Knapp, Albert - Predigt am zweiten Advents-Sonntage
Von Stiftsoberhelfer Knapp in Stuttgart.
Text: Römer 15, 1 - 13.
Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben. Es stelle sich aber ein Jeglicher unter uns also, daß er seinem Nächsten gefalle zum Guten, zur Besserung. Denn auch Christus nicht an Ihm selber Gefallen hatte, sondern wie geschrieben steht: die Schmach derer, die Dich schmähen, sind über mich gefallen, Was aber zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, auf daß wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung haben. Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, daß ihr einerlei gesinnet seyd unter einander nach Jesu Christi, auf daß ihr einmüthiglich mit Einem Munde lobet Gott und den Vater unsers Herrn Jesu Christi, Darum nehmet euch unter einander auf, gleichwie euch Christus hat aufgenommen zu Gottes Lobe. Ich sage aber, daß Jesus Christus sey ein Diener gewesen der Beschneidung um der Wahrheit willen Gottes, zu bestätigen die Verheißung, den Vätern geschehen. Daß die Heiden aber Gott loben, um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: darum will ich Dich loben unter den Heiden und Deinem Namen singen. Und abermal spricht er: freuet euch, ihr Heiden, mit Seinem Volk. Und abermal: lobet den Herrn alle Heiden, und preiset ihn, alle Völker. Und abermal spricht Jesaia: es wird seyn die Wurzel Jesse, und der auferstehen wird, zu herrschen über die Heiden, auf Den werden die Heiden hoffen. Gott aber der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Friede im Glauben, daß ihr völlige Hoffnung habet durch die Kraft des Heiligen Geistes.
„Ein Herz und eine Seele.“ - Das war die Grundbeschaffenheit der ersten Christengemeinde, da noch die Gnade Jesu Christi durch die Kraft des Heiligen Geistes allseitig in ihr waltete, und Gott der Vater als ein Gott des Trostes, der Geduld und Hoffnung sie mit dem Leben Seiner Liebe durchdrang. - Ein Herz und eine Seele. So geziemt es der Gemeinde Dessen, der die feierlichste und heißeste Bitte Seines Herzens vor Seinem Opfertode dahin richtete: daß sie Alle Eines seyen, wie Er mit dem Vater Eines ist, ja, der auch insonderheit darum zum Tode ging, daß Er die zerstreuten Kinder Gottes zusammenbrächte. Ein Herz und eine Seele. Durch diese heilige Verschwisterung allein erfüllt die Menge der Gläubigen ihre erhabene Bestimmung: ein Tempel Gottes zu seyn, der auf dem köstlichen Grundstein Christus steht, und sich aus lebendigem Gestein erbaut, - und ein geistlicher Leib, der von Christo, als dem gesalbten Haupte regiert, beseelt und, umfaßt von dem Frieden Gottes, im Wachsthum und in kräftiger Gesundheit zum vollkommenen Maaße gefördert wird. Ja, ein Herz und eine Seele. So sollten wir als Christen seyn und könnten es werden, wenn wir allesamt an Christum, den Heiland, Seines Leibes, uns im Glauben übergaben; und wir sind nicht vollkommen, haben den Werth unserer gemeinsamen Berufung und die Herrlichkeit des Reiches Gottes nicht erfaßt, sind keine vollkräftigen Bürger desselben, sondern kränkeln an allerlei selbstsüchtigem Siechthum, wenn wir nicht ohne Falsch nach jener seligen Einigkeit im Geiste trachten, von welcher schon das Alte Testament bezeugt: siehe, wie schön und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen! - Denn daselbst verheißet der Herr Segen und Leben immer und ewiglich.
