Frommel, Max - Am zweiten Sonntage des Advent.

Frommel, Max - Am zweiten Sonntage des Advent.

Es ist etwas eigentümlich Inniges und Sinniges um die liebe Adventszeit, so friedvoll und freudvoll und doch voll Harrens und Hoffens, so hell und klar wie der Ruf eines Herolds: „Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe,“ und doch so geheimnisvoll und wehmütig wie die Klage des Türmers: „Hüter, ist die Nacht schier hin?“. Advent ist wie der Rüsttag vor dem Feste, wie der Vorhof vor dem Heiligen, wie die stille erwartungsvolle Morgendämmerung vor der aufgehenden Sonne.

Das hat seinen Grund darin, dass wir als Christen von einem doppelten Advent wissen: von dem Kommen Christi ins Fleisch und von dem Wiederkommen Christi zum Gericht. Ja, unser ganzes Christenleben ist hineingestellt zwischen dieses doppelte Kommen unsers Zionskönigs und Friedefürsten: hinter uns die Welterlösung, vor uns die Weltvollendung; hinter uns die großen Taten Gottes, auf welchen unser Glaube ruht - vor uns die große Verheißung Gottes, auf welche unsere Hoffnung sich gründet. In dieser Doppelbewegung: von Christo her zu Christo hin! liegt der eigentümliche Zauber des Advents, weil er so ganz unserm Pilgrimstande hienieden entspricht. Denn wer an Christum glaubt, der sagt zwar: „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott,“ er fügt aber hinzu: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“ Er hebt an mit dem Triumph der Gewissheit: „Wir sind wohl selig“ fährt aber fort: „doch in der Hoffnung.“ Darum gehen bei Kindern Gottes die beiden Stücke gar wohl nebeneinander: „Stillesein“ und wiederum: „Gott loben in der Stille zu Zion.“ Ja, je tiefer die Stille des Gemüts, desto tiefer und voller erklingen die Saiten drinnen zu Dem, der da wohnen will unter dem Lobe Israels. In solche Adventsstille hinein lasst mich einen Psalm euch predigen, der mit dem doppelten Adventston vernommen sein will und welcher geschrieben steht:

Psalm 126.

Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan; der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich. Herr, wende unser Gefängnis, wie du die Wasser gegen Mittag trocknest. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

So sang Israel, wenn es hinaufzog gen Jerusalem zu den hohen Festen, und über Berg und Thal schollen seine Pilgerlieder, die Lieder im höhern Chor. Israel sang in schwerer Zeit, in einer Lage, die ihm däuchte wie ein Gefängnis, wie ein vom Sonnenbrand versengtes Feld, dürr und wasserlos, daher der Seufzer den Mittelpunkt des Psalms bildet: „Herr, wende unser Gefängnis, wie Du die Wasser gegen Mittag trocknest.“ Aber froh wurde Israels Herz, wenn es aus trüber Gegenwart rückwärts und vorwärts blickte, rückwärts in den Worten, mit welchen unser Psalm nach dem Grundtext beginnt: „Als der Herr die Gefangenen Zions erlöste, da waren wir wie die Träumenden.“ Denn als wir saßen an den Wassern zu Babel und unsere Harfen hingen an den Trauerweiden, als wir uns schon in die Gefangenschaft ergaben und Häuser gebaut und Felder gepflanzt hatten im fremden Lande, als da der Befehl des Aufbruchs erging, da waren wir wie die Träumenden, die es kaum glauben konnten, da war unsere Zunge voll Rühmens und unser Mund voll Lachens, da ging ein Staunen. selbst durch die Heidenvölker, und von Mund zu Mund ging die Rede unter den Heiden: „Der Herr hat Großes an ihnen getan.“ Und als wir die flüsternde Rede vernahmen, da scholl es laut von uns zurück: „Ja, der Herr hat Großes an uns getan.“ Aus diesem Blick rückwärts schöpfen wir nun auch die Zuversicht nach vorwärts, dass wenn wir auch jetzt mit Tränen säen, so wird doch ein Tag kommen, an welchem wir mit Freuden ernten werden. So sang Israel unsern Psalm als Pilgerlied. Meine Lieben, wir singen den Psalm neutestamentlich auch als Pilgerlied und wahrlich als Lied im höheren Chor, darum dass wir von einer höheren Erlösung wissen denn aus Babylons Gefangenschaft.

