Gerok, Karl von - Andachten zum Psalter - Psalm 75.
(1) Ein Psalm und Lied Assaphs, dass er nicht umkäme, vorzusingen. (2) Wir danken dir, Gott, wir danken dir, und verkündigen deine Wunder, dass dein Name so nahe ist. (3) Denn zu seiner Zeit so werde ich recht richten. (4) Das Land zittert, und alle, die darinnen wohnen; aber ich halte seine Säulen fest, Sela. (5) Ich sprach zu den Ruhmredigen: Rühmt nicht so; und zu den Gottlosen: Pocht nicht auf Gewalt, (6) Pocht nicht so hoch auf eure Gewalt, redet nicht halsstarrig, (7) Es habe keine Not, weder vom Aufgang noch vom Niedergang noch von dem Gebirge in der Wüste. (8) Denn Gott ist Richter, der diesen erniedrigt, und jenen erhöht. (9) Denn der Herr hat einen Becher in der Hand, und mit starkem Wein voll eingeschenkt, und schenkt aus demselben; aber die Gottlosen müssen alle trinken, und die Hefen aussaufen. (10). Ich aber will verkündigen ewig, und lobsingen dem Gott Jakobs. (11) Und will alle Gewalt der Gottlosen zerbrechen, dass die Gewalt des Gerechten erhöht werde.
Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch. Den Segen, so ihr gehorcht den Geboten des Herrn, eures Gottes, die ich euch heute gebiete. Den Fluch aber, so ihr nicht gehorchen werdet den Geboten des Herrn, eures Gottes. Dies zweischneidige Wort, das einst in uralten Tagen der Herr durch Moses zu seinem Volke sprach, klingt durch die ganze heilige Schrift hindurch. Auch im neuen Bunde klingt es wieder, wenn Paulus uns zuruft Röm. 2: Gott wird geben einem jeglichen nach seinen Werken; nämlich Preis und Ehre und unvergänglich Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben. Aber denen, die da zänkisch sind und der Wahrheit nicht gehorchen, gehorchen aber dem Ungerechten, Ungnade und Zorn.
Auch durch unsern Psalm klingt dieses Thema hindurch von göttlicher Gnade und göttlichem Zorn. Gott ist Richter, ruft Assaph, der diesen erniedrigt und jenen erhöht. Einen herben Becher des Zorns hat er in der Hand, den die Gottlosen austrinken müssen bis auf die Hefen. Aber auch einen süßen Kelch der Gnade reicht er den Seinen, dass sie mitten in seinen Gerichten getrost können in die Harfe des Dankes greifen und lobsingen: Wir danken dir, Gott, wir danken dir und verkündigen deine Wunder, dass dein Name so nahe ist. Etliche Ausleger vermuten, dieser Psalm gehe auf die Errettung Hiskias von Sanherib. Das war freilich ein Gottesgericht; das war ein Becher des Zorns, von dem die Feinde niedertaumelten in den Todesschlaf wie Fliegen, die aus der Giftschale genascht; das war ein Kelch des Trosts, den da der Gott Israels seinem König und seinem Volk gereicht, dass sie rühmen konnten mit David Ps. 23: Du bereitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde, du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.
Aber für alle Zeit und zumal auch für unsere Zeit ist dieser Psalm ein Text; auch heute steht der Herr, der Alleingewaltige, als ein ernster Richter da inmitten der Völker und hält uns beides vor: den Becher des Zorns, wenn wir ihm widerstreben, und den Kelch der Gnade, wenn wir bußfertig zu ihm kehren. Wir wollen zum heutigen Bußtag stehen bleiben bei diesem ernsten Gedanken und uns vorhalten:
Die zwei Becher Gottes, die er für uns eingeschenkt hat.
1) Den Becher des Zorns für die Unbußfertigen,
2) den Kelch der Gnade für die frommen Seelen.
