Frommel, Emil - Ein Vaterunser auf hoher See - Die vierte Bitte.
Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns Allen.
Amen.
Ev. Matthäus 11, 1.
Unser täglich Brot gib uns heute! Amen.
Ihr kennt das wunderbare Traumgesicht des Erzvaters Jakob auf Bethels hartem Stein. Der Himmel öffnet sich zu seinen Häupten, und er sieht eine Leiter ragen vom Himmel herab zur Erde; auf der obersten Sprosse steht er selbst, Gott der Herr, und seine Engel steigen hernieder zur Erde und wieder empor zu Gott.
Christen, auch vor unseren Augen ragt eine Himmelsleiter: Das heilige Vaterunser. Obenan steht Gott der Herr: „Vater unser, der du bist im Himmel“ und nun steigen die heiligen Bitten hernieder auf den drei großen Stufen des göttlichen Namens, des göttlichen Reiches, des göttlichen Willens herab bis auf unsere Erde: „Unser täglich Brot gib uns heute“, um dann wieder auf den drei großen Stufen der Bewahrung, der Vergebung, der Erlösung zurückzukehren zu Gott: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“
So steht sie denn, unsere heutige vierte Bitte: „Unser täglich Brot gib uns heute!“ ringsum eingeschlossen von sechs Bitten um Himmlisches, gleichwie unsere kleine Erde rings umwölbt ist von Gottes weitem Himmel. Aber so hoch auch der Himmel über der Erde ist die Erde behält doch ihre große Bedeutung für den Himmel, und so hoch die himmlischen Güter über den irdischen stehen, die vierte Bitte, recht gebetet, erzieht doch den Menschen für den Himmel. Wohlan denn: Der Segen der vierten Bitte:
- Sie faltet unsere Hände zum Danken.
- Sie stärkt unsere Hände zum Arbeiten.
- Sie öffnet unsere Hände zum Geben.
I.
Schau zuerst an das Wörtlein „gib“! Es ist kein Befehl, es ist eine Bitte, hinaufgebetet in den Himmel: „Vater unser, gib uns unser täglich Brot.“ So notwendig für jeden Menschen das tägliche Brot, so notwendig auch für Jeden das Wörtlein „gib“! Oder meinst du, der Landmann, wenn er gepflügt und geeggt, wenn er gesät und gemäht, wenn er eingesammelt und gedroschen hat, meinst du, er dürfte sagen: Ich gebe mein Brot mir selbst? O welch ein Tor, wer so spricht! Kann er auch einen einzigen Regentropfen, einen einzigen Sonnenstrahl schaffen? Kommt nicht Regen und Sonnenschein, Blühen und Fruchttragen, kommt nicht alle gute, alle vollkommene Gabe von oben herab? Siehe, mein Christ, Gott gibt das tägliche Brot.
Oder darf der Handwerker, der vom frühen Morgen bis zum späten Abend Hammer oder Säge oder Kelle geführt, darf er sich in die Brust werfen: Ich verdiene mir selbst mein täglich Brot? ein Augenblick, dass Gott Seine Hand von ihm zieht, und sein Arm, sein Fuß bricht, und mit dem Verdienen ist's vorbei. Siehe, Gott gibt das tägliche Brot.
Oder darf der Seemann, der sein Schiff durch Wogen und Klippen frachtbeladen zum Hafen steuert, darf er sich rühmen: Ich erkämpfe mir selbst mein täglich Brot? Nein, er weiß, Rettung und Untergang, Fahren auf die Höhe und Sinken in die Tiefe, liegt in der Hand dessen, der Wolken Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn. Siehe, Gott gibt das tägliche Brot.