Weil aber auch bei gläubig gewordenen Seelen die Selbstsucht und Eigenliebe stets wieder das vorhergeführte Regiment zu gewinnen sucht, und sie leider auch nur allzuhäufig gewinnt, so würde schon zur apostolischen Zeit jenes heilige Friedensband oft in den Gemeinden zerrissen, ebendamit aber das freudige Wachsthum der einzelnen Seelen gehemmt und nicht selten ertödtet. Die Apostel hatten beständige Mühe, vor die mannigfaltigen Risse der Eintracht zu stehen, welche durch selbstsüchtige Mißverständnisse hin und wieder entstanden, und nur selten gelang es ihnen im Verlauf ihres Amtes, daß eine Gemeinde einträchtig und mit einem Munde Gott lobete, den Vater unsers Herrn Jesu Christi. Bald waren es ungeistliche Streitfragen, bald Sünden des Fleisches, bald ein übergeistliches Leben, was störend zwischen die gläubigen Seelen trat, und solcherlei Wunden wurden viel schwerer gründlich ausgeheilt, als leichtsinnig geschlagen. Seit jenen Zeiten hat der Feind, während die Leute schliefen kein giftigeres, weitergreifendes Unkraut ausgesät, als das des Unfriedens und der Entzweiung, weil er aus alter Erfahrung weiß, daß er über zertrennte Geister den Sieg am leichtesten gewinnt. Daher bietet auch die heutige Christenheit nicht das holdselige Bild liebreicher Einigkeit, sondern das der Zerrissenheit, wobei die meisten Seelen durchaus kalt und fremd an einander vorübergehen, und selbst unter den Gläubigen zeigt sich nur selten jene in Geist und Herz wurzelnde harmlose Vertraulichkeit, die sich mit vereinigten Kräften und Trieben zum Himmel erbauet.
Wie diesem Elend abzuhelfen sey, darüber spricht Paulus hier ausführlich zu der ihm befreundeten römischen Gemeinde, und nach seinem Worte betrachten wir nun:
Was ist bei unsern heutigen Christen vornämlich abzuthun, wenn sie in Christo ein Herz und eine Seele werden wollen?
Wir reden dießmal nicht besonders von dem Werthe und von der Notwendigkeit der Geistesgemeinschaft in Christo Jesu, nicht davon, daß ein Christ ohne dieselbe nimmermehr wird und werden kann, was er in Christo werden soll; nicht davon, welche Schuldenlast sich Diejenigen aufladen, die, gegen das Hauptgebot des Erlösers, vereinzelt und getrennt von andern Kindern Gottes dahingehen, und sich dennoch ihres Christenthums getrösten, während Johannes schreibt: Wir wissen, daß wir aus dem Tode zum Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder. Auch davon reden wir nicht, daß uns in der Gottheit Jesu Christi, im Blute der Versöhnung, in den Gaben des Heiligen Geistes und in unserer gemeinsamen Berufung zum Reiche Gottes ein heller Mittelpunkt zur Vereinigung unserer Seelen gegeben ist, und daß alle übrige Rücksichten vor diesem Einen, was Noth thut, gleich Nebeln vor der Sonne verschwinden. Wir setzen das heute voraus, so Viele von Euch ein Ohr für das haben, was der Geist den Gemeinden sagt. Nein, lasset uns einmal einige Haupthindernisse der Geisteseintracht nach unserem Texte betrachten.
I.
Als das erste Hinderniß erscheinet hier das Vertrauen auf eigene Kraft, möge man dieselbe nun in geistiger Anlage und Bildung, oder in äußerem Wohlstand und Ansehen suchen. Der Apostel redet zwar nur von geistlicher Christenkraft. Man muß aber unsern jetzigen Christen sagen, daß sie sich ihrer natürlichen Kräfte nicht überheben sollen. Sehr leicht geschiehet es nämlich, um nur ein Beispiel zu bezeichnen, dem talentvollern, gebildetern Christen, daß er über Minderbegabte, mindergebildete Kinder Gottes mit eigengefälligem Aug' und selbstgenügsamem Sinne hinwegblickt, und bei diesem Gefallen an sich selber einen gar engen Kreis näherer Liebe und Gemeinschaft um sich her zieht. Oft bemißt er nur allzuschnell seine christliche