Härter, Franz-Heinrich - Die Rechtfertigung
Ein König will Rechnung halten mit seinen Knechten; gleich anfangs findet sich einer, der ihm zehntausend Pfund schuldet. Dieser Knecht ist Jeder unter uns, der König aber ist Gott, in Christo Jesu, unserm Herrn. Der Herr kann die ungeheure Schuld schenken, denn er hat erworben was die Schuld der ganzen Menschheit tilgt1); und auf die demütige Bitte des Knechtes hin, erklärt der barmherzige König, dass er ihm die Schuld schenken will. Nur eine Bedingung macht er dabei, jedoch stillschweigend, weil sie sich von selber versteht, und nicht als Ursache, sondern als Folge der Begnadigung anzusehen ist; die Bedingung nämlich: dass der Knecht auch seinem Mitknecht eine Schuld erlasse, welche, gegen die ungeheure Schuldenlast, die ihm selber sollte geschenkt werden, als etwas sehr Unbedeutendes erscheint. Doch der unbarmherzige Knecht verfährt gegen den Mitknecht mit schonungsloser Härte; darum wird ihm die Gnade wieder entzogen; denn der Richter misst dem Unbarmherzigen mit gleichem Maße, und Jeder, der es hört, muss sagen: So ist es ganz recht!2)
Die Tilgung unserer großen Schuld, wodurch wir im Gericht Gottes freigesprochen werden, nennt man die Rechtfertigung; sie wird demjenigen geschenkt, welcher gläubig sich demütigt im Bekenntnis seiner Sünde, und sich zu Dem wendet, der sich selbst für uns zum Lösegeld gab. Die Ursache der Rechtfertigung ist keine andere, als der Glaube; dieser aber ist nicht ein kaltsinniges Denken der Wahrheit, sondern ein Aufnehmen derselben im willigen dankbaren Herzen. So erklärt denselben unser Doktor Luther3): „Es ist ein lebendig, geschäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, dass unmöglich ist, dass er nicht sollte ohn Unterlass Gutes wirken; er fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern eh man fragt, hat er sie getan, und ist immer im Tun. Wer aber nicht solche Werke tut, der ist ein glaubloser Mensch.“
Dieser allein schriftgemäße, gründliche Begriff von dem, was wahrer Glaube ist, liegt dem wichtigsten Artikel des Bekenntnisses unserer Kirche zum Grunde; in unserer Augsburgischen Konfession ist der vierte Artikel, oder der Artikel von der Rechtfertigung, derjenige, welcher vorzüglich unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll. Doktor Luther sagt davon abermals4): „Solches behaltet ja euer Lebenlang, dass es Alles zu tun ist um den einigen Artikel, welches ich oft wiederhole, und man kann es nicht genug treiben, auf dass man ihn erhalte; wo dieser Artikel auf der Kanzel bleibt, hat es keine Not.“
An dem heutigen Tag, der uns so feierlich an die Kirchenerneuerung erinnert, welche vorzüglich an diesen Artikel sich anschloss, wollen wir denselben zum besonderen Gegenstand unserer Betrachtung wählen; wir reden also:
Von der Rechtfertigung,
- Worin sie besteht, und
- Was sie wirkt im gläubigen Gemüt.
