Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Erste Betrachtung.
Lass mir die Feier deiner Leiden,
O großer Dulder, heilig seyn! -
Sie lehre mich die Sünde meiden,
Und dir mein ganzes Leben weih'n,
Dir, der so ruhig und entschlossen, .
für mich die Last des Kreuzes trug,:
Des Herz, als schon sein Blut geflossen,
Noch voller Liebe für mich schlug.
Du sollst mich lehren Tugend üben,
In Noth und Tod gelassen seyn;
Mich stärken, kindlich Gott zu lieben,
Und meinem Feinde zu verzeih'n;
Dann wird dein Leiden mir zum Segen,
Der Tod zum seligsten Gewinn.
Dir schlage stets mein Herz entgegen,
Weil ich durch dich gerettet bin! -
Text: Joh. 12, 1.
Sechs Tage vor Ostern kam Jesus nach Bethanien, da Lazarus war, der Verstorbene, welchen Jesus auferweckt hatte von den Todten.
Von der Ankunft Jesu in Bethanien, wo in dem auferweckten Lazarus ein Zeuge der göttlichen Macht desselben umherwandelte, erzählen uns die Worte des Evangelisten. Der Herr befand sich auf dem letzten Gange nach Jerusalem, der zugleich als der Anfang seines Leidens zu betrachten ist, was auch daraus erhellt, daß er selbst das Werk der Liebe, das Maria, bald nach seinem Eintritte in dem, Jerusalem nahe gelegenen Flecken, Bethanien, durch die Salbung an ihm vollzog, für eine Einweihung zu seinem Tode erklärte.
Auf diesem Leidenswege wollen wir den Herrn im Geiste begleiten und heute gleichsam als Einleitung zu allem Folgenden, der Behauptung nachdenken: daß es für uns keinen anziehendern Gegenstand frommer Betrachtung geben könne, als das Leiden des Herrn.
Frommes Nachdenken über die Leidensgeschichte Jesu wurde zu allen Zeiten für besonders anziehend und wichtig gehalten. Davon zeugt die Einrichtung unserer Kirche, vermöge welcher eine besondere Zeit im Jahre ihren Namen von dem Leiden des Herrn trägt, und ausschließend Betrachtungen über diesen Gegenstand gewidmet seyn soll; davon zeugen eben so laut zahllose, schriftliche Mittheilungen, die bereits über diese heilige Begebenheit erschienen und bald mehr oder weniger weit sich verbreiteten; davon zeugt endlich der Eifer, mit dem noch immer Tausende, deren Herz mit Liebe gegen ihren Herrn und Meister erfüllt ist, oder denen die große, auf alle Begebenheiten in der Weltgeschichte einflußreiche Bedeutung des Christenthums deutlich wurde, solchen Betrachtungen sich hingeben. Aber wir wollen hier keines dieser besondern Zeugnisse für das Anziehende der Leidensgeschichte in Anspruch nehmen, sondern nur die allgemeinsten Gründe für die oben aufgestellte Behauptung aufsuchen. Sie scheinen zunächst in Folgendem zu liegen:
In der Größe des Dulders;
In der Erhabenheit des Endzwecks seiner Leiden;
In dem tiefen Blicke in das menschliche Herz, den uns das Verfahren derer gönnt, von welchen, außer Jesu, in der Leidensgeschichte Erwähnung geschieht.
1.
Der Herr selbst ist es, der vor allem unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, der durch die Art und Weise, wie er sein Leiden erträgt, durch die Größe, in welcher er als Dulder dasteht, uns im höchsten Grade ein Gegenstand der Bewunderung und Liebe wird.