Befreundung nach dem Talent, nach der Einstimmung in die jeweiligen feineren Ansichten dieser Welt, nach einer geistreichen, anmuthigen Unterhaltung über Dinge, die nur ihm, aber Andern nicht wichtig sind, und geht darüber zuletzt an minder nach seinem Zeitgeschmacke geformten Kindern Gottes, welche doch oft im Kerne weit tüchtiger und reifer für den Himmel sind, halb wegwerfend, halb freundlich, vor Gott aber, wenn man das Kind mit dem rechten Namen nennen will, als ein hochmüthiger Thor vorüber. Denn er mißt die Geister, die Gott erzieht, nach seiner Staubesbildung, und nicht nach dem Wort und Geistesgesetz des Herrn. Wie schnell verwirft oft ein solcher überbildeter Christ die Irrthümer Derer, die ihm unter dem Maße seiner Bildung zu stehen scheinen! Wie leicht läßt er sich von einer Einseitigkeit derselben zurückstoßen! Wie kurz und lieblos fertigt er sie manchmal ab, wenn sie Rath und geistliehe Handreichung von ihm begehren! Denn er verläßt sich auf seine Kraft, und denket, ein Starker zu seyn. - Ist Solches recht vor Gott? - O Jesu! an Deine Brust legen sich die Armen und Hülflosen, die den Weg der ewigen Weisheit ohne Dich nicht erkennen! Du hast unsern Werth nicht nach Bildung und Gelehrsamkeit, sondern nach Deinem Opfer und unserer Sehnsucht nach Dir gemessen. An Dein Herz lege sich unser Herz mit tausend andern verwundeten Herzen, der Du nicht mit den Gebildeten Jerusalems, nicht mit den Pharisäern und Schriftgelehrten Deiner Zeit, sondern mit Zöllnern und Sündern, welche Dir zuhörten, gegessen und gewandelt hast! Mit Denen, die also, wie die längst verstorbenen Sünder und Zöllner, auf Dich geschaut und sich untereinander geliebt haben, als Dein Geist ohne Ansehen der Person auf sie ausgegossen ward, mit ihnen, und nicht mit den stolzen Weltchristen sey dermaleins unser Name vor Dir erfunden! Denn Du bist ein Herr der Herzen, und nicht der Titel, nicht der Weltansichten und Erdenbildungen; - vor Dir und Deinem Vater gilt nichts als eine neue Creatur, die nach Dir und Deinem lauteren Worte gebildet ist!
Theure Zuhörer! Es liegt noch viel Sauerteig in unserem heutigen Christenleben, viel heillose Vornehmigkeit, viel hoffärtige Ueberbildung, viel selbstgenügsame Abgeschlossenheit, die Christo ein Eckel ist. Man kann vielen, in andern Beziehungen oft annehmlichen Christen das Christenthum nicht fein und zierlich genug vorstellen. Vor dem Kreuze des blutenden Jesus, der ein Fluch für uns wurde, wollen sie lauter goldene Aepfel in silbernen Schalen aufgestellt haben, sonst geben sie sich nicht zufrieden, und schelten auf Die, welche, vorübergehend an ihren Goldäpfeln, nur einfach fragen: wo ist das Blut Jesu Christi, das uns rein macht von unsern Sünden? Sie wollen vornehme Christen in der Welt seyn, und den Ehebruch der Welt mit der Hochzeitfreude Jesu vereinigen. Wenn ihnen aber das Reich Gottes in unscheinbarer Gestalt des Kreuzes, der Geistesarmuth, des Entsagens, in der Hülle der Geringsten Christi entgegentritt: dann fahren sie schnell darüber hin, werden oft unversehens eiskalt und herbe, und finden keine Anknüpfungspunkte zur Liebe und Geisteseinigkeit, wo es deren so viele gäbe. Daher haben wir, im irdischen Sinne dieses Wortes, so viele vornehme, überstarke Christen, die sich in ihrem Reichthum, in ihrem Amt und übrigen Ansehen, in ihren Talenten und Kenntnissen, in ihrer Bildung und Weltehrbarkeit so weit und hochmüthig von der armen Heerde Christi entfernt halten, ihr wenig helfen und nütze sind, und einen Unterschied, - ich möchte sagen: einen heidnischen Kastengeist unterhalten, der vor Christo ein Greuel ist, sintemal bei Ihm geschrieben steht: Alles und in Allen Christus. (Col. 3, 11.)