1. Worin besteht die Rechtfertigung
Hört zuerst den Artikel selber, wie er in unserm Bekenntnis lautet5): „Weiter wird gelehrt, dass wir Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mögen durch unser Verdienst, Werk und Genugtun, sondern dass wir bekommen Vergebung der Sünden, und werden gerecht vor Gott, aus Gnaden, um Christi willen, durch den Glauben, so wir glauben, dass Christus für uns gelitten hat, und dass uns um Seinetwillen die Sünde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird; denn diesen Glauben will Gott für Gerechtigkeit vor ihm halten und zurechnen, wie St. Paulus, Röm. Kap. 3 und 4, sagt.“
Klar und einfach ist in diesen Worten gesagt, worin die Rechtfertigung besteht. Sie ist das große Werk der ewigen Barmherzigkeit, zu welchem wir nichts beifügen können; wir sind darin bloß die Empfangenden, gleich dem Knecht, welchem die zehntausend Pfund geschenkt wurden. „Gott ist hier, der da gerecht macht6).“ Die Rechtfertigung ist also ein richterlicher Akt, bestehend in der rechtsgültigen Lossprechung von aller Schuld; wer diese empfängt, darf sagen: Meine Seele ist entronnen, wie der Vogel dem Strick des Voglers; der Strick ist zerrissen, und ich bin los!7)
Die Schuld des Sünders ist eine doppelte. Zuerst umfasst sie die Fülle der Güter, welche der Mensch von seinem himmlischen König empfangen hat, als anvertraute Gaben, über die er Rechenschaft geben muss; hat er diese Güter nun durchgebracht, so vermag er sie dem Eigentümer nicht wiederzugeben mit den gebührenden Zinsen, und in diesem Falle sind wir Alle von Natur, denn wir haben das anvertraute Gut verwahrlost, unsere Zeit, unsere Kräfte, die vielen Gelegenheiten Segen zu stiften; Alles dies haben wir großenteils nicht erkannt und schnöde versäumt.
Aber dazu kommt nun noch zweitens die Menge von Übertretungen und Versäumnissen der heiligen Gottesgebote, welche die Richtschnur unsers Wandels sein sollten, und welche wider uns im Gericht zeugen, so dass wir, wenn uns unser Schuldbuch aufgedeckt wird, ausrufen müssen: „Meine Sünden gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden8).“ Diese ungeheure Schuld wird unter den zehntausend Pfunden unseres Gleichnisses dargestellt, wovon der gnadenreiche König den fußfällig flehenden Knecht lossprach nach seiner königlichen Gewalt.
Aber in der Rechtfertigung liegt doch noch etwas Tieferes, das in dem Gleichnis selbst nicht ausgesprochen ist; es gehört nämlich dazu eine Gerechterklärung vor dem Gesetz, dem Ankläger gegenüber, welcher gegen den Sünder zeugt. Von diesem Ankläger spricht die Heilige Schrift auf's bestimmteste, wenn sie sagt: „Es ist das Heil, und die Kraft, und das Reich, und die Macht unseres Gottes seines Christus geworden, weil der Verkläger unserer Brüder verworfen ist, der sie verklagte Tag und Nacht vor Gott; und sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses9).“ Dieser Ankläger ist der Fürst dieser Welt, die alte Schlange, welche die ganze Welt verführt10); und darin besteht die Macht dieses Lügners und Mörders von Anfang11), dass er die Menschen zur Sünde hinreißt und dann wider sie auftritt im Gericht; denn der Stachel des Todes ist die Sünde; die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz12). Das Gesetz Gottes ist ewig und unantastbar. Würde der Sünder durch bloße Nachsicht und Barmherzigkeit Gottes freigesprochen, ohne dass der göttlichen Gerechtigkeit volle Genüge geschähe, so könnte der Verkläger wider den Richter auftreten und sagen: Du bist ungerecht; mich verdammst du nach dem Gesetz, und diesen, der auch gesündigt hat, lässt du los? Somit ist das Gesetz gebrochen, und auch ich bin freigesprochen von meiner Verdammnis, oder ich werde wider dich zeugen.
Es ist sehr wichtig für uns, diesen Punkt gründlich zu fassen. Gottes Güte darf nicht mit der menschlichen Nachsicht verwechselt werden. Wir sind immer verpflichtet Allen Alles zu vergeben, weil uns Barmherzigkeit widerfahren ist und weil uns kein Richteramt gebührt; aber der heilige Gott muss, auch wenn er vergibt, als der Heilige sich offenbaren, damit seine Gerechtigkeit bei aller Barmherzigkeit unantastbar erscheine, und beide im schönsten Einklang stehen mögen; darum musste Etwas geschehen, das dem Gesetz völlig Genüge leistete. Es geschah durch das Versöhnungsopfer Jesu Christi, der sich als unsern Bürgen dargestellt, unsere Schuld auf sich genommen, und dadurch das Recht erworben hat, einen Jeden zu begnadigen, der an ihn glauben will.
