Frommel, Emil - Ein Vaterunser auf hoher See - Die sechste Bitte.
Die Gnade unseres Herrn und Heilands Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.
Ev. Matthäus 6, 13.
Führe uns nicht in Versuchung! Amen.
„Willst du den Frieden, so rüste den Krieg!“ - dies Wort altrömischer Staatsweisheit ihr wisst es gilt noch heutigen Tages. Wer Frieden haben will, ist ein Tor, wenn er meint, mit dem einmal geschlossenen Frieden sei's genug, und sein Schwert an die Wand hängt und auf seinen Lorbeeren ruht. Nein, willst du den Frieden, dann muss das Auge wach, das Schwert scharf, die Hand am Griff bleiben.
„Willst du den Frieden, so rüste den Krieg!“ es gilt auch fürs Leben der Christen. Ein zwiefacher Tor, wer sein Vaterunser schließt mit der fünften Bitte: „Vergib uns unsere Schuld!“ und meint, mit der einmal vergebenen Schuld sei der Kampf mit der Sünde beendet, sei der Friede gesichert. Nein: „Willst du den Frieden, so rüste den Krieg!“ so mahnt die tägliche Erfahrung. „Wer da meint, er stehe, sehe wohl zu, dass er nicht falle!“ so mahnt der große Apostel. „Wacht! Wacht und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!“ so mahnt unser Herr und Heiland. „Führe uns nicht in Versuchung!“ so mahnt das heilige Vaterunser:
„Führe uns nicht in Versuchung!“
ich höre zwei ernste Fragen heraus:
- Fühlst du die Versuchung?
- Fürchtest du die Versuchung?
I.
Wir beten die sechste Bitte: „Vater unser, der du bist im Himmel, führe uns nicht in Versuchung!“ Und doch sagt die Heilige Schrift des Öfteren: Gott versuchte die Menschen. Er versucht einen Abraham und schickt ihn mit seinem einzigen Sohne nach Morija. Warum? Um seinen Glauben zu stählen. Er versucht das ganze Volk Israel und lässt es vierzig Jahre in der Wüste. Warum? Um seine Widerspenstigkeit zu brechen. Christen, soll die sechste Bitte heißen: Herr, verschone uns mit diesen Versuchungen, diesen Prüfungen? Wie? Darf das Gold sagen: „Ich will nicht ins Feuer“? und doch wird es erst im Feuer von den Schlacken geläutert. Darf der Soldat sagen: „Ich mag nicht in den Kampf“? und doch erst im Kugelregen erhält er seine Feuerprobe. Darf der Seemann sagen: „Ich mag nicht in den Sturm“? und doch erst im Sturm reifen Mut und Erfahrung. Darf ein Christ sagen, ja, darf er es betend vor seinen Gott bringen: „Ich mag nicht in die Versuchung, in die Prüfung“? und doch erst in den Prüfungen wächst und erstarkt der Christ. Nein, diesen Segen wollen wir uns mit der sechsten Bitte nicht wegbitten.
Ihr wisst, es gibt eine doppelte Versuchung: eine Versuchung zum Guten, aber auch eine Versuchung zum Bösen. Eine Versuchung von oben, aber auch eine Versuchung von unten. Wer kennte die letztere nicht! Seit jener ersten Versuchung im Paradiese bleibt kein Mensch davon verschont.
Die Versuchung tritt in die Hütte des Armen und flüstert ihm ins Ohr: „Warum mit so Wenigem zufrieden? Die Anderen haben es viel besser. Warum immer so ehrlich? Damit kommst du nicht vorwärts!“ Die Versuchung tritt in den Palast des Reichen und lockt: „Iss und trink', du hast Vorrat auf viele Jahre! Genieße das Leben in vollen Zügen, man lebt nur einmal!“ Die Versuchung naht dem Kinde und lockt es zu Unwahrheit und Ungehorsam; sie macht sich an den Jüngling, und ihre Lockungen heißen: Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen; sie folgt dem Manne und möchte ihn verführen zu Hochmut, zu Selbstvertrauen; ja selbst noch den Greis zieht sie in die Schlingen der Lebensmüdigkeit oder Leidensungeduld. Kein Alter, auch kein Stand ist vor Versuchungen sicher. Kain der Ackersmann, und Lot der Schäfer, Petrus der Fischer, und Zachäus der Zöllner, Pilatus der Beamte, und Kaiphas der Hohepriester - wer könnte sie Alle nennen, Alle kommen in Versuchungen. Blicke hinein in dein eigenes Leben, weißt du von Versuchungen? hinein in die Aufgaben deines Berufs, in den Kreis deiner Freunde, in die Wände deines Hauses, vor Allem in die tiefsten Tiefen deines Herzens. Fühlst du, kennst du die Versuchungen? Und die andere Frage:
II.
