Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 1. Betrachtung
All was mein Tun und Anfang ist,
Gescheh im Namen Jesu Christ,
Der steh' mir bei, wie früh, so spat,
Bis all mein Tun ein Ende hat!
Einen Eingang will ich diese erste, kurze Betrachtung nennen. Ein frommer Kirchenlehrer hat von der heiligen Schrift gesagt, „sie sei wie ein sehr großer, weiter Wald, darinnen viele und allerlei Arten Bäume ständen, davon man könnte mancherlei Obst und Früchte abbrechen. Denn man habe in der Bibel reichen Trost, Lehre, Unterricht, Vermahnung, Warnung, Verheißung, Drohung usw. Kein Baum sei in diesem Walde, daran er nicht geklopft und ein Paar Äpfel oder Birnen davon gebrochen und abgeschüttelt habe.“ Was hier gesagt ist von der ganzen Schrift, das lässt sich ebenfalls von jedem einzelnen Teile derselben, also auch von unserer Epistel an die Kolosser sagen. Sie ist ein kleiner Wald von Fruchtbäumen, daran viel und herrliches Obst für uns hängt. Darum wollen wir hineingehen an der Hand des heiligen Geistes, wollen unter die Bäume treten in diesem Walde, von jeglichem derselben einige Äpfel oder Birnen brechen, und zuletzt, wenn wir ganz hindurchgegangen sind, dem lieben Herrn im Himmel danken für die Fülle der Früchte, die er in unsern Schoß gegeben hat.
Darf ich bei dieser Wanderung euer Führer sein? Ihr müsst nicht denken, dass ich eine hohe Meinung von mir habe und mir einbilde, mehr zu wissen als andere. Es mag wohl mancher unter euch sein, der durch jenen Wald öfter gegangen ist und mehr Kunde von ihm hat als ich. Dennoch biet' ich mich denen zum Führer an, die mich dazu brauchen wollen. Ich tue das nicht auf eigenes Geheiß, sondern auf den Antrieb dessen, der in mir, wie in uns allen mächtig ist. Der Herr, der bei uns ist alle Tage, hat mich so geführt, dass ein Verlangen in mir entstanden ist, das Licht, welches er mir über diesen Teil der Schrift angezündet hat, nicht bloß mir leuchten zu lassen, sondern es aufs Dach zu stellen, dass es auch meinen Brüdern leuchte. Sonderlich aber hab' ich dabei an die große Menge derer gedacht, denen noch der recht lebendige Glaube mangelt, weil sie das Wort Gottes nicht kennen, woraus der Glaube kommt. Und wenn sie lesen wollten in der Schrift: verständen sie auch, was sie läsen? Wie könnten sie, wenn nicht jemand sie anleitete! Ganz besonders gilt das von den Briefen des Apostels Paulus. Ich will in einem zweiten Gleichnisse reden. Ihr wisst, dass unter den vielen Sternen am Himmel etliche sind, die man Planeten oder Wandelsterne nennt. Sie werden von der Sonne, um die sie kreisen, erleuchtet und erwärmt, und haben eine Fülle von Schönheit und Herrlichkeit, die jeden, der sie kennt, zur Bewunderung und zum Lobe Gottes treibt. Aber weil sie ferne von uns stehen, werden sie von wenigen bemerkt, und wer sie bloß mit seinem natürlichen Auge ansieht, der erkennt nicht ihre Herrlichkeit und hält wohl gar von Menschen angezündete Lichter für schöner, als jene Himmelslichter, die von Gott angezündet sind. Also geht es auch mit den Büchern der heiligen Schrift und insbesondere mit den Briefen des Apostels Paulus. Sie alle bewegen sich um Christum, das Licht der Welt, haben ihr Licht von ihm, ihren Glanz und eine Herrlichkeit, die noch weit größer ist als die der Sterne am Himmel. Aber weil sie geschrieben sind zu einer Zeit, die von der unsrigen durch Jahrhunderte geschieden ist, und in einer Sprache, die als die Sprache des heiligen Geistes dem natürlichen Menschen fast unverständlich ist, so lesen viele sie nicht, und die sie lesen, erkennen nicht den Reichtum, der in ihnen verborgen ist. Was soll man nun tun, dass das Verständnis der Schrift den Christen aufgehe? Für die Betrachtung der Sterne hat uns Gott das Fernrohr gegeben, durch welches ihre verborgene Herrlichkeit uns offenbar geworden ist. Wer durch solch ein Fernrohr blickt, kann nicht müde werden, die Wunder Gottes am Himmel zu betrachten, und je länger und genauer er zusteht, desto mehr Wunder entdeckt er. Aber der gnädige Herr im Himmel hat uns auch für die Betrachtung der Sterne in der Schrift ein Fernrohr in die Hand gegeben; das ist die Auslegung, die sein heiliger Geist leitet und wirkt. Nun, Christen, so lasst uns denn zu diesem geistlichen Fernrohr greifen und durch dasselbige jetzt den schönen Stern betrachten, welcher den Namen „Epistel Pauli an die Kolosser“ führt. Ich habe das Fernrohr nicht erfunden; nein, es ist längst da gewesen in der Welt; ich habe alles, was ihr in meinem Buche lest, empfangen von dem Herrn und von den Brüdern, und habe bloß meine Hand dazu hergegeben, aus dem Empfangenen ein kleines Fernrohr zu bereiten, das vielleicht manchem von euch nützen kann.
