Kleinschmidt, Friedrich Emanuel - Der Brief an die Römer - Röm. 2, 12-3, 8.
Der Apostel hatte darauf hingewiesen (Kap. 2, 1-11), dass Gott den Heiden, die von Herzensgrunde nach Seligkeit trachten, und dieselbe durch einen heiligen Wandel zu erlangen suchen, sie auch werde zuteilwerden lassen, dagegen würden die Juden, wenn sie durch Sündigen Gott gleichsam herausforderten, nur um so schwerere Strafe erdulden. Dies begründet er nun näher. Welche ohne Gesetz gesündigt haben (V. 12), nämlich die Heiden, werden auch ohne Gesetz verloren gehen. Das Gesetz Mosis haben sie nicht, ihre Verantwortlichkeit ist also keine so große, aber da sie doch sündigen, so müssen sie gestraft werden, wenn auch ihr Verlorengehen ein weniger hartes, ihre Strafe eine weniger strenge ist. Welche aber unter dem Gesetz stehend gesündigt haben, die werden auch durch das Gesetz verurteilt werden, gemäß der größeren Verantwortlichkeit, die ihnen ihre Kenntnis des Gesetzes auferlegte. Die Worte entsprechen ganz dem Ausspruch Jesu: Der Knecht, der seines Herrn Willen weiß, und hat sich nicht bereitet, und nicht nach seinem Willen getan, der wird viele Streiche leiden müssen; der es aber nicht weiß, hat jedoch getan, das der Streiche wert ist, wird wenig Streiche leiden. Denn welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, und welchem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern (Luk. 12, 47. 48). Dass dem also ist, der Gerechtigkeit Gottes gemäß, begründet der Apostel weiter, indem er spricht: Denn nicht die das Gesetz hören, sind gerecht vor Gott, sondern die das Gesetz tun, werden gerechtfertigt werden. Man beachte, wie genau sich der Apostel ausdrückt; er sagt nicht, dass diejenigen, die im Tun des Gesetzes begriffen sind, auch dadurch gerecht sind, denn sie haben ja noch nicht das ganze Gesetz gehalten, werden auch nie dazu kommen, aber um ihrer Herzensgesinnung willen, weil es ihnen so redlich darum zu tun ist, das Gesetz zu halten, wie das z. B. beim Hauptmann Cornelius der Fall war, werden sie gerechtfertigt, d. h. für gerecht erklärt werden, obgleich sie es nicht sind. Wie nun die Heiden dazu kommen, nach der Heiligung, d. h. nach dem Halten des Gesetzes zu trachten, das erklärt nun der Apostel (V. 14), denn sie wissen von Natur etwas vom Gesetz, was sie eben dadurch beweisen, dass sie das Gesetz zu halten suchen. Das Gesetz Moses haben sie nicht, da sie aber von Natur das Gesetz tun, so sind sie ihnen selbst ein Gesetz, sie müssen es, ohne dass ihnen Gott von außen ein Gesetz gegeben hat, wie seinem Volk Israel vom Sinai herab, doch auf irgendeine Weise haben. Sie haben es aber in ihrem Herzen; dadurch, dass sie es halten, beweisen sie (V. 15), des Gesetzes Werk sei beschrieben in ihren Herzen; wenn sie nämlich zwischen guten und bösen Handlungen zu wählen haben, so sagt ihnen ihr Herz, welches die gute und welches die böse sei, dazu (zugleich) bezeugt es auch ihr Gewissen, indem es ihnen bei der Wahl des Guten sein Wohlgefallen, bei der Wahl des Schlechten sein Missfallen ausdrückt. Da nun Paulus davon gesprochen hat, dass die Heiden, die redlich nach dem Guten trachten, werden gerechtfertigt werden (V. 13), so bezieht er nun dies ganze Zeugnis des Gewissens auf den Tag des Gerichts, an dem diese Rechtfertigung (oder Sündenvergebung) stattfinden wird; sie beweisen, sagt er, dass das Gesetz in ihr Herz geschrieben ist, indem auch die Gedanken sich untereinander verklagen und entschuldigen (dereinst) am Tage des Gerichts, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesum Christum richten wird nach meinem Evangelium (V. 16). Am Tage des Gerichts also, wenn Gott die Welt richten wird durch Jesum