Dieß Alles kommt blos von der Weltliebe und Selbstgefälligkeit her, und wird am Tage der Offenbarung wie Schnee vor der Sonne zerfließen. O wie schlecht wird das vornehme Christenthum vor den Flammen des Richterthrones sich ausnehmen, vor welchem die Nationen „wie Heuschrecken sind, und wo Jeglicher gerichtet wird nach seinen verborgenen Herzensgedanken!“
Paulus ermahnt uns in der Gnadenzeit: „Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen, und nicht Gefallen haben an uns selbst. Es stelle sich aber ein Jeglicher also, daß er seinem Nächsten gefalle zur Besserung. Denn Christus hatte auch nicht Gefallen an sich selbst, sondern es steht geschrieben von Ihm: die Schmähungen derer, die mich schmähen, sind auf mich gefallen.“ - In welchen rohen Umgebungen, in welchen herzangreifenden Volkskreisen hat sich der Heiland um unsertwillen bewegt! Wie vielfach und wie lange ist Er mit armen, sündigen, oft wenig gelehrigen Seelen demüthig umgegangen, um sie für Sein ewiges Reich zu gewinnen, und hat darüber blos Hohn und Lästerungen der Welt zum Lohn gehabt! Er, der die Geheimnisse Gottes und alle Schätze der Weisheit im Busen trug, und den Armen das Evangelium predigte, hat sich nicht darum zu Barrabas Seite, zum schmähenden Geschrei des blinden Weltvolks und zur Kreuzesschmach Golgatha's erniedriget, daß wir nun vor Seinem Kreuze uns mit irdischen Kraftäußerungen und Bildungsirrwischen brüsten, und darüber gegen Sein ächtes Volk vornehm thun, - sondern daß wir im Geschwistergeiste mit Allen zusammenfließen, die irgend in Ihm sind, und ihnen mit demüthiger, mitleidiger, geduldiger Liebe Handreichung thun zum ewigen Leben, - dorthin, wo mancher Taglöhner einen Gelehrten richten wird. Denn wie mancher hienieden unscheinbare Christ hat einen heiligeren Lebenskern in sich, als hundert Gebildete! An diesem Kern aber, auf welchen Gottes Ange sieht, geht derjenige vorüber, der zunächst auf schöne Formen und Ausdrücke sieht. Verachten wir diejenigen, welche sagen: „das Kleid macht den Mann,“ so lasset uns noch vielmehr auch denjenigen Sinn durch Gottes Gnade verwerfen, der das ächte Christenthum mit dem Maaßstabe der zeitlichen Bildung mißt. Denn Talent und Bildung sind lediglich das Kleid eines Geistes, nicht er selbst; sie gehören nicht zu dem Innern des Herzens, welches der Herr ansiehet. Lasset uns an Höheren und Geringeren stets Das genauer ansehen, was Er, der Heilige, würdiget, das Herz und die Herzensliebe zu Ihm: dann werden wir mit unserem Fünklein Christenthums nicht nach dem Ansehen der Person richten, unser Wissen und Wirken nicht elendig erheben, - nein, dann werden die Unterscheidungen der Welt wegfallen, und es wird ein seliger Schritt zur Einigkeit auch mit den geringsten Christen gethan werden, wobei es heißt:
Herz und Herz vereint zusammen,
Sucht in Gottes Herzen Ruh;
Lasset eure Liebesflammen
Lodern auf den Heiland zu!
II.
Es gibt jedoch eine weitere Hemmung der Geistesgemeinschaft, ein Hinderniß, das nicht sowohl auf überschätzter Naturkraft, als auf Ueberschätzung des Gnadenstandes und des geistlichen Alters besteht. In den Reichen dieser Welt gehen gewöhnlich die Aelteren den Jüngeren im Amte vor; nicht so im Reiche Gottes. Es kann aber einem Christen, der Jahrzehende in den Wegen des Herrn gelaufen ist, leicht beigehen, daß er auf jüngere Christen heimlich herabsieht und eine Vormundschaft über dieselben sich anmaßt. So blickte einst der ältere Bruder den verlorenen, wiedergewonnenen Bruder an; so rechneten jene Arbeiter, welche den ganzen Tag im Weinberge gearbeitet hatten, gegen die später Berufenen, und murreten darüber, daß diese den gleichen Lohn empfangen sollten. Es mag, weil ein Mensch selten von Einseitigkeit frei ist, leichtlich geschehen, daß solche ältere Christen ihre Denkweise und Glaubensform für die allein ächte halten, und mit einer argwöhnischen Verschlossenheit, wenigstens mit Gleichgiltigkeit jüngere Kinder Gottes behandeln, die vielleicht in freieren Formen erwachsen sind, und ebendarum sich in äußeren Beziehungen selbstständiger bewegen. Dadurch geschieht der heiligsten Aufgabe: „ein Herz und eine Seele,“ unendlich viel Abbruch, und das Wörtlein: „ich kann nicht!“ wird gar vielfach angewandt, wo die beleidigte Eigenliebe sich beugen und sagen sollte: „ich will nicht!