Harms, Claus - Am vierten Sonntag nach Epiphanias 1835.

Harms, Claus - Am vierten Sonntag nach Epiphanias 1835.

Ges. 758, 1-7. So jemand spricht: ich liebe Gott.

Damit es auch nicht Einem hier als eine Umkehr eben vor dem christlichen Ausdruck erscheine, wenn wir an dieser Stelle den Gesang abbrechen, so werde der achte Vers und auch der neunte von der Canzel herab gesagt, ich meine, in dieser Weise gar nicht schwächer:

Gott hat durch seinen eignen Sohn
Uns alle retten lassen,
Nun sollten wir, dem Fluch entflohn,
Uns selbst einander hassen?
Einander martern, ach aus Neid,
Aus Habsucht, Stolz und Eitelkeit?

Du, Gott, vergiebst mir jede Schuld,
Schenkst mir so viele Gaben,
Und ich, ich sollte nicht Geduld
Mit meinem Bruder haben?
Ihm nicht verzeihn, wie du vergiebst,
Und ihn nicht lieben, wie du liebst?

Wie Gott liebet. Das Wie geht auf die Weise; daß wir eben sowohl lieben sollen, geht aber auf das Maaß nicht; denn des Menschen Herz ist nicht das Herz Gottes, welcher in seinem nicht allein Raum für alle seine Werke hat, - Gott ist die Liebe - sondern der in seinem auch nichts zu bekämpfen hat, die wir dessen so viel in unserm haben. Gott ist eben die Liebe! 1. Joh. 4. Wenn es bei uns natürlich wäre, von selbst käme und hörte niemals wieder auf, daß wir den Nächsten liebten, dann würde es nimmer ein Gebot geworden sein, so wenig wie Essen und Trinken, dann würde dies Gebot nicht so vielmal wiederholt worden sein und eingeschärft, dann würden nach Anordnungen von Altersher nicht so vielen Predigten zu ihrem Text Bibelstellen, darin von der Liebe steht, gegeben worden sein, noch würden wir so viele Gesänge dieses Inhalts bekommen haben. Es geht hieraus manches Andere auch hervor, aber dies am klarsten: Bei uns, in unsern Herzen, muß es, was die Nächstenliebe betrifft, nicht gefunden werden, wie es sein sollte, und muß die Liebe den Raum nicht haben, der ihr zukommt und die Wirksamkeit nicht zeigen, die begehret wird. Ob diejenigen auch Recht haben, die von dem gegenwärtigen Menschengeschlecht behaupten, es stehe den frühern Geschlechtern in der Menschenliebe nach, weit nach, ja, wenn es mit der Abnahme so fortginge, so würde mit dem nächstfolgenden Geschlecht alles, was Liebe heißen kann, völlig erloschen sein? Lassen wir es, theure Zuhörer, so trübe vor unsern Blick nicht werden. Den Augenschein stellen wir nicht in Abrede, ja, es läßt sich in der That darnach an; doch so lange Christenthum noch vorhanden sein wird, wird auch die Liebe uns so gänzlich nicht verlassen, wie von der Gerechtigkeit ein heidnischer Dichter zu seiner Zeit gesagt hat, daß sie die Erde verlassen hätte und in den Himmel geflogen sei. Nein, Brüder, das wollen wir von der Liebe nicht fürchten, vielmehr, da das Christenthum augenscheinlich mehr Leben wieder gewinnt zu unserer Zeit, wollen wir der Hoffnung Raum geben, daß mit der christlichen Religion zugleich die christliche Liebe wachse, und wollen unsre Predigten über sie halten, hören, wie sie die jedesmalige Sonntagsepistel begehret.

