an, dass sie gut ist, und das Land, dass es lustig ist. Es ist nicht das Verlangen nach Versöhnung, nicht der Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und den Gnadenströmen des Heiligen Geistes, was einen zum Evangelium getrieben. Nein, der Vorrechte, deren sich die Kinder Gottes auch für dieses Leben schon erfreuen, möchte man auch gerne teilhaftig werden: da wird man denn fromm aus eigener Wahl, still, zurückgezogen und gottesdienstlich durch selbstische Bemühungen. Man ergreift das Christentum wie man ein Gewerbe, eine Wissenschaft oder eine Kunst ergreift, und man weiß sich alles anzueignen, was zum Christenwesen gehöret. Nur zwei Sachen fehlen und mit ihnen alles, was das eigentliche Wesen der Kinder Gottes ausmacht: das zerbrochene Herz, in welchem der Herr allein wohnen will, und der Geist, von dem es heißt: „Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.“ Isaschar, ach unglückseliger Isaschar, der du zwischen den Grenzen lagerst, und also die Ruhe ansiehst, dass sie gut ist, und das Land, dass es lustig ist, das Land jenseits des Jordans wirst du nicht erben und nicht mitfeiern den ewigen Sabbat.
3.
Isaschars Lager kennen wir und wissen auch, wie er hinein gekommen. Werfen wir nun auch noch einen Blick auf die geistlichen Mühseligkeiten, die sein Stand zwischen den Grenzen herbeiführt, und auf die schrecklichen Gefahren, die ihn von allen Seiten umlagern. Seinen Pein- und Notstand schildert uns der Text: „Er neigte seine Schultern zum Tragen und ward ein zinsbarer Knecht.“ Er neigte seine Schultern zum Tragen. Es liegt also eine Last auf ihm, unter der er seufzt und ächzet, und diese Last ist - seine Sünde etwa? O wollte Gott, dass die ihn erst drückte, bald würde es besser mit ihm stehen. Diese Last ist sein Christentum, in das er sich aus eigener Wahl hineingezwängt. Unser Heiland sagt zwar: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht,“ aber davon kann Isaschar nicht viel verspüren. Ich denke hier an ein Wort des Propheten Jesajas: „Zu der Zeit,“ spricht er, (Kap. 10,27) zur Zeit des neuen Bundes nämlich, „wird die Last von deiner Schulter weichen müssen, und das Joch von deinem Halse; denn das Joch wird verfaulen oder verderben, vor der Fette.“ Das Joch gleitet ab, wenn der Nacken mit fettem Öl bestrichen ist. Und wenn wir mit dem Öl der Gnaden und des Heiligen Geistes gesalbt sind, dann weicht die Last von unseren Schultern, dann ist Gesetz und Gottesdienst uns kein drückend Joch und keine Bürde mehr, sondern ein leichtes und frohes Geschäft, eine Lust und Freude. Aber Isaschar ist ungeölt, und darum sind seine Schultern geneigt und gesenkt zum Tragen. Er ist ja nicht von denen einer, die mit dem Gefäße eines in Buße und Hilfsbedürftigkeit ausgeschlossenen Herzens zum Herrn Jesu gehen und sich aus seiner Fülle Kraft und Gnade schöpfen. Isaschar hat sich selbst bekehrt und will nun auch auf eigene Kosten und durch eigenes Bemühen heilig werden, und nach Christenweise wandeln. Er wills den andern nachmachen, will ausfahren, wie sie, und denkt nicht daran, dass ihm die Flügel fehlen, er will, wie sie singen und beten, und es mangelt ihm doch Drang, Lust und Odem; wills ihnen gleichtun im Laufen und Springen, und hat sich doch die lahmen Füße noch nicht heilen lassen; will das Gesetz erfüllen, doch ach! wo hat er das Zeug dazu und die Liebe, Freudigkeit und Stärke?
O weh! welch ein Frondienst, unter dem er keucht; wie quält er sich so vergeblich ab mit seinen selbsterwählten Gottesdiensten, dem Eigenwerke seiner Heiligkeit. Mühe ohne Frucht, Arbeit ohne Lohn! Isaschar hat seine Schultern geneigt zum Tragen. Und was ist er? „Ein zinsbarer Knecht,“ sagt der Text. Welch eine treffende Benennung! Ach ja! seine Morgen-, Tisch- und Abendgebete, seine Lieder und frommen Übungen, was sind sie anders, als Zinsen, Steuern, die er täglich darbringen zu müssen meint und die er bringt, nicht wie ein Kind, fröhlich und willig, sondern wie ein Knecht, mühsam und gezwungen, eigentlich mit einer innerlichen Not und einem heimlichen Widerstreben. Der Geist der Gnaden und des Gebets ist ja nicht über ihn ausgegossen! Alles, was Isaschar darbringt, ist mühsam heraufgeschraubtes, erquältes, selbstgemachtes Menschenwesen. Er steht ja in keiner wahren Verbindung mit dem, der das Leben ist. Von den Wiedergeborenen fließts frei aus, wie Wasser aus der Quelle. Isaschar aber ist ein trockener Brunnen, wie solls da fließen? Ist die festgesetzte Stunde gekommen, so muss der Gebetsschilling dargebracht werden: da wird er denn schnell mit viel Beschwernis gemünzt und vor Gott hingeworfen. Aber diese Münze hat ein schlecht Gepräge, und weil sie nicht des zweiten, sondern des alten Adams Bild trägt, fällt sie nimmer in Gottes Schatzkammer. Seht so ist Isaschar; kein Kind im Hause, sondern ein armer, zinsbarer Knecht, der nichts hat und doch zahlen muss und noch obendrein mit Münze zahlt, die ihm als falsch wieder vor die Füße geworfen wird. Und weil er solch ein Lastträger ist und so dahin seufzt unter dem Joche seines selbsterwählten Gottesdienstes und unter dem treibenden Stecken des Gesetzes mühevoll sich abquält ohne Munterkeit und Leben, darum heißt er: ein knochiger Esel.