“ - So war es einst bei vielen Judenchristen gegenüber von den Heidenchristen, wie Paulus dieses in unserem Text andeutet. Die ersteren meinten, als ursprüngliche Glieder des Volkes Gottes, meist einen Vorzug vor den letzteren zu haben, und wollten ihnen sehr oft die engeren Formen des mosaischen Ceremonialgesetzes aufnöthigen. Paulus aber verbietet dieses nach der weitherzigen Freiheit, die in Christo ist, und bezeugt es, daß dem älter berufenen Juden kein Recht zustehe, sich über den später erleuchteten Heidenchristen zu erheben. „Jesus Christus - sagt er - war ein Diener der Beschneidung, nämlich des Volks Israel, um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, - damit die seinen Erzvätern gegebene Verheißung des Messias allernächst an ihm bestätiget würde;“ daher gründet sich der Glaube der älteren Judenchristen auf die freie, seinen Urvätern verliehene Verheißung. Der Glaube der Heidenchristen aber entsproßt aus der freien Barmherzigkeit Gottes, welcher sie zwar später, aber auch nach Verheißungen des alten Bundes, zur Gemeinde des neuen Bundes berief, und ihnen, gleich den Christen aus Israel, die gleichen Rechte des ewigen Testamentes verlieh. Daher - will Paulus sagen - haben die Christen Israels und der Heidenwelt einander lediglich nichts vorzuwerfen und, keinerlei Grund zur Entzweiung, denn sie leben ja Beide von der freien Barmherzigkeit; - beides, die dem Abraham gegebene ältere Verheißung, und die neuere Berufung der Heiden, ist lautere Barmherzigkeit von dem Gott, welchem Niemand etwas zuvorgegeben hat, daß es ihm müßte vergolten werden. - So lebet denn, - sagt der Apostel, - in einem Geiste und mit einerlei Bekenntniß von dieser Erbarmensfülle, und lobet einmüthiglich und mit einem Munde Gott und den Vater unseres Herrn Jesu Christi! -
Das ist uns Allen gesagt, so Viele von uns Christum erkennen, sey dieses nun seit Jahren oder seit gestern der Fall. Barmherzigkeit ist der Grund unseres neuen Lebens, seyen wir nun in der Taufgnade erwachsen oder erst später aus schweren Verirrungen dem Erzhirten zugeführt. Auf diesem Grunde blühet die wahre Einigkeit im Geiste, sonst nirgends. - Alter, erfahrener Christ! vergegenwärtige dir fleißig die Zeit, da Christus unter Bußthränen eine Gestalt in dir gewann; vergiß nicht die Jahre, darin das göttliche Erbarmen dich Tag für Tag mit zahllosen Schwächen deiner Seele getragen hat! Lebst du täglich von der lauteren Gnadenquelle des Herrn: nun ja, so siehe nicht als Judenchrist die nachgeborenen Kinder Gottes gleich Heidenchristen mißliebig an, sondern freu dich, daß auch sie dem Herrn geboren sind, wie der Thau aus der Morgenröthe! Verachte keins unter ihnen ob seinen Schwachheiten, sondern bedenke stets, wie Jesus Christus, der König der Ewigkeit, dich träget. In Vergleichung mit Ihm, dem Erstgeborenen, bist du doch jedenfalls eine unzeitige Geburt, und wie wohl kommt dir's, wenn Er, der Heilige, Sein großes Herz dir erschließt, wenn von Seinem Gnadenthrone dir freie Huld und Barmherzigkeit herabfließt! Glaubest du nicht, du werdest Ihm um so ähnlicher und werther seyn, je zärter und demüthiger du auch den jüngeren Erlösten dein Herz eröffnest, je geduldiger du ihre Schwachheiten erträgst, je leutseliger sie von dir sich angefaßt sehen? Denkest du nicht, ein harmloses, kindliches Zusammenfließen mit ihnen werde dem Heilande, - der einst den fragenden Jüngling sogleich ansah und liebete, theurer seyn, als wenn du auf selbsterwählte Höhen ferne von ihnen trittst, und dein geistliches Gewand mit einem Flittersaume des Papstthums verbrämst? Siehe auf Jesum, der auch den glimmenden Docht nicht ausgelöscht, das zerstoßene Rohr nicht zerbrochen hat. O wie viel barmherzige Liebe gegen die Aermsten liegt in diesem Worte! -
Du aber, jüngerer Christ, dessen Geistesgeburt vielleicht in freieren Formen geschah, verachte darum nicht die älteren Jünger des Herrn, und blase dich nicht auf als ein Neuling, der oft einen phantastischen Einfall, wenn er glänzt, über die schmucklose, aber tiefere Erfahrung der bewährten Christen erhebt, und manchmal von einem Anbau an's Allerheiligste des Tempels träumet, während er im Vorhofe noch nicht gründlich daheim ist! Lebe mit den älteren Christen in bescheidener Liebe, weislich und ehrerbietig, und schlage deinen Most nicht voreilig höher an, als den alten Wein, von welchem Christus sagt: „er ist milder.“ Bedenke das Wort, „daß bei den Alten Weisheit ist;“ auch befolge den göttlichen Befehl: „vor einem grauen, - namentlich im Dienste des Herrn ergrauten - Haupte sollst du aufstehen!“ - Ja, wenn der ältere Christ sich als ein Kind erniedriget, und der jüngere Christ bescheiden von den Aelteren als von Männern zu lernen begehrt, dann werden sich Beide desto leichter vereinigen zur einmüthigen, brünstigen Liebe in Christo Jesu, der als dreißigjähriger Mann den Alten und Jungen auf Erden gepredigt hat, ohne zu fragen, wie alt ein Mensch hienieden war; - wer will aber nun Seines Lebens Länge ausreden?