Wenn also ein Gläubiger Vergebung der Sünden erhält, so ist dies nicht bloß eine huldvolle Nachsicht von Seiten des Gebieters, sondern es ist eine vollkommene Gerechterklärung vor dem Gesetz, wodurch der Schuldbeladene frei wird, weil ein Anderer für ihn bezahlt hat: „Des Menschen Sohn ist gekommen, dass er gebe sein Leben zu einer Erlösung (das heißt, zu einem Lösegeld) für Viele.13)“
Der Grund unserer Rechtfertigung liegt also ganz allein in dem Verdienst Jesu Christi. Wir waren als Sünder gesetzmäßig dem Tod anheim gefallen; Christus aber, der Gerechte, hat sich für uns in den Tod gegeben, als ob Er der Schuldige gewesen wäre, und so ist nun eine ewige Erlösung erfunden14). Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, macht uns rein von aller Sünde15)! Dadurch hört aber all unser Verdienst völlig auf, denn wir konnten aus unserer Armut nicht das Geringste geben, um unsere ungeheure Schuld zu bezahlen. Der vor Gott Verschuldete hat nicht nur nichts im Vermögen, sondern sogar weniger als Nichts, nämlich Schulden, und wenn er auch ein oder das andere Mal Etwas erwürbe durch den Gehorsam gegen das Gesetz, so wäre das sogleich wieder hinweggefressen durch seine ungeheure Schuldenlast, und er vermöchte mit aller Anstrengung so wenig dieselbe zu tilgen, als wir mit einer Handvoll Erde einen Abgrund zu füllen vermöchten. Dagegen ist das Verdienst Jesu Christi unermesslich groß, denn er hat nicht nur des Himmels ganze Herrlichkeit für uns dahin gegeben, sondern als er auf Golgatha sein Blut ausströmte in die Sündenwelt, da gab er sein Gottesleben dahin, welches mehr wert ist, als das Leben der ganzen Menschheit; darin besteht jener Schatz der unerschöpflichen Gnade, aus dessen Fülle einem jeden Sünder, der sich gläubig an den Weltheiland wendet, die volle Vergebung bereitet wird.
Sobald wir dies anerkennen, sobald unsre Schuld und des Herrn Gnade beide in ihrer ganzen Größe uns klar geworden sind, so hat auch jede Einbildung auf eigenes Verdienst ein Ende. „Ist es aus Gnaden, so ist es nicht aus Verdienst der Werke, sonst würde Gnade nicht Gnade sein.16) Wir können von unserer Seite nicht das Geringste dazu tun; denn der Glaube, welcher von uns gefordert wird, ist nicht ein Geben, sondern nur ein sehnsuchtvolles, demütiges Annehmen. Der Ungläubige will nicht die Gnade empfangen, weil er meiner seine Schuld sei gering, und weil er hofft dieselbe abverdienen zu können. So etwas ging wohl in dem Knechte vor, der, auf den Knieen liegend, doch noch ausrief: „Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen!“ Dennoch bekam er die Versicherung, dass ihm seine ganze Schuld erlassen werden sollte, nämlich, wie wir schon gleich anfangs bemerkt haben, unter der sich von selbst verstehenden Bedingung, dass er die Probe bestünde, und diese Probe sollte sein: der Tatbeweis eines lebendigen Glaubens.
Aber er bestand seine Probe schlecht, weil er in seinem Betragen gegen den armen Mitknecht bewies, es sei ihm gar nicht zu Herzen gegangen, wie groß seine Schuld und wie groß die Gnade des Herrn gewesen. In einem solchen verschlossenen Herzen wohnt der geheime Unglaube, der das Gemüt verhärtet, und die Wirkung davon konnte keine andere sein, denn die, dass er, als ein Schalksknecht, von der Gnade des Herrn, welche er schon zu besitzen meinte, wieder ausgeschlossen wurde; sein Glaube war tot, war ein unfruchtbarer Baum, der abgehauen und ins Feuer geworfen wurde.