Röm. 13, 8-10. Seid Niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander liebet; denn wer den Andern liebet, der hat das Gesetz erfüllet. Denn das da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht tödten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis, geben; dich soll nichts gelüsten; und so ein ander Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort verfasset: Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst. Die Liebe thut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

Das ist die Epistel dieses Sonntags, des vierten nach der Erscheinung Christi; vom ersten an sind die Episteln gewählt aus Röm. 12 in einer Reihe fort bis zu des Capitels Ende. Darnach sind von dem folgenden 13. Capitel die ersten sieben Verse übergangen worden, dann fängt die heutige Epistel an. Was mag der Grund von diesem Uebergehen gewesen sein? Gewiß nicht, weil das Uebergangene sich zu einem Predigttext nicht eigne. O, wohl thut es das! Was Christen von der Obrigkeit zu halten haben und wie Christen sich gegen sie zu verhalten haben, das ist heilsam zu vernehmen und besonders in unsrer Zeit; es wird auch schon seine Predigt im Lauf des Jahres bekommen. Aber das wird es gewesen sein, daß diese Verse übergangen sind, weil der Gegenstand der Liebe seine Fortsetzung hat haben sollen, am vorigen Sonntag die Feindesliebe, heute die allgemeine. Und da werde von uns aufgefasset, was so besonders in dem verlesenen Worte hervortritt, das seinen Ausdruck zweimal hat, leicht zu fassen nicht ist, aber unsre Aufmerksamkeit stark an sich ziehet. Das Wort machen wir zu unsrer heutigen Predigt: Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Hört mich dieses Wort so auslegen:

- Sie schreibet eben soviel als das Gesetz vor und noch mehr, - sie hilft thun, was das Gesetz vorschreibt und ihr Thun ist ein edleres, - sie bessert am Gesetz, wenn dieses über die Gebühr hinausgehen will, - sie dämpft das Gesetz, wenn es den Menschen, der es hält, stolz machen will, - sie deckt den Menschen, wenn ihn das unerfüllte Gesetz verdammen will.

In diesem mehrfachen Verstande ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

1.

Was obenauf liegt, nehmen wir zuerst ab. Hier erinnert der Apostel an die Gebote, davon er fünfe nennt. Zurückblickend in sein Schreiben an die Römer sehen wir, wie er eine Vorschrift an die andre reihet; es mögen an fünfzig sein, die er allein in dem 12. und 13. Capitel giebt. Und insonderheit auf den Anfang unsrer Epistel gesehen, den verglichen mit dem vorhergehenden, läßt es sich in der That nicht anders an, als habe der Apostel wollen ein Ende machen, weil er zu Ende doch nicht komme, alles verzeichnen und vorschreiben doch nicht könne. Er macht dann ein Ende mit dem Wort: Seid Niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander liebet; denn wer den Andern liebet, der hat das Gesetz erfüllet. Was finden wir darin, wenn nicht diese Erklärung: Was soll ich euch weiter sagen, vorschreiben, gebieten? Ich habe schon so viele und doch nicht alle eure Verhältnisse berühren, alle Lebensfülle befassen können unter besondere Gebote. Wir hören damit auf; nur laßt euch auf das Eine Gebot noch weisen; das enthält alle anderen, wenn ihr dies Eine nur wisset: Liebet euch unter einander. So Paulus, so die anderen Apostel und von ihnen, wie bekannt ist, vornehmlich Johannes, aus dessen Feder ja kaum eine andre Vorschrift geflossen ist. Und Christus selbst, einmal eigends gefragt, Matth. 