Ein Adventslied der pilgernden Kinder Gottes.

Wir singen es im Glauben als Lied der Erlösung, Wir singen unsern Psalm in der Hoffnung als Lied der Vollendung.

Herr Jesu, Du Adventskönig, der Du überwunden hast und sitzt zur Rechten des Vaters, hilf uns, Deinen Pilgrimen, dass auch wir überwinden in Deiner Kraft und das Ende unsers Glaubens davon bringen, der Seelen Seligkeit. Amen.

I.

Das Leben eines Christen hienieden ist ein Pilgerleben, dem es an schweren Lagen, an Kämpfen und Tränen nicht fehlt, so wenig wie dem Volke Israel im Vorbild. Der Christ lebt mit seiner erlösten Seele in einem sterblichen Leibe wie in einem Gefängnis, wie auch Paulus sagt: „Dieweil wir in der Hütte sind, sehnen wir uns und sind beschwert,“ und sein Leben gleicht oft einem Wandel in einem Felde, das von der Sonne verbrannt ist, dürr und wasserlos, wie Paulus sagt: „Wir müssen durch viel Trübsal ins Reich Gottes eingehen.“ Daher bleibt der Mittelpunkt aller Leidensgebete eines Christen: „Herr, wende unser Gefängnis. Mach End', o Herr, mach Ende mit aller unserer Not.“ Was aber einen Christen auch unter den Leiden zum Lobgesang treibt und ihm den Mund fröhlich macht, das ist der Blick in die große Vergangenheit und der Blick in die große Zukunft. Aus dem, was der Herr ihm getan, schließt er mit Zuversicht auf das, was er noch an ihm tun wird, und dieser doppelte Blick lässt ihn singen auch im tiefsten Leiden.

Wie lautet denn nun unser Psalm, gesungen im Glauben als Lied der Erlösung? Meine Lieben, wer Christum gefunden im bußfertigen Glauben, wer sich von Herzen zu Ihm bekehrt hat, der frohlockt: „Der Herr hat die Gefangenen Zions von der Knechtschaft der Sünde und des Todes erlöst, als er auf Golgatha rief: „Es ist vollbracht!“ Die Tür meines Kerkers hat Er aufgetan, wo ich saß im Schatten des Todes, und ich erblickte seine hehre Gestalt mit den Nägelmalen in seinen Händen und mit der Wunde in seiner Seite, mit der Heilandsliebe auf seinem Angesicht, mit der suchenden Hirtenliebe in seinen Augen. Und als er zu mir trat und ich hörte in seinem Wort seine holdselige Stimme mit der frohen Botschaft: „Fürchte Dich nicht, Ich habe Dich erlöst, du bist frei, Deine Schuld ist vergeben, Dein Lösegeld ist bezahlt“ da war mir doch wie einem Träumenden, dass ich mir an die Stirne griff und frug: Träume oder wache ich? Ist es wahr, dass ich soll sagen dürfen: Ich glaube eine Vergebung aller, aller meiner Sünden, ist's nicht zu viel, dass ich, der Verlorene, soll selig, ich, der Sünder, soll gerecht erklärt, ich, der Bettelarme und Verschuldete, soll ein Erbe des ewigen Lebens heißen? Ist's Traum oder Wahrheit, dass wir sollen singen dürfen:

Unser Kerker, da wir saßen
Und mit Sorgen ohne Maßen
Uns das Herze selbst abfraßen,
Ist entzwei und wir sind frei.

