Gerok, Karl von - Zur Einführung in die Psalmen.
Mit Freuden, meine lieben Freunde, bin ich auf den Vorschlag meiner lieben Amtsbrüder eingegangen, zunächst für dieses Jahr wöchentliche Betstunden an dieser unserer Kirche zu übernehmen. Denn ich hoffe in diesen lieblichen einfachen Gottesdiensten für euch und mich selbst Segen und Gewinn.
Fürs erste eine geistliche Erfrischung mitten ins Tagewerk der Woche hinein. Dass man auch zwischen zwei Sonntagen eine geistliche Zwischenstation, einen Ruheplatz unter Friedensbäumen, einen Labetrunk aus Gottes Wort wohl brauchen kann, das habt ihr gefühlt und erfahren, deswegen seid ihr hier.
Fürs zweite eine Befestigung unserer geistlichen Gemeinschaft. Ist's auch ein kleines Gemeindlein nur, das in diesen Stunden sich versammeln kann, so hoffe ich doch, wir werden auch hier der Verheißung des Herrn uns getrösten dürfen: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Ja ich hoffe, wir können einander hier noch näher kommen, als von der Kanzel aus; manches Herzensbedürfnis, manches Lebensverhältnis, das in versammelter Gemeinde, in der feierlichen Predigt nicht so kann berücksichtigt werden, kann hier im kleineren Kreis, im vertrauten Gespräch zur Sprache kommen, wie ja auch unser Herr im vertrauten Kreise seiner Zwölfe manches Wort, manches Gleichnis, das er in öffentlicher Predigt gesprochen, deutlicher auszulegen und weiter zu entwickeln liebte.
Und so denke ich, kommen wir unter dem Segen des Herrn in diesen Stunden nicht nur einander näher, sondern ein dritter Segen ist auch, dass wir miteinander tiefer hineinkommen in Gottes Wort und in die christliche Wahrheit. In der Sonntagspredigt ist es immer nur ein kleiner Abschnitt der heiligen Schrift, sind es ein paar Verse vielleicht, die betrachtet und ausgelegt werden, hier aber können wir ein ganzes biblisches Buch im Zusammenhang betrachten und uns so recht in dasselbe hineinlesen und hineinleben. Während wir in der Predigt gleichsam nur wie durch ein Fenster einen Blick hinaustun in die grünen Auen und lieblichen Heilspfade der heiligen Schrift, wandeln wir hier in diesen Auen selbst umher und verfolgen diese Pfade von Anfang bis zu Ende; während uns in den Sonntagsevangelien und Episteln nur ein paar Äpfel, goldene Äpfel freilich in silbernen Schalen vorgesetzt werden, dürfen wir hier die Äpfel selber am Baume des göttlichen Wortes suchen und brechen. Und so wolle denn der Herr auch zu diesen Betrachtungen seinen Segen geben und es von Stunde zu Stunde mich wie euch erfahren lassen: Alle Schrift von Gott eingegeben ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit.
Indem ich mich nun fragte: Welches biblische Buch wollen wir zu Grunde legen? tat mir freilich die Wahl wehe, denn vom ersten bis zum letzten Buch, von dem „Im Anfang schuf Gott“ im ersten Buch Mose bis zu dem Sehnsuchtsseufzer: „Ja komm Herr Jesu“ in der Offenbarung wieviel Kostbares! lauter Goldgruben, in die man sich hineinarbeiten und die man ausbeuten möchte! Und doch habe ich mich bald entschlossen: Wir wollen in Gottes Namen den Psalter Davids nehmen.
Fürs erste, weil das von alter Zeit her in unserem Land Württemberg der Text ist für die Betstunden, schon so manches Jahr und Jahrhundert hindurch gebraucht in bösen und guten Tagen.
Fürs zweite, weil mir's passend schien, dass wir neben dem Neuen Testament, das am Sonntag gepredigt wird, das freilich immer das Kleinod und die Perle bleibt, doch auch im Alten nicht sollten fremd werden, das so eine schöne Vorhalle des Neuen ist, die Perlmutter gleichsam, in deren lieblichen Schalen die Perle des Neuen Testaments gewachsen ist.
Fürs dritte, weil ich im Alten Testament kein schöneres, lieblicheres, köstlicheres Buch weiß, als eben den Psalter Davids, diese Perlenschnur frommer Gesänge, dieses ehrwürdige Gesangbuch, diesen reichen Liederschatz des alten Volks Gottes.
Fürs vierte, weil ich gerade für unsere Betstunden kein passenderes Buch weiß. Betstunden sollen es doch sein, nicht bloß Bibelstunden, nicht bloß Betrachtungen, sondern zugleich Erhebungen des Herzens zu Gott im Gebet; was könnten wir dazu für eine schönere Anleitung erhalten, als diese uralten Gebete frommer Beter. Da nimmt uns der große Beter David wie ein Königsadler auf seine mächtigen Flügel und hebt uns mit mächtigem Flug himmelan; da begleitet dieser edle Harfenschläger Gottes unsere schwachen Gebete mit den mächtigen Akkorden seiner Harfe. Zugleich sind's Wochengottesdienste, die wir hier halten, mitten aus den Sorgen und Geschäften der Woche, aus den Freuden und Leiden des täglichen Lebens kommen wir hierher und gehen wieder in die Sorgen und Freuden des Lebens hinaus; auch dazu passt das Psalmbuch ganz besonders, denn das sind auch Stimmen mitten aus der Unruhe des Tages, aus den Sorgen und Freuden des Menschenlebens heraus; für jedes Lebensverhältnis, für jede Lebenslage und Lebensstunde gibt es da einen passenden Psalm, ein treffendes Wort; man könnte den Psalter das rechte Not- und Hilfsbüchlein für alle Lebensverhältnisse nennen, ein Losungsbüchlein für alle Tage des Jahres, wie Luther so schön sagt: Wo findet man feinere Worte von Freuden, denn die Lobpsalmen und Dankpsalmen haben? Da siehst du allen Heiligen ins Herze, wie in schöne lustige Gärten, ja in den Himmel, wie feine, herzige, lustige Blumen darin aufgehen von allerlei schönen, fröhlichen Gedanken gegen Gott und seine Wohltat. Wiederum wo findest du tiefere, kläglichere, jämmerlichere Worte von Traurigkeit, denn die Klagpsalmen haben? Da siehst du abermals allen Heiligen ins Herz, wie in den Tod, ja in die Hölle. Wie finster und dunkel ist's da von allerlei betrübtem Anblick des Zornes Gottes! Also auch wo sie von Furcht und Hoffnung reden, brauchen sie solcher Worte, dass dir kein Maler also könnte die Furcht und Hoffnung abmalen und kein Cicero oder Redekundiger also fürbilden.
Nun also in Gottes Namen das Psalmbuch aufgeschlagen, und der heilige Geist, der diese köstlichen Lieder den Frommen vor zwei und dreitausend Jahren eingegeben, wolle sie uns auslegen und wieder frisch und neu machen, als wären sie heute zum erstenmal gesungen.