So ist es also nicht ein Spiel der Einbildung, nicht eine Art von Verstandesberechnung, wenn der Mensch gerechtfertigt wird, sondern eine gründliche Erfahrung des Herzens, die nur da sich findet, wo wahre Buße und wahrer Glaube wohnen, das heißt, wo tiefe Erkenntnis der Schuld, und schmerzliche Reue darüber sich verbindet mit demütigem Aufnehmen der rettenden Gnade, im Glauben an das unendliche Erbarmen, welches göttlich schenkt, was wir nimmermehr verdienen könnten, und uns rettet aus der höchsten Seelennot, aus dem Zorngericht und ewigen Tod.
2. Lasst uns nun noch sehen, was eine solche Rechtfertigung wirkt in der wahrhaft gläubigen Seele.
Das Erste, was das begnadigte Gemüt erfüllt, ist eine unaussprechliche Freude. Denkt euch einen Menschen, der sich, als einen Verdammungswürdigen, schon dem Untergang nahe und zum ewigen Gefängnis verurteilt sieht; da lernt er den Wohlthäter kennen, der mit mächtiger Hand ihn erfasst, ihn herausreißt aus dem Abgrund seines Elendes, und ihm die Versicherung der völligen Befreiung schenkt. Welche Wonne muss die Seele des Geretteten durchströmen!
Ein wahrhaft Gerechtfertigter erinnert sich wohl an den Augenblick, wo ihm zum ersten Mal die Gewissheit zu Teil worden: „Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben, dein Glaube hat dir geholfen;“ und diese große Freude zieht sich mit sanftem Nachhall durch sein ganzes noch übriges Leben. Jeden Tag wiederholt er sich: „mir ist Barmherzigkeit widerfahren17)“ und so oft er mit seliger Erinnerung sich versenken darf in dieses herrliche Gnadenwerk, fühlt er sich auch getrieben in seinem Herzen, den Psalm zu wiederholen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist seinen heiligen Namen; lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Der dir alle deine Sünde vergibt, und heilt alle deine Gebrechen; der dein Leben vom Verderben erlöst und dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit.18)“
Diese freudige Stimmung des Begnadigten ist zwar nicht immer sich gleich, denn er sieht ein, wie er dieses großen Geschenkes so unwürdig gewesen, und wie er noch Vieles an sich hat, das seinem Wohltäter, seinem Gott nicht gefallen kann. Die Kämpfe wider die Sünde sind noch da, aber sie sind doch von ganz anderer Art; denn vorher waren sie ein beständiges Unterliegen, jetzt führen sie nach und nach zur Gewohnheit des Sieges. Es bleibt in der Seele des aus Gnaden Gerechten ein ernster Entschluss, nicht mehr den eigenen Willen, sondern den Willen Des zu tun, der ihn gerettet hat; und obgleich in großer Schwachheit, so bestrebt er sich doch, seinem Herrn wohlzugefallen. Wenn der Gerechtfertigte seinen jetzigen Zustand vergleicht mit seinem früheren Zustand vor der Begnadigung, so merkt er einen großen Unterschied; vorher war er gebunden, kannte sich nicht, kannte den Feind nicht, kannte die Kräfte nicht, welche ihm helfen dem Bösen zu widerstehen; jetzt kennt er dies Alles, und macht zugleich die selige Erfahrung, dass er frei ist von den Banden der finsteren Mächte, dass der Feind ihn nicht mehr überwältigen kann, wenn er nur, mit der Kraft, die ihm die Gnade bietet, wider ihn kämpfen will; und so behält er auch in den schweren Stunden, die, zur fortwährenden Übung seines Glaubens, noch über ihn kommen müssen, Eine Gewissheit, die ihn niemals verlässt, die Gewissheit nämlich, dass seine Seele gerettet ist. Das ist aber nichts Geringeres als die Gewissheit unserer Seligkeit; denn aus Gnaden sind wir selig geworden durch den Glauben, und dasselbige nicht aus uns, Gottes Gabe ist es19). Wer in dieser Gewissheit den guten Kampf kämpft, der ihm verordnet ist, lässt sich durch Nichts mehr scheiden von der Liebe Gottes, und ruft in aller Trübsal, Angst und Kampfesnot: Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch irgend eine andere Creatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.20) “
Zu dieser seligen Freude, die das Herz des gerechtfertigten Sünders erfüllt, gesellt sich aber auch ein heiliger Ernst. Jedem Geretteten ist von dem Augenblick an, wo ihm der Herr das Bewusstsein der Seligkeit schenkt, die Pflicht auferlegt, mit seinem ganzen Leben Dem zu danken, der so Großes an ihm getan. Der Begnadigte weiß, dass er seinem Wohltäter und Retter nichts zu geben vermag, denn dieser ist der allselige, allgenügsame Gott, aber er kennt auch das Wort des Gnadenreichen: „Ein Beispiel habe Ich euch gegeben, dass ihr tut wie ich euch getan habe21). Wahrlich, Ich sage euch, was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan22). Ihr sollt barmherzig sein, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist23); ja, ihr sollt vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.24)“
In dem Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht tritt nun vor allen Dingen das Versäumen dieser heiligen Dankespflicht hervor. Eine ungeheure Summe sollte ihm erlassen werden, und er, mit unbarmherziger Strenge, übt das harte Gesetzesrecht an seinem armen Mitknecht aus, und um der hundert Groschen willen, die derselbe schuldet, würgt er ihn und wirft ihn ins Gefängnis, bis dass er Alles bezahlte.