22., welches das größte Gebot sei, giebt die Antwort aus Mose, diese: Gott über alles zu lieben und den Nächsten als sich selbst; woran, wie er spricht, das ganze Gesetz und die Propheten hangen. Darum, wer Liebe in seinem Herzen trägt, der trägt alle Gebote mit sich herum, wie wenn er in seinem Gedächtnisse oder über seiner Thüre oder, wie die Pharisäer, auf Zetteln an die Kleider geheftet dieselben trüge; das ganze Gesetz trägt er bei sich, in sich, wo er geht und steht, und braucht keine weitere Lehr' über seine Pflichten. Die Liebe sagt ihm alles, was davon geschrieben steht. Die Schriftkenntniß, hört man, man spürts auch, hat abgenommen in unsrer Zeit; es soll geben, die es ehemals nicht gab, eine Menge Menschen, die nicht einmal die zehn Gebote kennen, weder die erste Tafel, noch die andre, darauf der Finger Gottes geschrieben hat, was wir an unsern Nebenmenschen nicht thun dürfen; es ist zu bedauern, doch wäre es wenig oder gar nicht zu bedauern, wenn nur auf der Tafel des Herzens von der Hand der Liebe geschrieben stände, was wir den Nächsten schuldig sind. Ist dem auch also? Wir sehen ein gut geartet Kind seiner Eltern an; zwar hat es gehört, das mußt du thun, das darfst du nicht thun, thätest du das, so würdest du deinen Vater und deine Mutter dadurch betrüben. Hat das Kind aber Liebe, wahrlich, so hat es damit eine Vorschrift, die weiter reicht, einen Antrieb zu noch ungebotenen Dingen und eine Warnung vor verbotenen. Ja, wir selbst, Theure, wenn wir auf unsre eignen Handlungen sehen, so finden wir, daß nicht sowohl ein geschriebenes Gebot, in Moses oder in den Propheten stehend, von Christo gesprochen oder von den Aposteln geschrieben, die Richtschnur unsers Handelns gegen den Nächsten ist; - aber was denn? Ein Etwas in uns, Menschlichkeit, Mitgefühl, Freude am Hülfeleisten und Freude am Erfreuen, Furcht vor dem Wehethun, Besorgniß, man möchte wehe gethan haben, Schonung in den Fällen, da wehe gethan werden muß, mit Einem Wort, die Liebe ist es, die uns gesagt hat, was wir zu thun und zu lassen hätten. O, ich denke, da ist kein einziger Mensch so liebeleer, so liebeschwach, so liebestumm, der nicht aus seinen Handlungen ihrer viele herausgreifen könnte und sagen, wenn befragt, warum er das gethan habe: Ich weiß in Wahrheit nichts andres anzugeben, kann mich weder auf ein Gottesgebot, noch auf ein Menschengebot besinnen, dem ich mit dieser Handlung gefolgt wäre, ich weiß nicht anders als: die Nächstenliebe hat mir also geheißen, wie ich gethan. So, Freunde, erfüllt die Liebe das Gesetz, wem dies auch nicht bekannt wäre und wer sich auf ein geschriebenes auch nicht besänne und worüber in allen Schriften beide des alten und des neuen Testaments auch wirklich kein bestimmtes Wort stände; die Liebe, wer die hat, schreibt eben soviel als das Gesetz vor und noch mehr. Wenn wir nur fleißiger läsen, was sie schreibt!