III.
Nicht weniger jedoch, als das bisherige Hinderniß, steht bei manchen Christen die allzugroße Freiheit in den Mitteldingen, in zweifelhaften Lebensgenüssen, der Geisteseintracht entgegen. Paulus redet hierüber weitläufiger zu der Römergemeinde, und zwar nach den damaligen Umständen über den Gebrauch, Opferfleisch von heidnischen Altären zu essen, worüber sich strengere Christen, die eine gänzliche Absonderung vom heidnischen Wesen verlangten, ärgerten. Wie viel solches Opferfleisches - um im Bilde zu reden - wird von unsern heutigen Christen zum Aergerniß ihrer Brüder gegessen! Der Apostel aber schreibt selbst von gleichgiltigen Dingen: ich habe es Alles Macht, aber es frommet nicht Alles; ich habe es Alles Macht, aber es bessert nicht Alles. (1. Cor. 10, 23.) Ist es die Aufgabe der Christen, sich also zu benehmen, daß Jeglicher dem Andern gefalle zur Besserung, so haben wir auch in Absicht auf irdische Vergnügungen, Gebräuche und Gesellschaften alles Dasjenige mit keuschem Ernste zu vermeiden, was ernsteren, wenn auch im einzelnen Fall engeren Seelen zur Entfremdung oder gar zum Anstoß gereichen kann. Sehr oft wird in diesen Beziehungen das Vertrauen und die Liebe gekränkt; vielfach kommen dadurch mancherlei Seelen weit auseinander, die sich zum ewigen Segen umfassen könnten, wenn der eine Theil sich demüthiger Dessen enthielte, was seinen Genossen als ungöttlich, als zu starke Hingebung an das Wesen dieser Welt erscheint. Wir können hiebei, ohne auf das Einzelne näher einzugehen, dasjenige, was der Gemeinde an ihren Seelsorgern mißfallen würde, wofern sie es trieben, auch bei Laien für ungeistlich und ungöttlich erklären, weil kein Grund gedacht werden kann, warum es für Geistliche und Zuhörer ein besonderes Christenthum geben soll. Noch schärfer wird jedoch die Gränze zu ziehen seyn, wenn wir bei der reiferen Jugend und bei den Erwachsenen solcherlei Dinge erwägen, die uns am Bilde Jesu Christi und Seiner Apostel als eine Befleckung erscheinen würden. Sind wir nicht allesamt berufen, gesinnet zu seyn, wie Jesus Christus auch war? Ist Gottes erlöstem Volke nicht die Freiheit erworben, in dieser Welt zu seyn, wie Christus war? Sollte es eine unnatürliche Aufgabe für Diejenigen seyn, die Er vom eiteln Wandel nach väterlicher Weise befreien wollte, wenn ihnen zugerufen wird: verkündiget als ein priesterliches Geschlecht, als ein Volk des Eigenthums die Tugenden Dessen, Der euch aus der Finsterniß zu Seinem wunderbaren Lichte berufen hat? O nein, es gibt, streng genommen, keine Mitteldinge, die der weltliche Sinn immer so scharf in Schutz zu nehmen pflegt! Menschenfurcht, Menschengefälligkeit und heimliche Eitelkeit begründen jene verdächtige Vermengung christlicher Reinheit mit jenem zweideutigen Zwittergeschöpf, das man mit dem Namen von Mitteldingen zu bezeichnen für gut gefunden hat. Schafft, wie uns geboten ist, jeglicher Christ seine Seligkeit „mit Furcht und Zittern,“, sucht jedes erlöste Herz dasjenige, was es immer thut, im Namen Jesu zu thun: dann wird jener gefährliche Freibrief für Weltvergnügungen, wo Freude und Sünde, Licht und Finsterniß so nahe zusammengränzen, zerrissen werden; - denn wie stimmet Christus mit Belial und das Licht mit der Finsterniß? Es wäre traurig, wenn der Tempel Christi so nah an die Götzenhäuser Baals angebauet wäre, - da wir doch aus den jenseitigen Schicksalen wissen können (Luc. 16), daß zwischen beiden eine unübersteigliche Kluft befestigt ist.