Das ist euer Bild, ihr Liebeleeren, die ihr bei dem größten scheinbaren Recht so oft das größte Unrecht tut! Mit liebloser Härte übt ihr an euren Mitsündern die strenge Gerechtigkeit, und beruft euch dabei auf das Gesetz. Wo ist denn euer Gedächtnis geblieben, dass ihr euch nicht mehr erinnert an die Barmherzigkeit eueres Gottes, der, um euch zu retten, über Sich das allergrößte Unrecht ergehen ließ? Wo ist euer Herz geblieben, in welchem einst ein sanftes Gefühl der Freude sich bewegte, als euch die Botschaft der Gnade durch das Evangelium verkündigt wurde? O unglückseliger Mensch, der du gegen den Mitsünder solche Lieblosigkeit im Urteilen und im Handeln dir erlaubst! Sieh, die Engel im Himmel und alle Seligen, die dir zuschauen, wenden trauernd das Angesicht von dir hinweg und verklagen dich bei ihrem König, und dieser wird nun mit dem Maße, womit du misst, auch dir wieder messen. Denn ist seine Gnade groß, so ist auch sein Zorn furchtbar und brennt bis in die Tiefen der Hölle, wo du einst liegen wirst, bis du bezahlt hast Alles, was du schuldig bist, das heißt, bis in alle Ewigkeit; denn du vermagst nimmermehr deine Schulden zu tilgen.
Wie dringend ist uns hier die heilige Pflicht an das Herz gelegt, aus dankbarer Liebe gegen unsern erbarmender Heiland, mit Erbarmung dem zu verzeihen, der uns beleidigt hat. Es ist freilich empfindlich, Unrecht zu leiden, und unser Innerstes empört sich dagegen; aber die Gnade unseres Gottes fließt wie ein Balsam in diese Wunde, heilt sie sogleich wieder aus, und gibt dem Dankenden Mut und Freudigkeit, das Böse mit Gutem zu überwinden, zu lieben unsre Feinde, zu segnen, die uns fluchen, wohlzutun denen, die uns hassen, zu beten für die, so uns beleidigen und verfolgen: auf dass wir Kinder seien unseres Vaters im Himmel, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte.25)
Es gibt zweierlei Liebe: die eine ist kreatürlich und besteht darin, dass wir unsere Liebhaber lieben, und uns zu unsren Freunden freundlich tun26); die andere ist göttlich und besteht darin, dass wir ohne Eigennutz, um Gottes willen, wie Gott, den lieben, der unserer Hilfe bedarf. So hat uns der himmlische Vater geliebt. Nichts Liebenswürdiges war an uns, und dennoch hat er für uns das größte Opfer gebracht. Darum sind auch wir Ihm schuldig zu gehorchen, wenn er uns zur Übung des Glaubens aufträgt zu lieben wie Er, nachdem sich die Kraft seiner Liebe an unsren Herzen bewiesen hat.