Christum, wird das Gewissen in den Herzen der Heiden sich regen, die vor dem Richterstuhl stehen, einige ihrer Handlungen wird es verdammen, andre wird es verteidigen oder beloben, so dass keiner imstande sein wird, sich für gerecht zu erklären, was nur geschehen könnte, wenn das Gewissen alle Handlungen und alle Gedanken belobte. Gott wird aber das Verborgene der Herzen, den innersten Grund derselben richten, und danach rechtfertigen, d. h. die Sünde erlassen, oder die Sünde behalten, d. h. verdammen. Er wird das tun, sagt Paulus, nach meinem Evangelium, d. h. wie die meisten erklären, laut meines Evangeliums. Da aber die Predigt des Gerichts oder der Verdammnis, wohl eine Predigt der Buße, aber kaum eine Predigt des Evangeliums genannt werden kann (vergl. 2 Kor. 3, 9), man müsste denn die Beseitigung der Feindschaft der Ungläubigen so nennen, 2 Thess. 1, 6, so ist vielleicht eine andere Übersetzung richtiger: nach meinem Evangelium, d. h. durch mein Evangelium, wie dasselbe Wort des Grundtextes Röm. 16, 25 am einfachsten übersetzt wird: Dem, der euch stärken kann durch mein Evangelium. Die Meinung wäre dann, dass Jesus am Tage des Gerichts die Welt richten wird durch die Vorhaltung seines Evangeliums, d. h. nach ihrer Stellung zu demselben und zu ihm, was doch recht sehr stimmt mit dem, was wir Joh. 3, 19-21; Matthäi 25, 31-46 lesen. Jedenfalls haben wir hier einen deutlichen Ausspruch, der eine Rechtfertigung, d. h. Vergebung der Sünden (V. 13) bezeugt am Tage des Gerichtes, d. h. bei vielen nach dem Tode. Nun fährt der Apostel fort zu zeigen, dass, so wenig das bloße Judentum selig macht, so auch nicht das bloße Heidentum verdammt, sondern bei beiden kommt es auf den inneren Zustand des Herzens an, der sich durch den Wandel bewährt. V. 17-20, die man lese, zählen nun einige Vorteile auf, welche die Juden haben können, insofern sie unter dem Gesetz Mosis stehen, wozu besonders gehört, dass sie der Form nach die richtige Erkenntnis und die Wahrheit haben (V. 20), worauf sie sich aber auch recht viel einbilden, und fälschlich darauf vertrauen, als ob das sie könnte selig machen. Ungeachtet aller dieser Vorteile treiben sie es aber mit dem Sündigen im Wesentlichen nicht besser als die Heiden, sie lehren andre und lehren sich selbst nicht, wovon V. 20-22 Beispiele angeführt werden. „Dir graut vor den Götzen und raubst Gott, was sein ist“ (V. 22), hat man wohl so zu verstehen, wie wir 1 Sam. 2, 12-17 ein grobes Beispiel davon lesen, wo erzählt wird, dass die Söhne Elis einen Teil des Tempelopfers, das dem Herrn gebührte, gewalttätig an sich rissen. So mochte es wohl auch zur Zeit der Apostel geschehen, dass die Habsucht der Juden manches auf feinere und listigere Weise an sich riss, was dem Tempel und also dem Herrn des Tempels selbst gebührte. Du rühmst dich des Gesetzes, heißt es weiter (V. 23), und schändest Gott durch Übertretung des Gesetzes; statt ihm Ehre einzulegen bei den Heiden, lädst du Schimpf auf seinen Namen, denn eurethalben (V. 24) wird Gottes Name gelästert unter den Heiden, wie denn geschrieben steht, s. Jes. 52, 5, besonders aber, was den Sinn betrifft, Hes. 36, 20: Sie hielten sich wie die Heiden, dahin sie kamen, und entheiligten meinen heiligen Namen, dass man von ihnen sagte: Ist das des Herrn Volk, das aus seinem Lande hat ziehen müssen? Wenn nun von Juden solche Dinge können ausgesagt werden, wie können sie da denken, dass ihr bloßes Judentum sie sollte selig machen, da doch Gott auf das Herz und den daraus hervorgehenden Wandel sieht? Ein Jude, der nicht im Gesetz wandelt, ist wie ein Heide, und ein Heide, der im Gesetz wandelt, ist wie ein Jude (V. 25, 26); ein solcher Heide, der im Halten des Gesetzes einhergeht, wird den richten, in Gottes und der Menschen Augen als einen Sünder darstellen, durch das Beispiel seines Wandels, obgleich der Jude beides äußerlich hat, den geschriebenen Buchstaben des Gesetzes Mosis und die Beschneidung, dem Heiden aber beides fehlt, die Erkenntnis des Gesetzes Mosis und die Beschneidung (V. 27). Denn ein wahrer Jude ist der, welcher es dem Herzen nach ist, und eine wahre Beschneidung ist die Beschneidung des Herzens (5 Mos. 10, 16; Jerem. 