Nein, Geliebte, wahre Einigkeit im Geiste kann nur bestehen, wenn Jeglicher in seinem Theile streng vermeidet, was andere Herzen befremden und ihr Vertrauen lähmen kann. O wie viel gehört dazu, „vorsichtiglich zu wandeln,“ wozu Paulus ermahnt, und überall „ein guter Geruch Christi“ zu seyn! Es ist unendlich besser, du entziehest dich einem Lebensgenusse, der dir in einer unbewachten Stunde erlaubt scheint, als daß darüber ein Bruder oder eine Schwester sich betrüben, daß du, gleich Ruben, leichtsinnig wie Wasser dahinfährst. „Aergere Keinen, für welchen Christus gestorben ist, namentlich Keinen, der lebendig, ob auch in Schwachheit, an Ihn glaubt!“ Dieß ist die apostolische Richtschnur, deren Befolgung ungemein viel zum Frieden beiträgt. Solche Mäßigung bringt weit süßere Früchte, als das immerwährende Ausdehnen der christlichen Freiheit, wobei man bald auf Dieses, bald auf Jenes verfällt, was bei himmelangewandten Gemüther nur einen widrigen, erkältenden Eindruck zurückläßt. Von Solchen aber, die ihre sogenannte evangelische Freiheit auf so vielerlei eitle Nebendinge erstrecken, sagt ein alter Gottesmann: sie seyen einem Wanderer gleich, der von dem wohlgebahnten Wege sich an's Ufer eines Stroms hinausbegebe, und immerfort frage: reicht's nicht noch weiter hinaus? - bis er endlich hineinfalle und ertrinke. Wollen wir nach dem Sinne Gottes wandeln und dadurch die Eintracht des Geistes mit den edelsten Nachfolgern des Herrn erhalten, so gilt uns das alte Liedeswort:
Liebe und übe, was Jesus dich lehret,
Und was Er dir saget, dasselbige thu!
Lasse und hasse, was Er dir verwehret,
So findest du Frieden und selige Ruh'.
Ja, selig, die also sich Jesu ergeben,
Und treu nach dem Worte des Heiligen leben!
IV.
Zum Schluß füge ich noch einen Punkt hinzu, - die falsche, auf bloßer Einbildung ruhende Glaubensreinigkeit, wozu namentlich unsere Zeit einige Veranlassung gibt.
Wo das Wort von der ewigen Liebe Gottes in Christo Jesu, das Wort von der durch Christi Blut gestifteten Versöhnung der Sünder wahrhaft getrieben und beachtet wird, da werden alle Geister, die aus der Wahrheit sind, auch einträchtig zusammenhalten; denn das Blut Jesu Christi, nämlich die Lehre von der freien Gnade Gottes in dem gekreuzigten Christus, ist der Mittelpunkt der Schrift. Leute, die kindlich ihre Seligkeit in Christo dem Gekreuzigten suchen, können sich so wenig wesentlich zertrennen, als Christus zertrennt werden kann. Wir behaupten damit nicht, daß die irdische Kirche des Herrn von allen Mängeln befreit sey; darum gehet die Forschung der Lehrer und die Erbauung der Kirche stets ihren wachsthümlichen Gang. Es hat jedoch zu mancherlei Zeiten Leute gegeben, die ohne dankbare Beachtung der in unserer Kirche unläugbar enthaltenen Grundwahrheit, bald diesen, bald jenen Nebenpunkt herausgreifen, um es darzuthun, daß die evangelische Kirche falsch lehre und von der wesentlichen Richtschnur des göttlichen Wortes abgewichen sey. So wiederholen sich bei uns die alten Auftritte, daß der Eine sagt: ich bin Paulisch, der Andere: ich bin Kephisch, der Dritte: ich bin Apollisch, - der Vierte: ich bin Christisch. Es ist manchen Seelen nicht wohl, in der Demuth selig zu werden; sie wollen vorher rumoren und hochmüthig seyn, dann meinen sie seliger zu werden. Solcherlei Geister werden von jenem alten Worte Gottes gerichtet: Die Weisheit von oben lässet sich sagen (Jac. 3, 17.). Sie aber bestehen blos dadurch, daß sie sich nichts sagen lassen, sich der gründlicheren Belehrung