Ficker, Christian Gotthilf - Wie die Reformation das Wort des Erlösers verklärt: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben“.
Predigt am Reformationsfeste 1846
Über Joh. 5,24.25.
gehalten und herausgegeben von
Christian Gotthilf Ficker,
Lizentiat der Theologie und Pfarrer in Michelwitz bei Pegau.
Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen! Amen.
Wenn wir fragen, was es gewesen sei, was Luthern getrieben habe, jene bekannt gewordenen 95 Lehrsätze an die Schlosskirche zu Wittenberg anzuschlagen, um damit dem sündlichen und verderblichen Missbrauche, welchen zu jener Zeit die päpstliche Kirche mit der Lehre von der Sündenvergebung trieb, entgegen zu treten: so werden wir uns durch eine genauere Einsicht nicht nur in diese Lehrsätze selbst, sondern auch in die weitere Entwicklung des reformatorischen Geistes bald davon überzeugen, dass es nichts anderes gewesen sei, als die durch Gottes Wort gewonnene und durch die Erfahrung des eigenen Lebens bestätigte und verklärte Überzeugung von der allgenugsamen Kraft und dem Verdienste des Erlösers, wie beides in der heiligen Schrift dargestellt und verkündigt ist und von der einzelnen Seele im Glauben ergriffen werden muss. Wie einst am ersten Pfingstfeste viele tausend Seelen durch die Predigt des Evangeliums, dass Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters und zum Heil der in Sünden gefangenen und begrabenen Menschheit, gewonnen wurden für das Reich Gottes: so ists zunächst und vorzüglich auch bei Luther allein das göttliche Wort gewesen, welches die ersten Strahlen auch in seine von Nacht und Grauen umgebene Seele hineinwarf; welches die Augen seines Geistes schärfte, dass er an dem Lichte Jesu Christi sich selbst und die Gnade Gottes erkannte; welches die Kraft seines Geistes stärkte, also dass er mutig und freudig im Namen Gottes und Jesu Christi den durch Gottes Gnade gefundenen Weg des Heils predigte und welches den Mut ihm rettete und bewahrte, dass er sicheren und getrosten Schrittes seinen Weg ging, ob auch von allen Seiten Gefahr, Angst, Sorge und Trübsal auf ihn einstürmten. Ist er auch kein Fremdling gewesen auf den verschiedenen Gebieten des menschlichen Wissens; hat er vielmehr bei sich selbst und bei andern darauf gedrungen, dass Alles fleißig erkannt und gewissenhaft benutzt werde, was von den menschlichen Bildungsmitteln dazu dienen kann, Geist und Herz zu bilden und auch hierdurch immer geschickter und geneigter zur Erkenntnis des in der heiligen Schrift niedergelegten Gotteswortes zu machen; hat er in dieser Beziehung der Vernunft das Wort geredet und sie als eine teure Gabe Gottes gepriesen und genützt: so hat er alles dieses dem göttlichen Worte selbst gegenüber für gering geachtet und mit seinem Paulus niedergelegt unter dem Kreuze Jesu Christi. Er selbst hat es einmal ausgesprochen: „Wollte Gott, dass mein und anderer Ausleger Worte ganz untergingen und allein das Wort Gottes, das Wort Jesu Christi übrig bliebe und bestände.“ Er selbst hat es ausgesprochen in seinem ewig denkwürdigen Liede:
„Mit unsrer Macht ist nichts getan,
Wir sind gar bald verloren.
Es streit't für uns der rechte Mann,
Den Gott selbst hat erkoren.
Fragst du, wer er ist?