2.

Oder will jemand gesagt haben: wenn wir nur das thäten, was das Gesetz schreibt! Zum Zweiten, die Liebe hilft thun, was das Gesetz fordert und ihr Thun ist ein edleres. Nein, sage ich und will mich eurer Aller Zustimmung versichert halten, es ist wahrlich an dem nicht genug, was das Gesetz vorschreibt, und keine zwei Menschen gehn nur Einen Tag mit einander um, da nicht etwas vorfällt, worüber das Gesetz völlig schweiget. Wie wird es vollends bei denen zugehen, die mit Vielen zu thun haben und mit Menschen allerlei Standes, Alters und Gemüthsart. Es würde ein Streit Aller wieder Alle sich erheben; unser ganzes Geschlecht, wie unter einigen Stämmen der Wilden geschehen ist, würde sich aufreiben; die Welt würde untergehn. Was die Welt erhält und die Menschen bei einander, das ist das Gesetz nicht, sondern die bei ihnen und zwischen ihnen waltende Liebe. Freilich, wenn das, was vom Gesetz geboten ist, auch nur immer gethan würde! Ob ihm eine Kraft innewohne? Ob es dem, der es halten soll, das Vermögen gebe, einflöße, es zu halten? Wir wollen ihm alle Kraft nicht absprechen. Gesetze, in Stein gegraben, in Holz geschnitten, auf Papier geschrieben, haben Völker entwildert, haben Länder beherrscht, haben Manchen zu Leistungen gestärkt, die unsrer Bewunderung würdig sind. Doch, ob wirklich das Gesetz und allein das Gesetz dies gethan habe? Israel hat das beste gehabt. Wo ist ein so herrliches Volk, das so gerechte Sitten und Gebote hat, als alle dies Gesetz, so ich euch heutiges Tages vorlege! spricht, 5. Mos. 4, der Mann, durch den es Gott der Herr hatte Israel vorlegen lassen. Aber wenn das Gebot der Liebe darunter gefehlt hätte, so hätte wahrlich nicht nur Eins gefehlt, sondern dann würden alle andern umsonst gegeben sein, wie sich's auch vielfältig gezeigt hat, wenn der Herr nicht mehr die Liebe des Volkes war, sondern das Volk, es ist prophetischer Ausdruck, andern Göttern nachhurete. Mit dem Gebot der Liebe zu Gott aber ist das Gebot der Liebe zu den Brüdern so dicht und fest verbunden, verschmolzen, daß, wer das Eine zerbröckelt, damit auch das Andere zerbricht. Was nehmen wir daraus ab? Dieses, daß die Liebe thun hilft, was das Gesetz vorschreibt, und daß ohne die Liebe es ungethan bleibt. Doch brauchen wir Exempel dazu nicht aus solcher Ferne zu holen, Jedermann hat sie bei sich zu Hause. Was können wir, wenn nicht die Liebe stärkt? wann haben wir Zeit? wann fallt uns nicht ein-vermeintlich Dringenderes ein? wann glauben wir nicht berechtigt zu sein, dies Werk, das Werk von uns auf Andere zu schieben? und fassen wir es an, wie lang? wie trag' und wie bald lassen wir ab davon? wahrend die Liebe nimmer abläßt, munter dabei ist, zu ihrem Wahlspruch hat: Selbst ist der Mann, und, wenn die Zeit fehlt, Zeit zu machen geschickt ist. Wer? Die Liebe. Ohne ihre Hülfe wird dem Menschen auch das leichteste Werk zu schwer. Aber wenn auch gethan wird, was das Gesetz vorschreibt, um des Gesetzes willen, weil das dahinter her ist: einen wie geringen Werth müssen wir doch auf ein solches Thun legen, wenn überhaupt einen Werth! Ja, einen geringen legt der darauf, an welchem das Gute gethan wird. Nur einem Menschen von niederträchtiger Seele ist es einerlei, mit welcher Gesinnung, ob mit oder ohne Liebe etwas für ihn gethan wird. Jeder nur einigermaaßen Gehobene will neben der Wohlthat, worin auch immer sie besteht, des Wohlthäters Herz und Liebe sehn, wodurch erst die erwiesene Wohlthat einen Werth erhält. Auf den aber gesehen, der das Gute thut, den Dienst leistet, so sprechen wir seiner Handlung für ihn schlechterdings allen Werth ab. Hat er sie aus dem Gesetz gethan, so hat er sie nicht gethan; das Herz ist unser Selbst, was da heraus kommt, was davon begleitet wird, das thun wir selbst, das machen wir zu einer freien, würdigen Menschenthat, heißen es edel, wovon ein Loth mehr werth ist, als von dem durch Gesetz erzwungenen Knechtsdienst ein Schiffpfund. Es giebt freilich Antriebe, die noch schlechter als die blos gesetzlichen, von der Liebe unbegleiteten sind, aber hier ist die Rede bloß von dem Gesetz und von der Liebe, und da sagen wir: die Liebe hilft thun, was das Gesetz vorschreibt und ihr Thun ist ein edleres. Darum sagen wir mit dem Apostel: die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Jetzt müssen wir in unsrer Rede vorwärts gehen, ich kann darum bloß rathen: Nehmt's mit, was eben gesagt ist, und schätzet darnach, was ihr zum Besten Anderer thut. Ich will's wünschen, daß ein Jeder in diesem Abschätzen seiner Werke ziemlich bestehen möge.

3.