V. 5-9: „Ich sprach zu den Ruhmredigen: Rühmt nicht also; und zu den Gottlosen: Pocht nicht auf Gewalt. Pocht nicht so hoch auf eure Gewalt, redet nicht halsstarrig, es habe keine Not, weder vom Aufgang noch vom Niedergang noch vom Gebirge in der Wüste. Denn Gott ist Richter, der diesen erniedrigt und jenen erhöht. Denn der Herr hat einen Becher in der Hand und mit starkem Wein voll eingeschenkt und schenkt aus demselben; aber die Gottlosen müssen alle trinken und die Hefen aussaufen.“
Was ist das für ein Becher des Zorns, den der gerechte Richter auch heutzutage eingeschenkt hat für die Christenheit? Was ist das für ein böser Trank, den auch unser Geschlecht, wie's oft scheinen will, austrinken muss bis auf die Hefe? Aus zwei Bestandteilen hauptsächlich ist dieser Becher des Zorns gemischt: Es ist darin der Taumelwein menschlicher Verblendung und es ist der Wermutstrank göttlicher Strafgerichte.
Wenn wir fragen, Geliebte: Worin besteht das Hauptelend unserer Zeit und unseres Geschlechts? so müssen wir antworten, wie wir schon hundertmal geantwortet haben: Es ist die eigene Schuld, es ist die menschliche Verblendung, darin dies Geschlecht gefangen ist. Die Zeit wäre nicht so schlimm, wenn nur die Menschen besser wären. Die Hälfte des Unglücks, unter dem die Völker seufzen, wäre gar nicht gekommen, und die andere Hälfte wäre viel leichter zu ertragen, wenn die Mahnung des Apostels etwas gälte: Seid nüchtern und wacht; und die Mahnung Mosis: Gehorcht den Geboten des Herrn, eures Gottes, die ich euch heute gebiete. Aber die verblendete Menschheit hat sich selbst einen Becher des Zorns angerichtet, indem sie sich berauscht im Taumelwein des Hochmuts, des Unglaubens, des Aufruhrs, des Leichtsinns, der Weltlust. Wenn vor etlichen Jahren tausende in trunkenem Übermut göttliche und menschliche Ordnung mit Füßen traten, das Heil erwarteten vom blutigen Aufruhr und „Freiheit“ riefen, während sie Sklaven waren ihrer eigenen Lüste: war's nicht, als hätte die Welt aus einem Taumelbecher getrunken? Wenn heute noch so viele statt vom lebendigen Brunnen des göttlichen Worts lieber aus den vergifteten Brunnen des Unglaubens schöpfen, aus gottlosen Büchern und heillosen Zeitschriften ihre trostlose Weisheit holen: ist das nicht auch ein selbstbereiteter Taumelkelch und Giftbecher, in dem sie sich berauschen? Wenn aber tausende hoch und niedrig trotz der schweren Not dieser Zeit im Leichtsinn fortleben und nur nach Lust und Genuss jagen von Sonntag zu Sonntag, als habe es keine Not weder vom Aufgang noch vom Niedergang noch vom Gebirge in der Wüste, als gäbe es keine Krankheit, kein Alter, keinen Tod, keine Ewigkeit, kein Gericht: muss man nicht auch sagen: Diese Leute haben aus dem Taumelkelch der Verblendung getrunken? Wenn so viele in ihren Lüsten dahingehen und ihren Leidenschaften frönen, wenn der Wollüstige um seiner Wollust willen, der Habsüchtige um des Gewinns willen, der Rachsüchtige um seiner Rachsucht willen die Stimme des Gewissens und die Mahnungen Gottes überhört und blindlings ins Verderben rennt: sind nicht auch diese berauscht vom Taumelbecher der Leidenschaft und trinken sich selber den Tod wie die Fliege in der Giftschale? Ja in wie manches reichen Manns Haus, wo's in Saus und Braus hergeht von Tag zu Tag, und in wie manche Wirtsstube, wo die Spötter spotten in trunkenem Übermut, in wie manchen Rat der Gewaltigen, wo man die Schicksale der Welt zu entscheiden sich anmaßt, ohne des Richters im Himmel zu gedenken, und in wie manche Studierstube der Gelehrten, wo eine ungläubige und gottlose Weisheit sich dünkelhaft erhebt über die göttliche Weisheit des Evangeliums, und in wie manche Hütte der Armen auch, wo die Not nur fluchen lehrt statt beten, könnte man hineinrufen mit den Worten unseres Psalms: „Rühmt nicht so und pocht nicht so hoch auf eure Gewalt, denn Gott ist Richter, der diesen erniedrigt und jenen erhöht!“
Und wenn nun der alleingewaltige Gott, der sein nicht spotten lässt, der heilige Gott, dem gottlos Wesen ein Gräuel ist, der gerechte Gott, der einem jeglichen geben muss nach seinen Werken; wenn der Richter im Himmel solchen Frevel nicht ungestraft lässt; wenn er einem Geschlecht, das also trotzig ihm den Rücken kehrt, den herben Kelch seiner Strafgerichte einschenkt; wenn er die Schalen seines Zorns ausgießen lässt durch seine Schreckensengel über ganze Länder - darf uns das wundern? dürfen wir uns darüber beklagen? Ach, Geliebte, es ist freilich so, als hätte Gott den Becher seines Zorns seit manchem Jahr auch unserem Geschlechte vorgehalten. Aufruhr und Krieg, Misswachs und Teuerung, Hagelschlag und Wassersnot, Brotlosigkeit und Pestilenz, das sind die Schalen des Zorns, die Jahr für Jahr uns vorgehalten werden; und wenn wir meinen, jetzt sei es genug, jetzt müsse es aus sein, so ist immer noch ein Rest zurück, denn bis auf die Hefen, scheint es, soll der bittere Kelch getrunken sein.