verschließen, und so vereinzelt hinwandeln, um ihren Sinn um jeglichen Preis durchzusetzen. Dieß ist der Sekten- und Separatistengeist. Solcher Geist macht Nebendinge zur Hauptsache, und läßt die Hauptsache beiseits liegen, zum Zeichen, daß er dermaleins durch sich selber gerichtet werden muß. - Was sagen wir dazu? - Das sagen wir: Würde das Eine, was Noth ist, in unserer Kirche verschwiegen, - würde der Glaube an den Sohn des lebendigen Gottes, dieser Felsengrund der Gemeinde, untergraben; würde der Glaube an die versöhnende Kraft des Blutes Christi, der Glaube an die göttliche Gnadenwirkung des Heiligen Geistes, - der Glaube an die Nothwendigkeit einer Wiedergeburt und Bekehrung in unserer Kirche geläugnet: dann wäre wohl ein Grund zur Scheidung da. Dieß aber ist, Gott Lob! in unserer Kirche noch nicht geschehen; unsere Grundpfeiler des Tempels stehen noch, und von oben blickt der helle Morgenstern herein. Das Wort Gottes wird frei geprediget, und die Sakramente werden einfach verwaltet. Wenn nun bei solchen reichlichen Heilsmitteln, wobei Tausende unserer Vorfahren selig und heilig geworden sind, sich dennoch einzelne Geister von der Kirche widrigen Blickes hinwegwenden, so ist dieses, offen gesagt, entweder Unwissenheit oder Uebermuth. O man hat uns noch lange nicht zum Scheiterhaufen geführt, noch in die böhmischen Wälder vertrieben! Es gibt in neuerer Zeit Märtyrer, die blos aus Uebermuth und Engherzigkeit keine Ruhe haben, bis sie irgend etwas, das wie Märtyrthum aussieht, wider sich herausgepreßt haben. So lange du in der Kirche dich ruhig bekehren darfst, so lange neige dich demüthig zum christlichen Gleichgewicht, damit du ein Salz der Erde und ein friedsamer Bürger seyest! Das übrige ist unverdungene Arbeit. Wir bedürfen wohl Manches in kirchlichen Dingen, was besser seyn sollte; aber die Hauptsache, die Erbauung im Herrn in Kirche und Haus, ist uns gelassen. Wir bedürfen zehenfach einer Verbesserung unserer kirchlichen Bücher und Einrichtungen, welche der Herr gebe; tausendfach aber thut uns Noth die demüthige, barmherzige Liebe, die ohne eitle Nebenfragen sich in dem Einen zusammenfindet, das Noth ist: in der Liebe zu Christo, dem Vielgepredigten, und im Halten Seines höchsten Gebots: daß wir uns unter einander lieben. -
O wer beherzigt genug den Segen der vollherzigen Christeneintracht, jenen Segen einmüthiger Lehren und Gebete in Ihm, der Sein Erlösungswerk am Abend vor Seinem Tode mit keinem größeren Gebete zu krönen wußte, als mit diesem: daß sie Alle Eines seyen, gleichwie Du, Vater, und ich Eines sind! - Je näher wir diesem Gebete uns im Werke annähern, desto heller wird Christi Bild leuchtend in unserem Antlitz und Wandel hervorbrechen. Anders nicht. Lasset uns im Lichte des Hohenpriesterthums Christi einander für die Ewigkeit umfassen! Dahin stehet das Herz unseres Erlösers, nirgend anderswohin.
Daß Deren Viele werden, die also gesinnet sind und ihre Gesinnungen durch die That beweisen, - und daß Dein erlöstes Volk, welchem Du alle Scheidewände durch Dein Kreuz zerbrochen hast, in der Kraft Deines Heiligen Geistes ein Herz und eine Seele, - ein Abbild Deiner himmlischen, triumphirenden Kirche werde: Das hilf, o Jesus Christus, kraft Deiner hohenpriesterlichen Rechte und Fürbitte zur Rechten Deines ewigen Vaters, der uns das Wort gegeben hat: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott, und Gott in ihm! Amen.
Quelle: Schmid, D. Christian Friedrich - Zeugnisse evangelischer Wahrheit, Band 1