Wir gehn weiter zu einem Falle, der ja nicht selten vorkommt, nämlich da in uns die Frage aufkommt: soll ich so oder so? Hierfür spricht ein Gebot, aber dafür spricht ein Gebot eben sowohl. Nicht häufiger möchte dieser Fall eintreten, als eben dann, wenn wir für Jemanden etwas thun sollen und finden es unvereinbar mit dem, was wir gewissen Andern schuldig sind oder uns selbst. Das Gesetz ist vorhanden, allein es will nicht ein entscheidend Wort sagen, das Gesetz; ja es spricht, doch in uns, und zwar in unserm bessern Selbst, wird ihm widersprochen, die Liebe weist einen andern Weg, heißt ein andres Werk. Das Gesetz, es ist ein geschriebenes, wir lesen es, so lautet es, doch wie habe ich es zu nehmen und zu verstehn? Sie haben nicht alle die Klarheit und Bestimmtheit der zehn Gebote, und selbst diese, z. B. das drittem was darf ich mir an dem Tage des Herrn verstatten von dem, was dem Buchstaben nach dawider läuft? so das neunte und zehnte: wann fängt das Begehren an, ein verbotenes, sträfliches zu sein? Gebet, einen fröhlichen Geber hat Gott lieb. Herberget gerne. Weinet mit den Weinenden, wieweit, und wieweit doch nur, ist darin zu gehen? Ziehet nicht am fremden Joche mit den Ungläubigen, sondert euch ab von ihnen, 2. Cor. 6. Wie sind wir mit diesem Gebote daran? Und mit andren, die eben geschrieben nicht sind, die wir als Sitte und guten Brauch überkommen haben, oder die von gewissen Menschen, die ein Recht allerdings haben, uns. Vorschriften zu machen und ein bestimmtes Gebot uns aufzulegen, wieweit geht es doch nur damit? denn es kann doch auch über alle Gebühr hinausgehn. Was ist in solchen Fällen zu thun? Werthe Zuhörer, ich bin der Mann nicht und will es nicht sein, der hierin alles zu richten und zu schlichten wüßte, allein eine Meisterin aller Gebote weiß ich zu nennen, die lassen wir hinzutreten, diese Besserin, und wehren dem Gesetz, wenn es sollte zu einer Ungebür treiben, und das ist die Liebe, welche wir aus diesem Grunde des Gesetzes Erfüllung nennen. Ja, wir unterscheiden die Fälle, wo die Liebe spricht und wo sie schweiget, die Fälle, wo sie laut spricht und wo leise, wo sie den Kreis dicht schließet und wo sie ihn öffnet, daß die auch und die auch hereingelassen werden. Und ich achte, daß ihrer Stimme Gehör zu geben sei. Hat sie sich doch sogar Gehör erworben bei denen, die verordnet sind, daß sie über das Gesetz wachen und die strenge Gerechtigkeit handhaben sollen, unter dem Namen der Billigkeit; in der Gestalt der Begnadigung steht sie neben allen Gerichtsstühlen auf der Erde, steht sie neben dem Thron des gerechten Gottes selbst. Da sollte ihre Stimme für uns, in unsern Verhältnissen zu unsern Mitmenschen, Mitbrüdern eine abzuweisende sein, die gegen das Gesetz nicht laut werden dürfte? O nein, nein, das soll sie nicht, und das Gesetz selbst hat sie in sich aufgenommen, hat als in einem Widerspruch mit sich die Liebe auch zu einem Gesetze gemacht und will sich an ihr prüfen, will von ihr sich anhalten lassen, will von seiner Forderung abstehn um ihretwillen, in seinen Vorschriften sich bedeuten und berichtigen lassen von ihr. Das will das Gesetz selber thun, so gewiß, als es ein Gesetz ist: Liebet euch unter einander. So ist denn auch aus diesem Grund die Liebe des Gesetzes Erfüllung zu heißen.

4.