Lasst euch nun, bevor wir an die Auslegung unserer Epistel gehen, erst einige allgemeine Bemerkungen mitteilen. Als Paulus seinen Brief an die Kolosser schrieb, war er gefangen zu Rom; es war seine erste Gefangenschaft daselbst. Er hatte schon viel zuvor gewirkt im Dienste des Herrn; als dessen Sendbote hatte er große, beschwerliche Reisen durch einen Teil von Asien und Europa gemacht, und überall, wohin er kam, alles mit dem Evangelio erfüllt. Aber die Feinde des Evangeliums stellten ihm nach, und der Herr ließ es zu, dass er gefangen nach Rom geführt wurde, wovon wir das Weitere in den legten Kapiteln der Apostelgeschichte lesen. Da war nun der teure Mann gebunden, indem beständig ein römischer Soldat bei ihm war, mit dem man ihn durch eine Kette am Arm zusammengefesselt hatte. Aber hier erkennen wir wieder die Tiefen der Weisheit und Liebe Gottes. Der Teufel wollte aus den Fesseln des Apostels Hemmketten des Evangeliums schmieden, aber gerade das, was dem Evangelio schaden sollte, musste ihm zum Segen gereichen. Der Apostel, obwohl gefesselt, saß doch nicht in strenger Haft. Er durfte sich eine Wohnung in Rom mieten, und daselbst von seinen Freunden sich besuchen lassen, auch Besuche bei ihnen machen. So fand er vielfache Gelegenheit, die Brüder in Rom zu stärken, und verlorene Seelen, sonderlich aus den Heiden, durch die Verkündigung des Evangelii zu retten. Aber ungleich größeren Segen noch hat er durch die Briefe gestiftet, die er während seiner Gefangenschaft in Rom geschrieben hat. Weil er selbst Rom nicht verlassen durfte, so suchte er die entfernten Gemeinden durch Briefe zu stärken, die er in seinen Banden schrieb, welches teure Kleinod wir vielleicht nicht bekommen hätten, wenn er die Gemeinden persönlich hätte besuchen können. Also weiß der Herr alles zum Besten zu lenken, und selbst in dem Körper eines toten Löwen Honig zu bereiten.