Wer aber Amen gesagt hat zu der Absolution Gottes: Gehe hin, deine Sünden sind dir vergeben; wer da spricht: Das ist gewisslich wahr, das ist gewisslich mein dem ist sein Mund voll Lachens geworden und seine Zunge voll Rühmens. Wer in Christo den Isaak gefunden, in welchem alle Verheißungen auf ewig erfüllt und alle Geschlechter ewig gesegnet werden, der sagt mit Sara: „Gott hat mir ein Lachen zugerichtet,“ und bekennt mit dem Sänger:

O, dass ich tausend Zungen hätte
Und einen tausendfachen Mund,
So stimmt' ich damit um die Wette
Vom allertiefsten Herzensgrund
Ein Loblied nach dem andern an
Von dem, was Gott an mir getan.

Und selbst die Heiden, die Kinder dieser Welt, müssen etwas davon inne werden, dass der Herr Großes an einem Menschen getan, der sich zu Christo in Wahrheit bekehrt hat, wenn sie sehen, dass das Reich Gottes nicht besteht in Worten, sondern in der Kraft, wenn sie erkennen, dass der Geist Gottes aus einem Weltkinde ein Gotteskind gemacht, dass er die Trägen fleißig, die Zornigen sanftmütig, die Unreinen keusch und die Stolzen demütig, wie er aus Kartenspielern Bibelleser und aus einem Saulus einen Paulus macht. Und wenn die Gläubigen davon etwas inne werden, was der Herr zu Philadelphia gesagt hat: „Siehe, ich will machen, dass deine Feinde kommen und erkennen sollen, dass Ich dich geliebt habe,“ dann antworten sie im Chor: „Ja, der Herr hat Großes an uns getan; nicht uns, Herr, nicht uns, sondern Deinem Namen gib Ehre.“ Er ist der gute Hirte, bei dem uns nichts mangeln wird in Ewigkeit. Des sind wir fröhlich.

