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Heliand - 12 - Der Knabe im Tempel

Heliand - 12 - Der Knabe im Tempel

Gen Galiläa schieden da Joseph und Maria,
die heiligen Hausgenossen des Himmelskönigs,
und blieben in Nazareth, wo der Nothelfer Christ
unter dem Volk erwuchs und der Weisheit voll ward,
denn Gottes Gunst war mit ihm. Ihn sahen alle gern,
die Verwandten der Mutter. Andern Männern ungleich
war der Jüngling in seiner Güte.

Da er der Jahre
Zwölfe nun zählte, und die Zeit heran kam,
da zu Jerusalem die Judenleute
all ihrem Gotte opfern wollten
und seinen Willen wirkten, da war in dem Weihtum
zu Jerusalem dort der Juden versammelt
eine mächtige Menge. Da war Maria
ihnen selber gesellt mit ihrem Sohne,
Gottes eigenem Kind. Als sie das Opfer hatten,
das Volk im Tempel, wie das Gesetz befahl,
geleistet nach dem Landesbrauch, die Leute gingen
wieder nach ihrem Willen. Doch im Weihtum verblieb
der selige Sohn des Herrn, obschon ihn die Mutter dort
nicht weilen wußte; sie wähnte, er wäre
mit den Freunden gefahren. Da erfuhr sie nachher,
erst am andern Tage, die edelgeborene,
die selige Jungfrau, bei dem Gesinde sei er nicht.
Da war Marien das Gemüt in Sorgen,
voll Harm ihr Herz, da sie das heilige Kinde
nicht fand bei dem Volke. Viel wehklagte
die Dienerin Gottes. Sie gingen nach Jerusalem
zurück, den Sohn zu suchen; da sahen sie ihn sitzen
inwendig im Weihtum, wo weise Männer,
sehr scharfsinnige, in Gottes Gesetz
lasen und lernten, wie sie Lob ihm sollten
wirken mit Worten, ihm, der die Welt erschuf.
Da saß in ihrer Mitte das mächtige Gotteskind,
Christ, der Allwaltende, erkannten sie gleich ihn nicht,
die des Weihtums dort zu warten hatten.
Er fragte sie beflissentlich
mit weisen Worten; es wunderte sie alle,
wie ein so kindischer Mann so kluge Reden
meldete mit seinem Munde. Die Mutter fand ihn
in der Gesellschaft sitzen, und den Sohn begrüßend,
den Weisen unter den Weisen, wandte sie das Wort an ihn:
„Wie mochtest du der Mutter, Liebster der Menschen,
solche Sorge fügen, daß ich Schmerzhafte,
Armmütige, dich aufsuchen mußte
unter diesem Burggesind?“ Da versetzte der Sohn
mit weisen Worten: „Wie? Du weißt ja doch,
mein Beruf ist dort, wo ich von Rechts wegen soll
willig wohnen: da, wo Gewalt hat
mein mächtiger Vater.“ Die Männer verstanden nicht,
die Weisen im Weihtum, warum er das Wort sprach,
meldete mit dem Munde. Doch Maria behielt
und barg in der Brust, was sie den Gebornen hörte sprechen
mit weisen Worten.

Da wandten sich wieder
von Jerusalem Joseph und Maria,
ihm selber gesellt, dem Sohne des Herrn,
dem Besten aller, die je geboren wurden
einer Mutter auf Erden. Sie hatten Minne zu ihm,
aus lauterm Herzen, zumal er gehorsam war,
er selber, Gottes Sohn, als Gesippter der Sippe,
den Eltern beiden in aller Demut.
Noch wollt' er in der Kindheit nicht seine große Kraft
den Menschen merken lassen, welche Macht er besaß,
Gewalt über diese Welt; er wartete willig
dreißig Jahre demütig unterm Volke,
eh' er irgendein Zeichen zeigen wollte,
dem Gesinde weisen, daß er selber wäre
in diesem Mittelkreis der Menschen Herr.
So hielt verhohlen das heilige Gotteskind
Wort und Weisheit und das höchste Wissen,
sehr spähen Sinn. An seinem Gespräche ward man nicht,
an seinen Worten gewahr, daß er solch Wissen hatte,
solche Gedanken. Demütig harrt' er
glänzender Zeichen. Noch war ihm die Zeit nicht gekommen,
auf dieser Erde sich zu offenbaren,
die Leute zu lehren, nicht vom Glauben zu lassen
und Gottes Willen zu wirken. Wußten es auch manche
der Leute im Lande, daß er an dies Licht war gekommen,
so konnten sie ihn kundlich doch nicht erkennen,
eh' er es ihnen selber sagen wollte.

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