Auch unsere Epistel an die Kolosser haben wir dieser wunderbaren Fügung Gottes zu verdanken. Nebst anderen Freunden kam auch ein gewisser Epaphras, ein Apostel-Schüler, nach Rom, um Paulum zu besuchen. Er erzählte ihm von etlichen christlichen Gemeinden, die er unter des Herrn Beistand gegründet hätte. In der jetzigen astatischen Türkei - früher Kleinasien genannt - lagen in der Landschaft Phrygien drei Städte nahe bei einander, sie hießen: Kolossa, Heliopolis und Laodicea. Daselbst waren von den unter einander wohnenden Juden und Heiden, besonders von den Heiden, durch die Predigt des Epaphras viele bekehrt worden, und bildeten nun drei christliche Nachbar-Gemeinden. Sie und die Örter, die sie bewohnten, sind längst nicht mehr vorhanden. Kolossä namentlich soll schon früh durch ein Erdbeben verwüstet worden sein, und die an der Stätte der Verwüstung wieder erbaute Stadt wurde nicht mehr Kolossä, sondern Chonos genannt. Auch von ihr sind gegenwärtig nur Trümmer vorhanden, die den Wanderer, wenn er an die alten Zeiten zurück denkt, mit tiefer Wehmut erfüllen müssen, zumal da auch der christliche Glaube längst aus jenen Gegenden entwichen ist. Ach, wie liegt das schöne Kleinasien jetzt verödet da, das früher so erfüllt war mit dem Evangelio! Verhüte Gott, dass unser Deutschland nicht einst ein gleiches Schicksal treffe! Es kommt zum größten Teil auf uns an, ob Christus mit seinem teuren Evangelio bei uns bleiben, oder sich von uns wegwenden soll.
Auch auf die früheren Christen in Asien fällt zum größten Teil davon die Schuld, dass der Herr ihre Länder und Städte verlassen hat. Schon Epaphras musste dem Apostel Paulus klagen, dass in jenen neugestifteten Gemeinden sich deutliche Spuren eines verderblichen Unkrauts zeigten, das der Teufel unter den evangelischen Weizen gesät hatte. Die Bewohner Phrygiens, von Natur zu schwärmerischen Verirrungen der Vernunft geneigt, ließen sich leicht hinreißen, wenn ein Irrlehrer aufstand, der durch eine trügerische Weltweisheit und durch rednerische Künste sich ein Ansehen zu verschaffen wusste. Wirklich traten solche Irrlehrer auf und verschafften sich einen Anhang unter den Christen. Diese Schwärmer gaben vor, dass sie einen tieferen Blick in das Geisterreich getan und höhere Offenbarungen darüber empfangen hätten, als andere Leute. Sie wussten viel über die Herkunft, über die Ordnungen, über die Würde der Engel zu reden, die sie wohl gar über Christum stellten und denen sie eine besondere Verehrung bewiesen. Sie traten ferner der evangelischen Freiheit in den Weg, indem sie die Christen zu den alttestamentlichen Satzungen, zur Beschneidung, zu den Reinigungen, Opfern und dergleichen als zu notwendigen Werken der Gerechtigkeit zurückführen wollten. Dazu kam noch ein anderer großer Irrtum, dass sie nämlich glaubten und lehrten, die Sünde habe ihre erste Wurzel nicht im Herzen, sondern sie komme von außen, komme von der Materie, wie sie sagten, ins Herz hinein, daher sie darauf drangen, man solle die Berührung mit der Außenwelt vermeiden, solle seinen Leib kasteien, solle nicht Fleisch essen usw., wo sie nicht gar lehrten, man solle nicht ehelich werden. Das war das böse, wuchernde Unkraut der Irrlehre unter den Kolossern, und war einer der vielen Wege, die das verkehrte Herz des Menschen einschlägt, wenn es seine Weisheit und Gerechtigkeit außer Christo sucht.
Aber auch diese schwarze Gewitterwolke hat der Herr in einen sanften, milden Regen verwandelt, der noch jetzt vieler Tausend Christen Herzen erquickt. Denn alsbald, da der liebe Apostel Paulus von dieser Not der Gemeinden hörte, jammerte ihn der armen Brüder in Phrygien, und flehte nicht nur samt Epaphras in täglichem Gebet den Herrn um Hilfe an, sondern schrieb auch Briefe nach Asien, darin er die Gemeinden zu stärken suchte in ihrem Glauben, Christi göttliche Natur und Versöhnung ihnen predigte, seine, des Apostels Liebe und Eifer auch für die Christen in Phrygien bezeugte, sie vor dem Trug der Irrlehren warnte, und ihnen die rechte Weise des christlichen Lebens zeigte. So ist diese unsere Epistel an die Kolosser entstanden, für deren Erhaltung wir dem treuen Herrn im Himmel nicht genug danken können, da, wenn auch außer den Evangelien sonst keine Schrift im neuen Testamente wäre, als diese einzige Epistel, wir daran allein schon genug hätten, um zu wissen, was wir glauben und tun sollten, um selig zu werden.