Darum, wer du auch bist, welches Brot du auch isst, ob eigenes oder fremdes, ob leicht erworbenes oder sauer verdientes, jeden Bissen reicht dir deines Gottes Hand, jeden Tisch deckt dir deines Gottes Gnade. Jedes Geldstück hilft dir dein Gott verdienen. Preußens Könige haben es gewusst, und darum haben sie die preußischen Taler prägen lassen mit der Umschrift: „Gott mit uns“ ja, Gott mit dir! wär's nicht so, wer weiß, du müsstest vielleicht herumgehen und betteln. Also noch einmal: „Gott gibt das tägliche Brot.“
Und wir - was geben wir Ihm? Was tut die Blume, Sie öffnet ihren Kelch, wenn der Sonnenstrahl .sie geküsst? nach oben. Was tut der Vogel, wenn er sein Futter gefunden? Er singt sein Lied zum Himmel. Was tut ein Kind, wenn es beschenkt worden? Es küsst der Eltern Hand. Und du, der du mehr bist als die Lilien auf dem Felde, als die Vögel unter dem Himmel, du Kind deines himmlischen Vaters - du solltest nach unten schauen und nicht nach oben, du solltest stumm bleiben und ihm nicht danken, seine treue, liebe Vaterhand nicht küssen? - Nein, die vierte Bitte mahnt uns: Dankt dem Herrn, denn er ist freundlich, sie will dir die Hände falten zum Danken, aber dann auch weiter:
II.
Die Hände stärken zum Arbeiten.
Nun schau' dir das andere Wörtlein an, das Wörtlein: Wir beten nicht: mein täglich Brot nein, „Unser.“ unser täglich Brot gib uns heute. Das will sagen: Gott streckt uns wohl seine gefüllte Vaterhand entgegen, aber Er wirft uns nicht das tägliche Brot in den Schoß; nein, nun müssen wir unsere Hand ihm entgegenstrecken, in treuer Arbeit, treuer Pflichterfüllung es aus seiner Hand nehmen, erst dann ist es „unser“ täglich Brot.
Ist die Erde ein Schlaraffenland, wo Einem das tägliche Brot in den Mund fällt, oder ist sie nicht vielmehr ein Ackerland, auf dem man es sich bauen muss? Ist das Leben ein Markt, auf dem man müßig herumstehen darf, oder ist es nicht vielmehr ein Weinberg, in dem man arbeiten muss? Wie hat es Gott bestimmt? Wozu setzte Gott Adam und Eva in den Garten Eden? Zum Spazierengehen? Nein, dass sie ihn bebauten und bewahrten. Nur dann durften sie essen von allen Bäumen im Garten. So bleibt's vom ersten bis zum letzten Menschen dabei: „So Jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen.“ Darum, nur das ist wahrhaft unser täglich Brot, das wir durch dankbares Gebet vom Himmel und durch fleißige Arbeit von der Erde empfangen haben. „Bete und arbeite!“ Das ist das Geheimnis der vierten Bitte.
Und nun komm' und lege dein täglich Brot auf diese Gewissenswage und siehe, ob nicht wie einst in Belsazars Speisesaal auch bei dir die Flammenschrift erscheint: „Gewogen, gewogen und zu leicht erfunden!“ Zu leicht erfunden dein täglich Brot, wenn du nichts weißt vom Schweiße des Angesichts, nichts von den Schwielen in der Hand, sondern nur von Genuss, von Bequemlichkeit, von Vergnügen. Zu leicht erfunden dein täglich Brot, wenn du nur die Fragen kennst: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werde ich mich belustigen? und nicht auch die heilige Energie, den sittlichen Entschluss:
„Gib, dass ich tu mit Fleiß,
Was mir zu tun gebühret,
Wozu mich mein Beruf
In meinem Amte führet!“
Zu leicht erfunden dein täglich Brot, wenn dein Streben nur immer geht nach weniger Arbeit und nach höherem Lohn. Zu leicht erfunden dein täglich Brot, wenn es zusammengebettelt oder zusammengestohlen ist auf gröbere oder feinere Weise, wenn es erworben ist durch Spiel oder Sonntagsarbeit, wenn es vermehrt ist dadurch, dass du es deinen Leuten im Hause vorenthalten hast.