Er heißt Jesus Christ,
Der Herr Zebaoth,
Und ist kein andrer Gott,
Das Feld muss er behalten.“
Und wie er selbst in Gottes Wort sein Licht, seine Kraft, seinen Trost und seinen Frieden gefunden hat, wie er selbst im Glauben an die Stimme des Sohnes Gottes vom Tode hindurch gedrungen ist zum ewigen Leben, also dass wir selbst, die wir zu Anfang des Jahres sein Totenfest gefeiert haben, nun heute auch wiederum sein Lebensfest feiern mit Dank und Freude: so ist es mit allen Gliedern der evangelischen Kirche gewesen, die seit den Tagen der Reformation um das Wort Jesu Christi und nur um dieses sich versammelt und welche in ihm allein ihren Erlöser und Versöhner gefunden haben. Ja gerade die Reformationszeit hat es, wie keine andere seit den Tagen der ersten apostolischen Kirche, bewiesen, welch' eine Gewalt und Kraft dem göttlichen Worte inwohnt und wie der Glaube an dasselbe alles Verwundete heilt, alles zerstreute sammelt, alles Schwache stärkt und alle Sorge und Bekümmernis hinwegnimmt aus dem Herzen und Leben. Die Reformationszeit hat das Wort des Erlösers verklärt, das heute unsre Betrachtung leiten soll: „Wer mein Wort hört rc.“ Gott gebe uns dazu seinen Segen!
Text. Johannes 5,24.25.
„Wer mein Wort hört, und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben, und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben.“
Wie das Wort Gottes, über welchem der Erlöser selbst den Ausspruch getan hat: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht“, die Bestimmung in sich selbst trägt, ein Wort für alle Ewigkeit zu sein, in welchem alles Andere nach seinem wahren Werte erkannt und nach welchem Alles bemessen und gerichtet werden muss: so müssen auch im Gegenteil alle Geschicke einer einzelnen menschlichen Seele oder auch eines ganzen Volkes oder eines bestimmten Zeitalters dazu dienen, dasselbe Wort Gottes in seiner ewigen Wahrheit zu bestätigen und zu verherrlichen. Wer fleißig mit Gottes Wort umgeht und dabei auf die Zeichen der Zeit achtet, wird beides mehr oder weniger bestätigt finden.
Es ist dies auch mit dem Worte der Schrift der Fall, welches unsre heutige Betrachtung leiten soll. Wie es uns darauf verweist, dass wir nur dann das ewige Leben, d. h. dasjenige Leben haben, was allein den Namen des Lebens verdient, was über die Grenzen des Zeitlichen, Irdischen und Vergänglichen uns erhebt und was dasjenige in sich begreift, um dessen willen sich eigentlich zu leben verlohnt: so empfängt dieses Wort nun auch im Gegenteil durch das Eigentümliche der Reformationszeit, auf welche die Feier des heutigen Tages verweist, seine Bewahrheitung, seine Verklärung. Und von diesem Gesichtspunkte aus wollen wir auch die Textesworte anfassen!
„Wie die Reformation das Wort des Erlösers verklärt: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben“ darüber wollen wir mit einander nachdenken! Zuerst wollen wir die aufgestellte Behauptung zu beweisen suchen, und zweitens die daran sich knüpfende Folgerung näher erwägen.
I.