Erfüllt will das Gesetz werden, gethan soll werden, was es vorschreibt, dazu ist es und führt in unserer deutschen Sprache treffender wie in mehrern andern den Namen Gesetz: so ist es gesetzt, so steht es, so soll es bleiben unumgestoßen. Da finden sich nun, welche sagen mit jenem Jünglinge, Matth. 19: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf, was fehlt mir noch? Es finden sich, bei denen das Gesetz anstatt Zorn anzurichten, wie es pfleget, Röm. 3: Sintemal das Gesetz richtet nur Zorn an -, so nicht thut, sondern Friede macht, zur Ruhe bringt, den Menschen bei sich selbst gerecht macht, der sich, weil er es auch vor Menschen und Gott sein will, auf das von ihm erfüllete Gesetz beruft. Ist es wahr? fragen wir näher und sehen zu. Was sehen wir? Nicht zu leugnen, da ist die völlige Gesetzmäßigkeit ihres Mantels und die Unsträflichkeit ihrer Thaten, sogar nicht in demjenigen allein, wessen sie sich enthalten haben gegen ihre Mitmenschen sorgfältigst, sondern auch in dem, was das Gesetz vorschreibt, daß sie ihnen es leisten sollen. Einige sind selbst über das Gesetz hinausgegangen, die Welt bekennt und rühmt es. Wie kommt man Solchen bei? Ich sage, ihrer sind viel. Noch einmal, wie kommt man Solchen bei? Ich sage, sie sind wohl verwahrt. Das, womit wir sie antasten wollen, mit dem Gesetz, das haben sie wie einen Panzer um sich gelegt und trotzen unsrer Predigt, belächeln unser Evangelium. Dieses wie jene ist nichts für sie. Ich weiß einen Weg, eine Stelle an ihnen. So fand sich eine Stelle bei dem Könige Ahab zwischen Panzer und Hengel, wo er zu verwunden war, wird 1. Kön. 22 gelesen. Bei denen, die das erfüllte Gesetz stolz macht, ist diese Stelle da, wo die Frage nach der Liebe unfehlbar trifft. Schießen wir die Frage gleich einem Pfeil ab, sie findet ihren Weg selbst und fehlt nicht. Wie steht es um die Liebe zu deinen Mitbrüdern? und was kannst du aufweisen, das du habest aus Liebe, wahrer, reiner Liebe gegen sie gethan? Gethan sollst du genug haben, das gestehen wir dir zu, aber wann ist die Nächstenliebe die Triebfeder gewesen, sie allein oder vornehmlich nur. Dein Amt hast du gesucht der Einnahme, der Ehre, der Bequemlichkeit halber; die Pflicht deines Amtes hast du erfüllt, weil dir die Sachen gefielen, aber an die Personen dachtest du ja mit keinem Gedanken; du hast Theil genommen, ja thätigen Antheil, an der Beförderung des gemeinen Besten, hast in freiem Werke dem Lande, der Stadt gedient, aber du hast dir selbst gedient, deinem Nutzen, deinem Vergnügen, deiner Lobsucht, um als ein gescheiter und gewandter Mann zu gelten, des man nicht entrathen kann, wenn ein Werk von Bedeutung vorliegt. Du hast in deinem Hause wohl gewaltet und gewirthet und die Deinigen in gute Vermögensumstände gebracht. Blieb denn auch Zeit übrig, für deren Seelenheil etwas zu thun und eine edlere Liebe gegen sie zu zeigen in dem, daß du sie zur Gottesfurcht und Frömmigkeit brachtest? Du hast Vielen aus der Noch geholfen mit deinen eignen oder mit fremden Mitteln? So daß du auf den Nothleidenden sahest, kein Schalkauge auf die gewandt, die dich dabei sahen? Das heiß' ich nach der Liebe fragen in einigen Beispielen. Hast du Religion? Die allein macht den Menschen uneigennützig. Bist du ein Christ? Der allein kann lieben. Du willst auf das erfüllte Gesetz dich berufen? Meinst du, das Gesetz begehre allein dein Gold, oder deine Hände, deine Füße, deine Augen, deine Ohren, deinen Mund, deine Feder, deinen Verstand? Nein, das Gesetz ist mit allem solchem durchaus nicht erfüllt, von dir nicht, der du ja um des Gesetzes willen gar nichts, alles um deiner selbst willen gethan hast, womit du das Gesetz gemißbraucht hast zu deinem Werkzeug, es verhöhnt hast, als wärest du ein Befolger, es übertreten hast nicht allein in dem Einem königlichen Gebote, Jac. 2: Liebe deinen Nächsten als dich selbst, sondern wirklich in allen einzelnen Geboten. Denn du hast es überboten mit deiner Hab- und Ehrsucht, der du nachgegangen bist. Du hast nicht getödtet, nicht die Ehe gebrochen, nicht gestohlen, nicht falsch Zeugniß geredet. O wohl, du hast das alles gethan, da du nichts von diesem unterlassen hast, weil das Gesetz dawider ist, sondern um deiner gemeinen, niedrigen Rücksicht willen. Enges Herz, du hattest keinen Raum für den Nächsten offen darin! Kaltes Herz, du bist niemals von der Bruderliebe warm geworden! Herzloser! denn ein Herz, das sich für Niemanden aufthut, ist nur eine Muskel in der Brust liegend, die bei dem Anatomen Herz heißet. Das Gesetz begehret ein geöffnet, ein fühlend, liebend Herz und erklärt sich für unerfüllt, wenn es an der Liebe gefehlt hat. Ob's dich getroffen, stolzer Mensch, und dich gedämpft hat in deiner bloß äußerlichen Gesetzmäßigkeit? - Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.