So lautet das Pilgerlied Israels im höheren Chor als Lied von der Erlösung, wenn es der Glaube des Christen singt. Aber lass mich die Frage an dich richten: Kannst du das Lied singen? Kennst du die heilige Freude und die Zunge voll Rühmens darüber, dass der Herr die gefangene Seele erlöst hat? Kennst du die verborgene, täglich neue Kraft, welche darin liegt, dass ein Christ unter allen Umständen, auch unter Tränen singen kann: „Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich!“? Ich wende mich hier an die unter uns, welche es gern singen möchten, die es aber nicht zu singen wagen, weil ihnen das Lied zu hoch und ihre Lippen zu unrein erscheinen, weil sie ihrer Erlösung nicht gewiss und der Vergebung ihrer Sünden nicht froh sind. Meine Lieben, so lange wir noch, sei's ganz oder halb, in dem Gedanken gefangen sind, als müssten wir uns selbst erlösen durch eigene Besserung und Selbstveredlung, so lange unser Auge noch nach etwas sucht, das wir geleistet, um damit vor Gott zu bestehen, so lange wir an unserm Wirken, an unserm Wandel, an unserm. Werden ein Unterpfand begehren, dass wir bei Gott in Gnaden sind so lange kann von einem Frieden unserer Seele mit Gott keine Rede sein. Wir werden es doch wahrlich nie dahin bringen, zu sagen: Wir haben Großes an uns getan, des sind wir fröhlich! Wir werden nicht einmal von unserer Buße sagen können, dass sie groß und aufrichtig genug, noch von unserm Jagen nach der Heiligung, dass es ernstlich genug sei. Auf diesem ganzen Wege des eigenen Werdens liegt unser Friede nicht, sondern unser Kampf, der Kampf mit der Sünde, gewiss so unerlässlich, dass es gilt: Wo der Kampf aufhört, da hört das Christentum auf, ein Kampf unter Fallen und Aufstehen, unter Tränen und Wunden, und doch der größte und edelste Kampf, der Kampf mit sich selbst. Aber unser Friede liegt nicht in den einzelnen Siegen dieses Kampfes, liegt überhaupt nicht auf der Linie unsers Werdens und Kämpfens, sondern unser Friede liegt einzig und allein in der Tat Gottes für uns und an uns. Merkst du den Grundton unsers Liedes: Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich. Denn Er hat die Gefangenen Zions erlöst durch die Tat der Sendung seines Sohnes, durch die Tat des Opfertodes auf Golgatha, durch die Tat der Sendung seines Geistes, durch die Tat der Taufe, durch die Tat der Erweckung unsers Glaubens durch seinen Geist, durch die Tat der Rechtfertigung, darin er den Sünder, der an Christum glaubt, frei, los und ledig spricht von aller seiner Sünde. Von unserm kleinen Ich und seinen engen Kreisen um sich her gilt es aufblicken auf alle diese großen Taten Gottes, die Er in Wahrheit bereits an uns getan, wenn wir sollen wahrhaft froh werden. Denn so sagt die Schrift: „Das dem Gesetz unmöglich war, sintemal es durch das Fleisch geschwächt ward, das tat Gott und sandte seinen Sohn.“ Und als der Sohn am Kreuz das Opfer gebracht für die Sünde der ganzen Welt, konnte er rufen: Es ist vollbracht! denn mit Einem Opfer. hat er in Ewigkeit vollendet, die da geheiligt werden.“ Und wer den Zug des Vaters zum Sohne an seinem Herzen spürt, der weiß auch: Fleisch und Blut hat mir das nicht geoffenbart, sondern der Vater im Himmel durch seinen heiligen Geist. Auf diesem Grunde muss unser Haus ruhen, nicht auf dem Sande unserer Gefühle oder unserer Vorsätze, sondern auf dem Fels der Großtaten Gottes an unserer Seele. Über mich, mein Leben und Wirken, mein Werden und Wachsen kann ich mich doch nie freuen ohne die bittere Empfindung der Reue über so vieles Versäumen und Zurückbleiben, über so Vieles, was anders und besser hätte getan werden müssen, über so viel Mangel und Stückwerk. Aber über das, was Gott an mir getan, kann ich allezeit frohlocken in reiner selbstloser, Bewunderung, in völliger Gewissheit, in demütiger Anbetung. Je ärmer mein eignes Tun in meinen eignen Augen, desto reicher und größer das Tun meines Gottes; je trüber die Lebenstage und Leidensnächte, desto heller und strahlender die Taten Gottes, die er ohne all mein Verdienst und Würdigkeit aus seiner lauteren göttlichen Güte und Barmherzigkeit an mir getan, Hier liegt die Wonne eines Christen, weil er nie sagen wird: Ich glaube an mich, sondern sagen wird: Ich verzweifle an mir, aber ich glaube an Gott, der mich erschaffen, erlöst und geheiligt hat. Mit Einem Worte: Nicht unser Werden, sondern die Geschichte Gottes mit uns, seine an uns geschehene Tat der Erlösung, nicht unsere arme Gegenwart, sondern sein großes Perfektum oder Großtat das ist der Springquell aller heiligen Freude und der ewige Text unserer Loblieder: Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich. Halleluja.

II.