Unser Erlöser ist gekommen ein großes Liebeswerk auf Erden zu gründen, ein Werk der Rettung für die verlorene Menschheit. Zu diesem Werk beruft er alle seine Knechte, dass sie ihm darin beistehen, damit Gottes ewiger Liebesrat an dem gefallenen, verlorenen Geschlecht ausgeführt werde. Ein Jeglicher nun, der das unaussprechliche Heil der Rechtfertigung an seiner Seele erfahren, ist schuldig dem großen Menschenfreund sein gerettetes Leben zum Dienst der Liebe zu weihen. Wer dies tut, beweist es, dass der wahre Glaube in ihm lebt; denn in Christo Jesu gilt nur der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.27)
Hier geht uns nun des Christen schöne Laufbahn auf; hier sehen wir, was eigentlich auf dem Grunde der Rechtfertigung erbaut werden soll, als ein heiliger Bau aus Gold, Silber und edlen Steinen, der auch die Feuerprobe hält28). Einem Jeden ist nach seinem Maße von Kräften ein Kreis der Tätigkeit angewiesen, in welchem er auf seine Umgebungen wohltätig zu wirken hat. Des Elendes und der Not auf Erden ist unendlich viel; alles Weh hat aber seine tiefste Wurzel in der Sünde des Menschengeschlechtes; diesem Übel zu steuern ist der Zweck der Welterlösung, und solches geschieht nicht durch das Gesetz, sondern durch das Evangelium; nicht durch die strenge Gerechtigkeit, sondern durch die rettende Gnade. Das Gesetz hält wohl in der Welt den äußerlichen Ausbruch des Bösen in Schranken, heilt aber nicht innerlich; das Evangelium hingegen trägt in sich die heilende Kraft für Alle, die mit Schrecken erkennen, dass das Gesetz sie verurteilt. Wer nun als evangelischer Christ mit erbarmender Liebe seinem Nächsten begegnet, erhält dadurch das Recht einem Jeden zu sagen, dass uns ein Heiland geboren ist, dass für uns ein Heiland gelebt hat, dass um unserer Sünde willen dieser Heiland gestorben ist, und dass Er als Überwinder des Todes nun ewig lebt und regiert, Allen denen zum Heil, welche zu seinen Füßen sich ihrer Schuld entladen, und ihr Herz ihm hingeben wollen im Glaubensgehorsam.
Wie köstlich ist es, wenn ein Begnadigter als Friedensbote solches den Verlorenen verkündigen kann; dies gibt erst seinem Leben Bedeutung, dies gibt erst seinem Herzen den seligsten Genuss. O wie wenig habt ihr noch die schönste Freude verstanden, die der Mensch hienieden genießen kann, ihr, die ihr nur an euch denkt in euerm stolzen Glauben oder in eurer eingebildeten Rechtlichkeit! Fangt doch an zu erkennen, wie ihr Schätze sammeln sollt für den Himmel; diese Schätze sind Taten der heiligen Liebe, sind gerettete Seelen, mit denen ihr einst vor dem Gnadenthrone eueres himmlischen Königs erscheinen sollt, um sie ihm darzubringen als seinen Schmerzenslohn.
Lasst uns, meine Geliebten, dieses Wort im innersten Seelengrund bewahren und bewegen! Wir sind, wenigstens dem Namen nach, evangelische Christen; unsere Kirche ist die Bewahrerin des edelsten Kleinodes der Menschheit, nämlich der freien Gnade Gottes in Christo Jesu. Möge die Kraft dieser Gnade an einem Jeglichen von uns sich offenbaren, durch reiche Früchte der Gerechtigkeit, nämlich durch viele Werke der barmherzigen Liebe, damit sich's erweise, dass wir nicht faul noch unfruchtbar sind in der Erkenntnis unsers Herrn Jesu Christi29). Die evangelische Lehre ist weit entfernt die guten Werke zu verwerfen, sie fordert sie vielmehr als eine gute Frucht, die beweist, dass der Baum ein guter ist, am Wasser gepflanzt und am Bach gewurzelt, dessen Blätter nicht welken, und der seine Früchte bringt zu seiner Zeit30). Die Quelle alles Guten aber ist der Heilige Geist, welchen der Vater durch Christum den Gläubigen zuströmt, damit in uns und durch uns der Name seines Sohnes geheiligt und verherrlicht werde! Amen.