5.

Seid Niemand nichts schuldig, denn dass ihr euch unter einander liebet. Was sagt der Apostel damit? Dieses: die Liebe ist eine unabtragbare, unbezahlbare Schuld, womit man allezeit im Rückstande bleibet. Denn, Brüder, wer ist fertig mit dieser Schuld? Wir sprachen eben zu dem, welcher meint, fertig zu sein und dünket sich etwas darauf. Hat uns denn der auch daran erinnert, wie wenig wir selbst es sind? Seid Niemand nichts schuldig; - Niemand und nichts, das sind zwei strenge Worte. 'Niemand, das Wort geht weiter, als auf Vater und Mutter, auf Sohn und Tochter, auf Bruder und Schwester; Niemand, das Wort geht weiter, als auf Freund, Nachbar, Volks- und Religionsgenosse; Niemand, das Wort geht weiter als auf den, der wieder vergelten kann, und als auf den, der uns aus dem äußersten Elend anschreit, als auf den, dessen liebenswürdige Eigenschaften uns ansprechen. Seht, in einen wie weiten Kreis habe ich euch hiermit hineingewiesen, eine wie große Menschenzahl habe ich euch hiermit vorgestellt! Denen allen sollen wir nichts schuldig sein. Nichts, das andre strenge Wort. Der Eine fordert deine That, ein Andrer dein Wort, einem Dritten ist mit einem freundlichen Blick von dir viel gedient; des Einen Freude kannst du erhöh'n, des Andern Thränen kannst du trocknen, eines Dritten Warner und Rather kannst du sein, eines Vierten Erretter aus seiner Noth. Und was du kannst, das sollst du, nach dem Gesetz. Bestehst du hierin vor dem Gesetz? Du nicht - und wer? Wenn uns eins nicht deckt, so wird das Gesetz uns alle verdammen. Seid Niemand nichts schuldig. Ist's zuviel gesagt? von mir will ich es frei sagen: Ich bin Jedermann schuldig; aus so vielen Gliedern diese große Gemeinde besteht, bei so vielen finde ich mich im Schuldbuch, und ich würde mich als von dem Gesetz verdammt ansehen, wenn nicht eins mich deckte. Was? Die Liebe, von welcher der weiß, der das Gesetz gegeben hat, aber nicht allein darnach richten will, sondern auch nach der Liebe, wenn die vorhanden gewesen. Ob sie? Das ist sie. Hörer, lege, wie ich thue, deine Hand auf's Herz. Ob sie in ihrem reichen, vollen Maaß vorhanden? und nach den allen sechszehn Eigenschaften, 1. Cor. 13 verzeichnet? In der Liebe darf ich etwas schuldig bleiben, wie geschrieben steht. Nun so decke du mich, o Liebe, wenn mich das Gesetz verdammen will und sprich zum Gesetze: du bist erfüllt. Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung, wie geschrieben steht Röm. 13, wie gepredigt ist am vierten Epiphanias. Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/h/harms_c/harms-dcgul07.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain