Girgensohn, Thomas - Den Tod nicht sehen.
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So Jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich. (Joh. 8, 51.)
In der Kirchenpostille zum Sonntage Judica schreibt Luther: Wie geht das zu, dass man den Tod nicht sieht noch schmeckt, so doch Abraham und alle Propheten gestorben sind, die ja Gottes Wort hatten? Hier müssen wir Acht auf Christi Rede haben. Er macht einen Unterschied, dass Tod ein anderes Ding sei, als den Tod sehen oder schmecken. In den Tod müssen wir alle und dahin sterben; aber ein Christ schmeckt oder sieht den Tod nicht, d. i. er fühlt ihn nicht, erschrickt nicht davor und geht sanft und stille hinein, als entschliefe er und stürbe doch nicht. Aber ein Gottloser fühlt ihn und entsetzt sich davor ewiglich; also, dass man: den Tod schmecken, wohl heißen mag: die Kraft und Macht oder Bitterkeit des Todes, ja er ist der ewige Tod und die Hölle. Auch schon während des irdischen Lebens muss der Gottlose, weil ihn die Hölle bedroht, die Bitterkeit des Todes erfahren in aller der Zerrissenheit, die sein Dasein erfüllt. Es trägt eine Bestimmung, eine Sehnsucht in sich, die nie verwirklicht, nie befriedigt wird; nach Freude, Wahrheit, Frieden, Gerechtigkeit dürstend, kann er nie zur Stillung seines Durstes gelangen. Schmerz und Mangel, Verworrenheit der Gedanken und Unsicherheit der Erkenntnis, Unruhe, bald Trotz, bald Verzagtheit des Herzens, Unstetigkeit und Verkehrtheit des Willens, der bald hierhin bald dorthin sich wendet, ist das Los des von Gott verlassenen Sünders. Das ist ein Todeszustand, der in dem leiblichen Tode seine entsprechende Folge und in dem ewigen Tode seine höchste Steigerung erfährt. Mag dieses Todesverhängnis den Menschen zeitweilig nicht zum Bewusstsein kommen, oder sich nach außen hinter einem falschen Scheine verbergen, so ist es doch da und kommt einmal zum Bewusstsein und wird endlich offenbar werden. Im Gegensatz zu diesem Elend der Gottlosen, verheißt Christus denen, die sein Wort halten, die mit dem Worte ihn selbst gläubig erfassen und halten und durch ihn Gottes Kinder werden, dass sie den Tod ewiglich nicht sehen werden. Sie sind vom ewigen Tode erlöst und darum haben alle Gestaltungen des Todes den Stachel für sie verloren. Der Tod lässt auch die Jünger Christi während ihres Erdenwandels und in ihrer Sterbestunde nicht unangetastet, aber in seiner eigentlichen Furchtbarkeit sehen sie ihn nicht und seine volle Bitterkeit schmecken sie nicht. Möchten es doch alle Christen an ihrer Seele erfahren, wie der Herr gerade auch in diesem Stücke seine Zusage erfüllt: siehe, ich mache alles neu. Wir sollen in der Nachfolge Christi erdulden mancherlei Leid und Mangel, und doch mitten in der Trübsal uns getrösten des Glaubens: der Herr ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln. Unser Wissen und Verstand ist mit Finsternis umhüllet, aber das eine wissen wir gewiss: Christus ist die Wahrheit, von ihm dürfen wir bekennen: in deinem Lichte sehen wir das Licht (Psalm 36, 10). Wir kennen sehr wohl die Bedrängnis der Anfechtung und des unruhigen Gewissens, auch die Verkehrtheit und Unbeständigkeit unseres Wollens und Strebens, aber doch sollen mit diesem Spüren der Todesmacht unzertrennlich verbunden sein die in Psalm 23, 2. 3 und 73, 24 ausgesprochenen Erfahrungen: er führt mich zu frischen Wassern, er erquicket meine Seele. Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an. Erweist sich so bei dem, der Christi Wort hält, schon auf Erden die Macht des Todes als gebrochen und begrenzt, so gibt die mit feierlicher Versicherung eingeleitete Verheißung des Herrn: der wird den Tod nicht sehen ewiglich, erst recht die Bürgschaft, dass der Christ den letzen Kampf bestehen und den Schrecken des Ewigen Todes entgehen werde. Todesangst und Grauen vor der Ewigkeit sind den Jüngern Christi nicht fremd, aber ebenso ist ihnen Der nicht fremd, auf den sich die lebendige Hoffnung gründet: Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
R. K. 94. Nr. 33.