1 Alles, was die heilige Geschichte uns von Jesu bis zu diesem letzten Gange nach Jerusalem erzählt, hat uns ihn als den hocherhabenen Fürsten der Wahrheit und des Lebens dargestellt, der keinen andern Willen, als den des Vaters kannte; der erklärte, es sey das seine Speise, den Willen dessen zu thun, der ihn gesandt hatte, und zu vollenden sein Werk; der selbst das Gebot, welches er als das höchste und umfassendste seinen Jüngern verkündete: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten, wie dich selbst, durchgängig erfüllte und durch sein Leben, reich an Segen und Wohlthun, verwirklichte. Dennoch finden wir den Erhabenen und Liebevollen von einem giftigen Hasse angefeindet, der nach Blut lechzet, und der selbst durch die Befriedigung dieses Durstes noch nicht versöhnt wird. Der Angefeindete aber duldet ruhig und gelassen diesen Haß, ja wir sehen ihn so wenig dadurch empört, daß es vielmehr den Anschein gewinnt, als ob in dem Maße, in welchem die Wuth seiner Feinde steigt, seine Milde sich erhöhe, die endlich durch die Bitte für die blutgierigen Mörder in ihrer höchsten Verklärung sich zeigt.
Die heilige Geschichte stellt und den Herrn, als den Reinen, Untadelhaften dar, der allein, unter allen, die je auf Erden wandelten, von sich sagen konnte: wer kann mich einer Sünde zeihen? Dennoch soll er einer strafbaren Handlung überwiesen werden. Aber alle aufgerufenen Zeugen erproben sich als falsch! Durch die einfachste Widerlegung des Herrn, werden alle Anklagen seiner Gegner vernichtet; selbst der Richter, der entscheiden soll, ob er unrecht gethan, erklärt ihn, indem er denselben zur Vollziehung des Todesurtheils übergibt, für unschuldig. Wir aber vernehmen keine einzige Klage des großen Dulders über diese schreiendste aller Ungerechtigkeiten; wir hören von keinem Versuche, den der unschuldig Verurtheilte sich zu befreien macht; ruhig und ergeben erträgt er, was über ihn verhängt ist und stellt es dem heim, der da recht richtet.
In jedem Augenblicke des letzten, schweren Ganges, häuft sich das Maß der Leiden des Erlösers; es wächst die Zahl der unnennbaren Schmerzen; es geht in Erfüllung was der Prophet von ihm sagt: Er war der Allerverachtetste und Unwertheste voller Schmerzen und Krankheit. Wir aber sehen ihn sicheren Trittes den rauhen Weg gehen, ohne Furcht vor dem Entsetzlichen, vor der blinden Wuth seiner Feinde. Standhaft duldet er alle Qualen. Gehaßt, ohne in seiner unaussprechlichen Liebe zu ermüden; unschuldig gerichtet; ohne zu klagen; umgeben von den Schrecken des Todes, ohne zu erzittern, so geht der große Dulder hin. ich weile gerne mit meinen Gedanken bei dir, Erhabener; ich sehe dich in deiner Größe nach Golgatha wandeln und meine Seele verlanget ewig mit dir verbunden zu seyn, im Festhalten an dir, gleichen Muth, gleiche Kraft sich zu erringen!
2.
Gleich anziehend, als die Größe des Dulders selbst, ist die Erhabenheit des Endzwecks seiner Leiden.