Und o in welchen Gefahren schwebt diese arme Seele! Es wird einem angst und bange, wenn man daran gedenkt. Da meint so ein armer Mensch in seiner Blindheit, er sei nun wirklich im Reiche Gottes drinnen, und ach! er gehört doch so gut zu denen, die draußen stehen, als die rohesten Weltmenschen. Es ist ihm so ziemlich gelungen, sein Leben äußerlich dem Leben der wahren Kinder Gottes gleichförmig zu machen, und so liegt er denn nun in der unglückseligen Täuschung, er sei auch ein Gotteskind. Dazu kommt denn oft noch, dass er auch von den Gläubigen, mit welchen er verkehrt, dafür gehalten und anerkannt, und als einer ihresgleichen behandelt wird, und das bestärkt ihn noch in seinem Wahne, und macht ihn desto blinder, desto sicherer in seinem Lager zwischen den Grenzen. Der arme, der bedauernswerte Mensch! Er meint, er wohne in Kanaan, und hat sein Zelt nahe bei Tophet und am Abhange des Würgetals. In Jerusalem träumt er zu sein, und ach! er hat sich gelagert nicht fern vom toten Meere, von Adama und Zeboim. Und wenn der Herr kommt mit Feuer und Schwefel, er kann Isaschar nicht verschonen, und wenn ihm das Herz gegen ihn bräche vor Mitleid, in diesem Lager zwischen den Grenzen muss er ihn verzehren und seine Seele hinwegraffen mit den Gottlosen.
So trete denn vor Gott, wer unter uns sich in Jerusalem glaubt, und seufze mit David: „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich, und erfahre, wie ichs meine, und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege!“ Wisst, am jüngsten Tage wird nichts gelten, als was der Heilige Geist in uns gezeugt und geschaffen und ausgewirkt. Alles Selbst- und Menschenwerk wird verbrennen, wie Heu. Alle selbsterwählte Geistlichkeit und Gottesdienste, alle selbstgemachte Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Heiligkeit, das alles wird für Null gerechnet werden und in den Flammen aufgehen. Da wird nicht gefragt werden nach der Erkenntnis, die ihr aus Katechisationen und Predigten heraus gebracht, sondern was ihr gelernt habt in der Schule des Heiligen Geistes. Nicht wird gefragt da, wie viel ihr gebetet und gesungen, sondern ob ihr sangt und betetet im Geiste und in der Wahrheit, im Namen des Herrn Jesu Christi. Nicht wird da geforscht werden, ob ihr auf Erden mit den Gläubigen in Verbindung standet, aber ob ihr in Verbindung standet mit dem, der das ewige Leben ist, und wirklich verwachsen wart mit dem Haupte, danach wird man forschen. Ach, es mögen der unglücklichen Isaschars viele in der Welt herumgehen, die zwischen den Grenzen lagern und aus diesen und jenen Gründen sich selber fromm gemacht, oder allein durch Menscheneinfluss sich haben fromm machen lassen, ohne dass der Geist Gottes den geringsten Anteil hat an ihrer Frömmigkeit. Gott wolle ihnen gnädig sein und die Augen ihnen austun! Viele mögen umhergehen, selbstbetrogen und verblendet über sich selbst, durch den guten evangelischen Schein, den sie sich angeeignet. Die Decke ist da; aber wo ist unter der Decke der zerschlagene Geist, wo das zerbrochene Herz, wo der Same der Wiedergeburt, wo die neue Kreatur, wo das wahrhaftige Dursten nach dem Blute Jesu? wo alles dieses, das, vom Geiste gewirkt, allein den Christen ausmacht? Es fehlt, und die arme Seele weiß es nicht. Ach, der barmherzige Gott bewahre uns vor solchem schrecklichen Betruge, der ewiges Verderben in sich schließt. Er scheuche uns auf mit Donner und Posaunen aus dem Unheilslager zwischen den Grenzen Ägyptens und Kanaans, und verhelfe uns allen dahin, dass wir in Wahrheit mit Hiob sagen können: „Der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Odem des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben.“ Amen.