Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das erste Capitel.

Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das erste Capitel.

Erste Abtheilung.

Das erste Capitel.

Betrachtung der Größe und Schwere der Erbsünde.

Heiliger Gott, gerechter Richter, ich weiß, daß ich in Sünden empfangen und geboren, ich weiß, daß ich aus unreinem Samen im Mutterleibe gebildet bin! Jenes Gift der Sünde hat meine ganze Natur so verdorben und angesteckt, daß keine Kraft der Seele von seiner Ansteckung frei geblieben ist. Es ist in mir untergegangen jene heilige Beilage des göttlichen Ebenbildes, die mir im Stammvater meines Geschlechtes anvertraut war; es ist keine Kraft übrig geblieben, auch nur den Anfang dazu zu machen, daß ich zu meinem Heile dich erkennete, dich fürchtete, dir vertrauete und dich liebte; es ist keine Fähigkeit übrig, geblieben; deinen Geboten Gehorsam zu leisten; mein Wille ist von deinem Gesetze abgewandt, und das Gesetz der Sünde in meinen Gliedern1), das da widerstreitet dem Gesetze meines Gemüths, macht, daß meine ganze Natur verdorben und verkehrt ist. Ich elender und beklagenswerther Mensch fühle die Heftigkeit der Sünde, die meinen Gliedern hartnäckig anhanget, ich fühle das Joch der bösen Lust, die mich schwer drückt! Denn obgleich ich in dem Bad der Laufe durch den Geist der Gnade wiedergeboren und erneuert bin2), so bin ich doch nicht in allen Stücken frei von dem Joch und aus der Gefangenschaft der Sünde, da jene bittere Wurzel, die in mir verborgen liegt, immer hervorsprossen will. Das Gesetz der Sünde, das im Fleische tobt, strebt darnach, mich gefangen zu nehmen; ich bin voll Zweifel, Mißtrauen, Ehrgeiz; aus dem Herzen kommen arge Gedanken, die mich vor dir ganz unrein machen; aus der vergifteten Quelle fließen vergiftete Bächlein hervor. Gehe daher nicht in's Gericht mit deinem Knecht, o Herr, sondern sey mir gnädig nach deiner großen Barmherzigkeit! Die Tiefe meines Elendes rufe die Tiefe deiner Erbarmung an. - Für diese Häßlichkeit meiner unreinen Natur biete ich dir dar die allerheiligste Empfängniß deines Sohnes. Mir ist er geboren3), mir also auch empfangen. Mir ist er gemacht zur Heiligung und zur Gerechtigkeit, also ist er mir auch zur Reinigung und Reinigkeit gemacht. Durch diesen und um dieses deines Sohnes willen erbarme dich meiner, o Höchster, und stelle nicht das verborgene Uebel der Verderbniß, das an meiner Natur klebet, in das Licht deines Angesichtes, sondern siehe an deinen geliebten Sohn, meinen Mittler! Seine allerheiligste und unbefleckte Empfängniß komme meinem Elend zu Hülfe! Amen.

1)
Röm. 7,23.
2)
Tit. 3,5.
3)
Jes. 9,6.
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