O wie viel ernste Fragen stellt doch die vierte Bitte an uns!
III.
Und zuletzt: Sie öffnet unsere Hand zum Geben. Wirf noch einen Blick auf das Wörtlein „uns“. Unser täglich Brot gib uns heute! Kein „Mein“, kein „Mir“, kein Mich“ steht in der vierten Bitte, nein nur ein „Unser“, ein „uns“. So ist sie nicht nur eine Bitte für uns, sie ist zugleich eine Fürbitte für unseren Nächsten.
Freunde! in unserer Zeit, da wir neben einem ungeheuren Reichtum eine wahrhaft erschreckende Armut erblicken, da wir sehen, wie es Tausenden wirklich am täglichen Brote fehlt, wie Viele zu Grunde gehen, weil sie nicht Luft und Licht, nicht die nötige Nahrung haben, -wollen wir kalt, vornehm, gleichgültig danebenstehen? Wollen wir uns damit beruhigen, dass wir dann und wann ein paar Groschen geben? Nein, lasst uns lernen vom Herrn, der von sich spricht: „Mich jammert des Volkes, denn sie haben nichts zu essen.“ Dies heilige Erbarmen mit dem Elend unserer Brüder, dies heilige Mitgefühl, das sich mit verantwortlich fühlt für ihre Not, diese Heilige Liebe, die die Kainsfrage nicht kennt: Soll ich meines Bruders Hüter sein? und immer mehr in das Prophetenwort sich hineinlebt: Brich dem Hungrigen Dein Brot! - sie soll der Segen der vierten Bitte sein. O lasst, wenn wir beten: Unser täglich Brot gib uns heute! lasst uns bei dem Wörtlein: „uns“ die Hände fester falten und hineinbeten alle die Kranken und Sterbenden, die Armen und Notleidenden, die Hungernden und Verkommenden: „Vater unser, der du der rechte Vater bist über Alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, unser täglich Brot gib uns heute, gib es nicht nur uns, gib es Allen, die es entbehren!“
Solches Mitleid verschließt sich nicht im Herzen, es muss zur Tat werden, solche erbarmende Liebe ist kein bloßes Gefühl, ihre Liebesflammen schlagen lodernd hervor.
Und nun zum Schluss: Sag' an: Hast du in deinem Leben schon Spuren dieser heiligen Nächstenliebe hinterlassen? Haft du in dem Kreise, in dem du stehst, schon angefangen, die Not, die dir vor Augen kam, zu lindern mit Mahnung und Warnung, mit Zuspruch und Tröstung, mit Rat und Tat? O lasst uns durch jedes Vaterunser, das wir beten, durch jede vierte Bitte, die wir sprechen wachsen in der Dankbarkeit gegen unseren Gott, treuer werden in der Arbeit unseres Berufs, herzlicher in der Liebe gegen unseren Nächsten, bis wir einst dahin kommen, wo alle Nahrungssorgen schweigen, wo alle irdischen Wünsche verstummen, und wir volles Genüge finden werden in dem, der von sich gesagt: „Ich bin das Brot des Lebens.“ Amen.
Gebet.
Treuer, barmherziger Gott, auf dein Gottesherz legen wir auch heute getrost alle Fragen und Sorgen unseres irdischen Lebens. Wir haben es so oft erfahren: Dein Arm ist stark, deine Liebe so reich, du kannst uns geben über Bitten und Verstehen, o, mache uns immer dankbarer für deine Gaben, immer treuer in unserer Arbeit, immer brennender in heiliger Liebe.
Halte deine segnende, schirmende Hand über uns, über unser Schiff, über die Unsrigen daheim, über unser Volk. Wen du segnest, der bleibt gesegnet ewiglich. Herr, wir lassen dich nicht, du segnest uns denn! Amen.