Die Geschichte der Völker hat uns große, preiswürdige Thaten aufgezeichnet. Bewundernd stehen wir vor Einzelnen, die sich mit Muth und Freudigkeit zahllosen Schmerzen, ja selbst dem Tode weihten, um das Vaterland zu retten. Aber wie selten war dieses Hingeben rein? - Wie wurden vielmehr die Meisten von eitlem Geize nach Ehre und Nachruhm in Kampf und Tod getrieben? Herrlicheres, Größeres haben wir hier vor uns! - Nicht um irdischen Gutes willen sehen wir den Sohn des Höchsten leiden, dulden; nicht der Sache eines Volkes, eines Landes gilt es hier, es gilt der wichtigsten Angelegenheit des ganzen Menschengeschlechtes. Unsichtbare Güter sind es, die er nicht sich, die er den gefallenen Brüdern, welche er zu retten kam, erwerben will. Sein Leiden und sein Tod soll die Wahrheit besiegeln, die er, ein Licht der Welt, zu verkünden erschien; die Wahrheit, die den Verstand erleuchtet, das Herz erwärmt, jedes Dunkel des Verhängnisses aufklärt, jedes Räthsel des Weltalls löst, in deren Schein allein jede Kenntniß und Wissenschaft zur wahren Weisheit wird. Sein Leiden und sein Tod soll die Erlösung vollenden und krönen, die die Völker aller Zeiten ersehnten; sein Leiden und sein Tod soll den um ihrer Sünde willen geängsteten Herzen Frieden zurückbringen und zu Freudigkeit und Zugang zum Vater in Vergebung der Schuld führen. Sein Leiden und sein Tod soll für den, der mit ihm leidet und mit ihm der Sünde stirbt, die Gewißheit eines gleichen Ueberwindens des Todes und einer ewigen Gemeinschaft mit Gott in ewiger Seligkeit bewirken. Sein Leiden und sein Tod soll endlich alle Trauernden, alle Bekümmerten, alle vom Schmerz der Erde tief Gebeugten tragen, dulden, hoffen und durch Glauben und Hoffen einen köstlichen Sieg und einen ewigen Frieden erringen lehren. Diese unsichtbaren Güter, wie sie unser Wort nur schwach bezeichnen kann, in ihrer ganzen Fülle, unentreißbar uns zu erwerben, das war der erhabene Zweck seines Leidens, der die Seele jedes Fühlenden, mit Bewunderung, Rührung und Demuth und mit ewigem, beißen Danke erfüllen muß. Zu einem anziehenden Gegenstand frommer Betrachtung wird die Leidensgeschichte Jesu auch durch
3.
den tiefen Blick in das menschliche Herz, der uns durch diejenigen, von welchen außer Jesu Erwähnung geschieht, gegönnt wird. Ein wunderbares Gemisch von Charakterzügen zeigt uns diese heilige Geschichte. Gewiß nicht ohne tiefere Bedeutung stellt sich uns in auffallen: den Gegensätzen die höchste Liebe und der blutgierigste Haß; das zarteste Gefühl - und die empörendste Stumpfheit; die edelste Uneigennützigkeit - und die schmählichste Selbstsucht; die reinste Tugend - und das verworfenste Laster; die höchste Geduld - und die wildeste Verzweiflung dar. Maria's Zartheit; der Jünger Jesu Treue; des Petrus Schwäche; Judas Verruchtheit; der Pharisäer und Hohenpriester Tücke; des Pilatus Unglaube und kleinliche Furcht; der Kriegsknechte Verworfenheit; des Mitgekreuzigten Reue, - welche tiefe Blicke gewähren sie uns in das menschliche Herz! Wie manche Lehre empfangen wir hier; wie viel Warnendes, wie viel Ergreifendes zeigt sich hier unsern Blicken!
Wichtig muß die Betrachtung der letzten Schicksale unsers Herrn dem schlichtesten und erleuchtetsten Verstande seyn. Ungerührt, ungebessert, kann keiner, der überhaupt eines edlen Gefühls fähig ist, von der Beschauung des Gemäldes, das die Evangelisten vor uns aufstellen, scheiden, ja ohne völlige Erneuerung seines Wesens sollte keiner im Anschauen dieses Bildes verweilen.
Auch wir wollen bei demselben ernstbetrachtend stehen bleiben. Aufs Neue wollen wir uns an der Größe des göttlichen Dulders, unsers Heilandes und Herrn, erheben und zur Ertragung jedes Mißgeschickes uns rüsten! Wir wollen, was zur Belehrung, was zur Warnung uns berichtet ist, in seiner Tiefe zu ergreifen suchen und wiedergeboren werden durch ihn!
Begleite du uns, Göttlicher, mit deinem guten Geiste, indem wir dir auf deinem Leidenswege in frommer Betrachtung folgen! Schenke uns Kraft, daß wir wachsen an Liebe zu dir, an Vertrauen auf deine Verheißungen, an Freudigkeit, die Welt zu überwinden, an Ernst im Ringen, dir, erhabenes Urbild unsers Wesens, ähnlicher zu werden! Amen.