Freilich bleibt daneben der Seufzer unsers Psalms bestehen in unserer Pilgrimschaft: „Herr, wende unser Gefängnis.“ Der Christ fühlt das Missverhältnis zwischen der erlösten Seele und ihrem unverklärten Leibe, ja mehr, er fühlt mit Schmerz den täglichen Kampf des Geistes mit dem Fleisch, d. h. den Kampf seines neuen wiedergeborenen Ich mit seiner alten sündigen Natur, ein Kampf, bei welchem auch ein Paulus in den Seufzer ausbricht: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ Der Christ fühlt den Missklang zwischen dem Erlöstsein von Sünde und dem Umringtsein vom Übel in dieser Welt, zwischen dem Frieden mit Gott und dem Kampf mit der Welt und ihrem Fürsten, zwischen dem Bürgersein im Himmel und dem. Fremdlingsein auf Erden, ein Missklang und Widerstreit, der ihm die sechste und siebente Bitte des Vaterunsers auspresst: „Vater, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel.“ Da hebt er denn sein weinendes Auge empor zur ewigen Herrlichkeit und wartet auf die Stunde seines Heimgangs oder der Wiederkunft Christi, da singt er im Blick auf diese große Zukunft abermals unsern Psalm, singt ihn in der Hoffnung als ein Lied der Vollendung, als eine Weissagung auf den endlichen Sieg im höheren Chor: Wenn der Herr im seligen Sterben die Gefangenen Zions erlösen wird aus dem Leibe dieses Todes, wenn die Lazarus-Engel die müde Seele heimtragen in Christi Schoß, dann werden wir sein wie die Träumenden. Aber es geht von Licht zu Licht, von Klarheit zu Klarheit, es geht zum Erwachen nach seinem Bilde. Wenn er uns heimholt auf Eliä Wagen, und es geht hinein durch die perlenen Tore und die güldenen Gassen, hinein in den Chor der tausend mal tausend Engel, in die Schar der Palmenträger und Harfenschläger am kristallnen Meere, hinein zu der Gemeinde der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten, hinein zu Jesu, zu seinen Füßen, Ihm in sein Angesicht zu schauen und Ihm die durchgrabenen Füße zu küssen dann wird unser Mund voll heiligen Lachens und unsere Zunge voll ewigen Rühmens sein, und herauf wird es tönen aus der Hölle, wenn der reiche Mann den armen Lazarus selig sieht, wenn Kaiphas und die Schriftgelehrten sehen auf den Ehrenthronen Petrus und Johannes, die sie hier verlacht, wenn der Chor der Verlorenen aufschaut und erblickt die Jünger und Jüngerinnen Jesu, „Propheten groß und Patriarchen hoch, auch Christen insgemein,“ wie sie Könige und Priester sind auf ewig dann wird es herauftönen aus der Tiefe unter Heulen und Zähneknirschen: Der Herr hat Großes an ihnen getan und herüber wird's brausen von dem Tisch des ewigen Gastmahls im schimmernden Hochzeitssaale, ein hunderttausendstimmiger Chor der Seligen: Ja wahrlich, der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich und selig in Ewigkeit.

O meine Lieben, dieser Blick in die große Zukunft lässt einen Christen singen auch mitten im Elende. Durch das Wort lässt Gott uns erblicken im Glauben die Herrlichkeit der zukünftigen Welt, und sein Geist gibt uns hienieden schon Stunden, wo unsere Seele schwebt über den Höhen auf Erden und gespeist wird in Vorahnung mit dem himmlischen Erbe. Es gibt Sterbebetten gläubiger Seelen, über welchen eine Verklärung lagert und von welchen Kräfte der zukünftigen Welt ausgehen, dass auch Fernerstehende ergriffen werden von der Morgenluft der Ewigkeit, die um solche Siech- und Siegesbetten seiner Heiligen weht. Wenn mein großer Vorgänger hier (in Celle) Johann Arnd, auf seinem Sterbebette freudestrahlend rief: „Ich habe die Herrlichkeit des Herrn gesehen,“ so ist das wie ein Schauen Mosis auf dem Berge Nebo hinüber ins gelobte Land und in die Erbteile der Kinder Israel, oder wie der Blick Johannis, dem der Engel im Gesicht die Stadt Gottes zeigt im Morgenlicht der Ewigkeit. Da regt der Geist seine Schwingen, da greift die Hand nach der Harfe, da schwellen die Lippen von dem Gesang des Heimwehs, wie es der Sänger in dem herrlichen Liede ausspricht:

Ich hab' von ferne, Herr, deinen Thron erblickt,
Und hätte gerne mein Herz vorausgeschickt,
Und hätte gerne mein müdes Leben,
Schöpfer der Geister, dir hingegeben.
Das war so prächtig, was ich im Geist gesehn;
Du bist allmächtig, drum ist dein Licht so schön.
Könnt ich an diesen hellen Thronen
Doch schon von heute an ewig wohnen.
Ich bin zufrieden, dass ich die Stadt gesehn,
und ohn Ermüden will ich ihr näher gehn
Und ihre hellen goldnen Gassen
Lebenslang nicht aus den Augen lassen.

So lautet unser Psalm als Lied von der Vollendung, wenn es die Hoffnung des Christen singt. Aber lass mich auch hier die Frage an dich richten: Kannst du das Lied singen? Kennst du das heilige Verlangen und Sehnen der Seele, abzuscheiden und bei Christo zu sein, weil Christus dein Leben und Sterben dein Gewinn ist? Kennst du die verborgene, täglich neue Kraft, welche darin liegt, dass ein Kreuzträger Christi unter allen Umständen zuversichtlich sagen darf: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und der Herr wird mich erlösen von allem Übel und mir aufhelfen zu seinem himmlischen Reich?“ Die Hand aufs Herz: Wär' es dir die höchste Freude, wenn der Herr heute zu dir träte und zu dir spräche: Heute sollst du mit mir im Paradiese sein?“ Siehe, darauf wird mit ehrlichem Ja nur antworten können, wer inwendig Balet gesagt hat der Welt und ihrer Lust, wer aufgebrochen und ein Pilgrim geworden ist, der Christo nachfolgt in seiner Niedrigkeit und Christo entgegengeht zu seiner Herrlichkeit. Das Lied der Vollendung kann nur der fingen, der zuvor das Lied der Erlösung gesungen, nur wer im Glauben gewiss geworden der Vergebung, ist in der Hoffnung gewiss der ewigen Freude. Wer aber Christum den Gekreuzigten ergriffen hat als seine einzige Rettung,` der hält auch fest Christum den Auferstandenen und Thronenden und Wiederkommenden als seine einzige Hoffnung. Wem er zum A geworden in der Erlösung, dem ist er auch zum O geworden für die Vollendung.

So kehrt das Ende unserer Betrachtung in ihren Anfang zurück: das Christenleben steht zwischen dem doppelten Advent Christi: hinter uns die Welterlösung, darauf unser Glaube ruht; vor uns die Weltvollendung, nach der unsere Hoffnung sich streckt. Daher aber auch die Doppelgestalt des Christenlebens: neben dem Mund voll Lachens über der Erlösung in Christo fehlt es nicht an den Augen voll Tränen über Sünde und Tod; neben der Zunge voll Rühmens steht der Seufzer voll Sehnsucht: „Herr, wende unser Gefängnis;“ neben dem Hosianna, dass der Herr gekommen ist, steht das Flehen des Geistes und der Braut: Ach komm, Herr Jesu, komme bald.“ Aber das ist unsere Adventsfreude, dass wie wir von Ihm herkommen, wir auch zu Ihm hingehen, und dass es darum wahr bleibt, was der Schluss unsers Textes von dem Pilger-Leben der Christen sagt: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen wieder mit Freuden und bringen ihre Garben.“

Summa, es ist ein selig Ding, ein Jünger und eine Jüngerin Jesu zu sein und in Freud und Leid, mit einem Munde voll Lachens und mit Augen voll Tränen, im Leben und im Sterben singen und sagen zu können: „Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich.“ Amen. Halleluja. Amen.

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autoren/f/frommel_max/frommel_max_-_2._advent.txt · Zuletzt geändert: von aj
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