Fürchtest du die Versuchungen?
Du sagst: „Was? Fürchten? Was ist ein versuchlicher Gedanke? was ist ein verführerisches Wort? Bis zur Tat, bis zur Sünde ist noch ein weiter Weg.“ Freund, glaubst du wirklich? Du hast hinaufgeschaut ins Hochgebirge. Kennst du die Lawinen? Eine Hand voll Schnee löst sich los, kommt ins Rollen, jetzt noch klein, aber sie wächst und wächst - schließlich wird ein stürzender Berg, der Häuser und Menschen begräbt.
Was ist eine Versuchung zum Ungehorsam?! dachte Saul und achtete ihrer nicht, und aus der einen Versuchung wurden zwei, aus der einen Sünde zehn, und er endet auf Gilboa, das selbstmörderische Schwert in der Brust.
Was ist eine Versuchung zum Geiz? Das Herz eines Judas lässt sich von ihr umstricken erst Untreue gegen seinen Herrn, dann Gleichgültigkeit, dann Hass, dann Verrat und schließlich ein Ende mit Schrecken.
Ja, fürchte den Funken, er kann zur Flamme werden und Häuser zerstören. Fürchte die Versuchung, sie kann zur Sünde werden und dein Leben vernichten.
Und doch möchte ich's dir auch wieder zurufen: „Fürchte sie nicht!“, denn du hast in deinem Vaterunser die sechste Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Du hast im Himmel einen Gott, der barmherzig ist und gnädig, geduldig und von großer Güte, und wenn du dich aus der Gefahr der Versuchungen an Sein Vaterherz flüchtest, Er wird dich mit Seinem Vaternamen schützen; du hast einen Gott im Himmel, der der Herr über Alles ist. Er kann der Schlange den Kopf zertreten und ihre Versuchungen zunichtemachen, Er kann der Löwen Rachen zuhalten, dass sie dir kein Leids tun, Er kann den Engeln Befehl geben, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.
Zu Ihm schau' empor, Ihm vertrau', und Er wird dich vor mancher Versuchung bewahren. Und wenn Er dir doch manche Versuchung nicht ersparen kann, dann geh' hinein in den Kampf als ein rechter Streiter, in der Linken den Schild, in der Rechten das Schwert. „Ergreift“, so ruft der Apostel, „den Schild des Glaubens, damit ihr auslöschen könnt alle feurigen Pfeile des Bösewichts.“ Wenn die Pfeile fliegen, wenn sie dir einreden wollen, es gibt keinen Gott halte. den Schild hoch: „Ich glaube an Gott den Vater.“ Wenn die Pfeile fliegen, wenn sie dich verführen wollen zu Sünde und Schande den Schild hoch: „Ich glaube an Jesum Christum, der für mich gestorben und auferstanden ist.“ Wenn die Pfeile fliegen, wenn man dich hineinlocken möchte in Zeitgeist und Weltgeist den Schild hoch: „Ich glaube an den Heiligen Geist.“ Den Schild hoch und das Schwert heraus, und dein Schwert ist das Wort Gottes. Sieh', da steht Er in der Wüste, dein Heiland, vor Ihm der Versucher. Welches Schwert schwingt Er? und lässt es dreimal blitzen über dem Haupte des Versuchers? Dreimal spricht Er: Es steht geschrieben! Da verließ Ihn der Teufel. Mit der Bibel in der Hand, mit der Bibel im Herzen - da bist du gefeit gegen die Angriffe des Versuchers.
Wohlan denn, in allen Kämpfen, allen Versuchungen deines Lebens lass den Mut nicht sinken, werde nicht fahnenflüchtig, nein, halte aus, halte durch und sing' und sag' mit deinem Luther:
Und wenn die Welt voll Teufel wär'
Und wollt' uns gar verschlingen,
So fürchten wir uns nicht so sehr,
Es muss uns doch gelingen! Amen.“
Gebet.
Herr Jesu Christe, der du versucht worden bist allenthalben, gleichwie wir, doch ohne Sünde, du großer Hoherpriester, der du Mitleiden hast mit unserer Schwachheit, Herr, führe uns nicht in Versuchung, halte deine heilige starke Hand über uns, und wenn wir von Teufel, Fleisch und Welt angefochten werden, lass uns doch endlich gewinnen und den Sieg behalten.
„Ach bleib' mit deinem Schutze
Bei uns, du starker Held,
Dass uns der Feind nicht trutze,
Noch fäll' die böse Welt. Amen.“