Und doch, Geliebte, sind selbst in diesem bitteren Trübsalskelch noch einige Tröpflein der Gnade und auf der letzten Tiefe des Zornbechers glänzt noch der goldene Grund der göttlichen Treue. Denn durch alle diese Gerichte will ja der gnädige Gott im Himmel nichts als die Welt zur Buße leiten, und der herbe Trank der Trübsal soll ja nichts sein als die bittere Arznei, die dem Kranken zur Gesundheit hilft, wenn er sie geduldig einnimmt. O Geliebte, so lasst uns jeden Trübsalskelch, den Gott uns einschenkt, sei's einem ganzen Land oder einem Haus oder einer Seele, willig annehmen und einnehmen als eine Arznei, die der große Arzt im Himmel uns verordnet hat; demütigt euch unter die gewaltige Hand Gottes, so wird er euch erhöhen zu seiner Zeit, denn fürwahr er plagt die Menschen nicht von Herzen und wo sich ein Volk oder ein Haus oder eine Seele zu ihm bekehrt, da gilt auch noch sein Wort: Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig von dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen. Wache auf, wache auf, Jerusalem, die du von der Hand des Herrn den Kelch seines Grimms getrunken hast; die Hefen des Taumelkelchs hast du ausgetrunken und die Tropfen geleckt. So spricht dein Herrscher, der Herr und dein Gott, der sein Volk rächet: Siehe, ich nehme den Taumelkelch von deiner Hand samt den Hefen des Kelchs meines Grimms, du sollst ihn nicht mehr trinken. (Jes. 51.)
Ja der Herr, der Gnädige und Barmherzige, kann das Bitterste noch abwenden, kann die Neige des Bechers uns erlassen, kann den Becher des Zorns von uns nehmen und 2) Den Kelch der Gnaden uns reichen, den er bereit hat für alle frommen Seelen. Was enthält dieser Kelch der Gnaden? Er enthält geistlichen Trost und leiblichen Segen. Geistlichen Trost, Geliebte, lässt der treue Gott die Seinigen genießen schon mitten in der leiblichen Trübsal:
V. 2: „Wir danken dir, Gott, wir danken dir und verkündigen deine Wunder, dass dein Name so nahe ist.“ So können mit Assaph die Kinder Gottes fröhlich singen mitten im Donner seiner Gerichte. O wem der Name Gottes nahe ist; wer den süßen Vaternamen kennt, von dem es im Liede heißt:
Vater, dieser Nam erweitert jede Brust voll Angst und Schmerz,
Wie der Mond die Nacht erheitert, bringt er Ruh in jedes Herz;
wer den teuren Jesusnamen im Herzen trägt, von dem wir singen:
Durchseufz ich auch hienieden mit Tränen manche Zeit,
Mein Jesus und sein Frieden durchsüßet alles Leid;
der hat Trost in jeder Trübsal. Wer Gott seinen Vater und Jesum seinen Heiland nennt im Glauben, der weiß ja: Zu seiner Zeit wird der Herr recht richten (V. 3); und wer das weiß, dem ist auch der herbste Becher der Trübsal versüßt durch den Trost des Glaubens, so dass er mit David sprechen kann (Ps. 116): Ich will den heilsamen Kelch nehmen und des Herrn Namen predigen auch in der Trübsal; und mit dem großen Davidssohn beten: Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe; ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille! Und wie dort ein Engel vom Himmel kam mit dem Kelche des Trostes und stärkte den frommen Dulder, so reicht auch jetzt noch den frommen Duldern der himmlische Vater von oben herab den Kelch der Erquickung. - Wo man diesen Trost des Glaubens noch schmeckt, o da darf man dann auch erfahren das beruhigende Wort des Herrn:
V. 4: „Das Land zittert und alle, die darin wohnen; aber ich halte seine Säulen fest.“ Hat das der gnädige Gott nicht wahr gemacht auch in den Stürmen der letzten Jahre? Als das Land zitterte und alle, die darin wohnen, als alle Ordnungen wankten und der Boden unterwühlt war unter unsern Füßen, als die Mächtigsten nicht mehr sicher und die Mutigsten nicht mehr ruhig waren: siehe, da hat der Herr doch die Säulen des Landes festgehalten, dass sie nicht zusammenstürzten, und diese Säulen, darauf das Land noch stand und noch steht und, so Gott will, stehen bleiben wird, das waren die Reste des Glaubens und der Gottesfurcht im Land. Und was auch künftig noch für Stürme über die Welt ergehen sollen, Gottes Volk darf sich halten an das Wort seines Herrn: Ich halte seine Säulen fest; und Christi Gemeinde darf sich getrösten der Verheißung ihres Gründers, dass auch die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollen. Und was auch über dich selber, lieber Christ, der Herr noch für Stürme der Anfechtung wird ergehen lassen, lass nur den Glauben deine Säule sein, an die du dich hältst, und Gottes Wort den Grund, darauf du gründest, dann wirst du nicht sinken und nicht fallen.
Das ist der geistliche Kelch der Gnaden und der innere Trost des Glaubens, den der Herr den Seinen reicht. Und dazu, Geliebte, hat er auch die Fülle leiblichen Segens, sie zu erquicken und zu erfreuen; Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle, und wenn er uns lange hat darben lassen, kann er uns auch wieder voll einschenken; wenn er uns lange nur den herben Kelch der Trübsal gereicht, kann er auch wieder den Becher der Freuden uns auf den Tisch setzen, dass wir sehen dürfen und schmecken, wie freundlich der Herr ist; das hat ja gewiss jedes unter uns schon erfahren in seinem Lebensgang:
Wie oft, Herr, zagt ich und wie oft
Half deine Hand mir unverhofft;
Den Abend weint ich und darauf
Ging mir ein froher Morgen auf!
Das will er vielleicht auch unser ganzes Volk wieder erfahren lassen nach Zeiten des Mangels und der Bedrängnis, und die freundliche Herbstsonne dieser Tage, die so golden vom blauen Himmel scheint, soll uns ein Pfand und Gleichnis sein, dass Gottes Güte noch alle Morgen neu ist über die, so ihn fürchten und auf seine Güte hoffen. Der beste Freudenkelch aber ist uns aufbehalten droben. Ach, meine Lieben, alles was wir auf Erden schmecken dürfen von Gottes Güte und Freundlichkeit, ist ja nur ein schwacher Vorschmack jenes himmlischen Freudenkelchs, den der große Gott uns droben bereitet hat an den himmlischen Tischen. O gnädiger, getreuer Gott, der du vergibst Missetat, Übertretung und Sünde, erbarme dich unser. Lass die Gerichte, die du über uns geschickt hast, zu unserem Besten werden, dass wir erkennen zu dieser unserer Zeit, was zu unserem Frieden dient; verschon uns, wenn es dein gnädiger Wille ist, mit ferneren Plagen und lass uns den Becher des Zorns nicht trinken bis auf die Hefe; schenk unserem armen Land und Volk wieder den Freudenbecher ein. Tröste und erquicke uns auch unter den Leiden dieser Zeit aus dem Kelche deiner Gnaden und nimm uns endlich dorthin, wo du abwischen wirst alle Tränen von den Augen der Deinen.
Wir verlangen keine Ruhe für das Fleisch in Ewigkeit,
Wie du's nötig findst, so tue noch vor unsrer Abschiedszeit;
Aber unser Geist der bindet dich im Glauben, lässt dich nicht,
Bis er die Erlösung findet, die dein treuer Mund verspricht.
Amen.