4, 4). Der wahre Jude ist nicht an seiner äußeren Stellung und an seinem äußeren Zustand zu erkennen, sondern an dem allerdings den Menschen verborgenen Zustand des Herzens, und die rechte Beschneidung ist eine Beschneidung des Herzens, wodurch nicht bloß dem Buchstaben des Gesetzes Moses genügt wird, sondern es ist eine Beschneidung im Geist, d. h. in Kraft, die das Herz erneuert und in den Stand setzt, Früchte der Heiligung zu tragen. Menschen, die nicht in das Herz sehen, können allerdings eine solche Beschneidung nicht nach Gebühr beurteilen und belohnen; aber umso mehr kann und wird der Gott sie beloben, jetzt und am Tage des Gerichts, der das Verborgene der Menschen richtet (V. 28, 29 vergl. V. 16).
Durch diese Auseinandersetzung scheint der Apostel allen und jeden Vorzug der Juden vor den Heiden vernichtet zu haben; dies zu tun ist auch wirklich, was die Gerechtigkeit vor Gott und die Seligkeit betrifft, seine Absicht; äußere Vorteile spricht er ihnen aber nicht ab, und davon erwähnt er gleich einiges, noch mehr aber Kap. 9, 4. 5. Hier erwähnt er nur (Kap. 3, 1, 2), dass ihnen vertraut ist, was Gott geredet hat. Dies ist ihnen aber vertraut und uns überliefert in den Schriften des Alten Testamentes. Mögen wir noch so vortreffliche Schriften heidnischer Schriftsteller nehmen, was wir darin finden sind höchstens mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Teile des Gesetzes, das Gott in ihre Herzen eingeschrieben hat. Ganz anders ist es mit den Schriften des A. Ts.; da finden wir zum Teil, was Gott mit seinem eigenen Munde gesprochen hat, z. B. was er Mose auf dem Berge Sinai sagte, zum Teil aber die Worte, die sein Geist den Propheten nicht nur ins Herz gegeben hat, sondern von denen er z. B. dem Jeremias sagte: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund (Jer. 1, 9). Darum ist es einem Jünger Jesu eine solche Freude, in den Schriften des A. Ts. zu lesen, weil man festen Boden unter den Füßen fühlt. Bei menschlichen Schriften fragt man sich beständig: Ist denn das auch Wahrheit, was ich eben jetzt lese? Beim A. T. aber wissen wir: Alles ist Wahrheit, was es lehrt und bekennt, die Schrift kann nicht gebrochen werden (Joh. 10, 35). Dass nun das, was Gott geredet hat, den Juden anvertraut ist, das ist nebst manchem anderen ein Vorzug, den die Juden vor allen andern Völkern voraus haben; sie hatten diese Aussprüche Gottes zu verwahren, damit dieselben nicht verloren gingen. Wenn man aber meinen wollte, dieses Anvertrauen dessen, was Gott geredet hat, beweise einen Vorzug der Juden, dem Herzen nach, so irrt man sich. Die Wahrhaftigkeit der Reden Gottes hängt nicht von der Gesinnung und dem Wandel der Menschen ab. Wenn auch etliche Juden nicht geglaubt haben (V. 3) und den Reden Gottes nicht getreulich nachgekommen sind, was liegt daran? Sollte ihr Unglaube und ihre Untreue Gottes Glauben, d. h. seine Zuverlässigkeit und Treue aufheben? Das sei ferne! einem solchen lästerlichen Gedanken darf man gar nicht Raum geben; eher geschehe es, dass Gott wahrhaftig bleibt, und alle Menschen lügen. Gottes Aussprüche, was er geredet hat, wird wahr bleiben, eintreffen, sich als richtig ausweisen, sollten auch alle Menschen, nicht bloß die Juden, zu Lügnern werden (V. 4). Wie denn geschrieben steht (Ps. 51, 6): Auf dass du gerechtfertigt, für gerecht, wahrhaftig erklärt werdest in deinen Worten, und überwindest, wenn du gerichtet wirst; d. h. wenn die Menschen dich falsch beurteilen, deine Worte Lügen strafen, so erweisen sich deine Worte als wahr, und gerade das Wort, dass die Menschen Sünder und Lügner sind. Damit dies Wort sich als Wahrheit erweise, mögen immerhin die Juden, ja selbst alle Menschen lügen. Ist es aber also (V. 5), dass unsere Ungerechtigkeit und Untreue Gottes Gerechtigkeit, Treue und Wahrhaftigkeit verherrlicht (preist), ins rechte Licht stellt, als das, was sie ist, nämlich als etwas Schönes, Herrliches erweiset und herausstreicht, was doch nicht zu leugnen ist, was sollen wir dann sagen? ist dann Gott nicht ungerecht (V. 5), dass er darüber zürnt? (Ich rede also auf Menschenweise, d. h. wie es wohl einmal Menschen tun, die manchmal unbesonnen von Gott reden.) Eine solche Bemerkung lag einem Juden nahe, da ja der Apostel eben ganz richtig auseinandergesetzt hatte, dass durch die Untreue der Juden Gottes Wahrhaftigkeit als solche zu seiner Ehre zum Vorschein komme. Auf eine die scheinbare Schwierigkeit für den Verstand lösende Antwort lässt sich der Apostel gar nicht ein, da ja, mag geschehen was da will, der Tatsache gegenüber ein Handeln Gottes zum Vorschein kommt, das ihn auf eine neue Weise in seiner göttlichen Einzigkeit verherrlicht. Der Apostel bleibt einfach dabei stehen, dass Gott, als der Heilige, jede Sünde straft; wenn das nicht wäre, wie könnte er dann die Welt richten? Wie wird Gott die Welt richten? die Gerechtigkeit belobend, die Sünde verdammend, so dass die Sünde der Welt seine Strafgerechtigkeit verherrlicht. Also weg mit einem solchen Gedanken, dass Gott ungerecht wäre, indem er die Sünde straft. Das sei ferne! wenn ihm das Strafen der Sünde verwehrt wäre, so dürfte er ja auch nicht als Richter der Welt auftreten (V. 6). Ia wenn solche Grundsätze Geltung hätten, dann hätten nicht nur die Juden ein Recht, so zu sprechen, sondern ein jeder Mensch könnte sich die Strafe seiner Sünden verbitten. Denn so die Wahrheit Gottes durch meine Lügen herrlicher wird zu seinem Preise (V. 7), warum sollte dann auch ich noch als ein Sünder gerichtet und verurteilt werden? ich könnte mich ja auch darauf berufen, dass durch meine Sünde irgendeine Seite des göttlichen Tuns verherrlicht wird, dann wäre es ja besser, ich sündigte immer darauf los, damit er noch mehr verherrlicht würde. Man lästerte die Lehre des Apostels Paulus (V. 8), und behauptete, dass er dies wirklich sage, z. B., dass man recht viel sündigen müsse, damit die Gnade Gottes sich umso herrlicher erweise, und Gott also umso mehr geehrt werde (Kap. 5, 20. 21 und Kap. 6, 1). Das käme zum Schluss darauf hinaus, dass man sagte: Lasset uns Übels tun, damit Gutes herauskomme! Solcher Leute, die nach diesem Grundsatz handeln, sagt der Apostel - solcher Leute Verdammnis ist ganz recht, sie werden der verdienten Strafe nicht entgehen.
Der Apostel zeigt uns hier, wie wir mit solchen zu verfahren haben, die mit Hilfe von Verstandesschlüssen die Verantwortung für unsre Sünde zurückzuweisen suchen. Es hilft nicht, wenn man ihnen auf demselben Gebiete entgegentritt, denn ihr Bestreben hat seinen Grund in ihrem Herzen; man muss sich an ihr Gewissen, an das Urteil desselben und an die wohl noch nicht völlig entschwundene Unruhe desselben wenden; wenn man dadurch keinen Eindruck auf sie macht, so ist es vergeblich, sie durch Verstandesgründe zu überzeugen; dadurch ist z. B. der Materialismus nicht zu heilen.