Wie traurig es zur Zeit Luthers um christliche Erkenntnis und christliches Leben aussah, das hat wohl Niemand besser erkannt, Niemand tiefer gefühlt und Niemand kräftiger ausgesprochen als Luther selbst. Wir erinnern zu diesem Ende nur an die Stelle, welche sich in der Vorrede zum kleinen Katechismus befindet. Hier heißt es ausdrücklich 1): „Diesen kleinen Katechismum oder Christliche Lehre in solche kleine schlechte einfältige Form zu stellen, hat mich gezwungen und gedrungen die klägliche elende Not, so ich neulich erfahren habe, da ich auch ein Visitator war. Hilf, lieber Gott, wie manchen Jammer habe ich gesehen, dass der gemeine Mann doch so gar nichts weiß von der Christlichen Lehre, sonderlich auf den Dörfern, und leider viel Pfarrherrn fast ungeschickt und untüchtig sind zu lehren, und sollen doch alle Christen heißen getauft sein, und der heiligen Sakramente genießen, können weder Vater unser, noch Glauben oder zehn Gebot, leben dahin wie das liebe Vieh, und unvernünftige Säue. Und nun das Evangelium kommen ist, dennoch fein gelehrt haben, aller Freiheit meisterlich zu missbrauchen. O ihr Bischöfe! was wollt ihr doch Christo immer mehr antworten, dass ihr das Volk so schändlich habt lassen hingehen, und euer Amt nicht ein Augenblick je beweist? Dass euch alles Unglück fliehe, verbietet einerlei Gestalt, und treibt auf euer Menschen-Gesetz, fragt aber dieweil nichts danach, ob sie das Vater unser, Glauben, zehn Gebot, oder einiges Gottes Wort können. Ach und Wehe über euern Hals ewiglich!“ Zwar war das Bild des Gekreuzigten auf allen Wegen und Reichen, aber unter Armen und unter Vornehmen und Geringen waren Wenige, die darum wussten, dass wir nur im lebendigen Glauben an ihn das ewige Leben haben und dass wir ohne ihn nichts sind und nichts vermögen. Zwar wurde in Kirchen und Kapellen, auf Altären und in Häusern dem Bibelbuch eine Ehrfurcht bewiesen, die fast an Abgötterei grenzte, aber Wenige wussten Etwas um den alleinseligmachenden Inhalt desselben; ja das Lesen der Bibel war selbst verboten. Es war Hunger und Durst nach dem, was den Menschen wahrhaft erleuchten, kräftigen und trösten kann, aber Niemand fand sich auf dem Wege des Lebens, der das hungernde Volk sich lagern ließ, um ihnen das Brot zu geben, das vom Himmel kommt und Niemand zeigte den Weg zu der Quelle des lebendigen Wassers.
Es war eine Ahnung davon vorhanden, dass auf der Christenheit eine Schmach der Knechtschaft und der Tyrannei laste, die vielleicht die höchste Stufe erreicht habe; aber es war noch Niemand aufgestanden, um das Zeichen zu geben, dass ein Christ, der in Jesu Christo selbst sein Leben gefunden hat, ein solches Joch abwerfen dürfe und abwerfen müsse. Es war ein tiefes, heißes Verlangen nach dem Geiste des Herrn, der da predigen heißt „das angenehme Jahr, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen;“ aber es war Niemand, dem der Geist des Herrn solchen Auftrag geben konnte und die Spuren derer, welche solchen Auftrag mit ihrem Leben bezahlen mussten, waren noch nicht verwischt. Und weil Wenige die christliche Wahrheit kannten, weil Wenige den Weg des Heils wussten, darum lebten die Meisten auch ohne und gegen die christliche Wahrheit. Die Sünden des Aberglaubens, des Unglaubens, der Selbstgerechtigkeit, der Augenlust, der Fleischesluft und der Hoffart waren in einem Grade verbreitet, dass ein jeder, der nur mit dem Anhauche von einer göttlichen Erleuchtung und göttlicher Traurigkeit hineinsah in das Leben des christlichen Volkes, mit dem Erlöser ausrufen musste: „mich jammert des Volkes!“ Recht eigentlich prägte sich auch hier das Wort der Schrift aus (Röm. 10,14.): „Wie sollen sie anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wo sie nicht gesandt werden.“
Und siehe, als die Not am größten war, war auch Gottes Hilfe am nächsten. Als der Kirche Jesu Christi alles gesunde und kräftige Leben ausgegangen war, als sie wie im Sarge und Grabe als eine Leiche lag, zwar geschmückt mit den Zeichen äußerer Pracht und Herrlichkeit, aber inwendig gehalten von den Armen des eisigen Todes und nur noch aus der Ferne beweint von einzelnen stillen, frommen Seelen, die auch auf diesem Wege Christo nachfolgen mussten, um mit Maria in der Angst ihres Herzens zu klagen: „Sie haben den Herrn weggenommen“ - da trat Luther, ein armer, aber durch Gottes Wort reich gewordener Mönch, hin zu dem Sarge, mit dem Worte: „Ich sage dir, im Namen Jesu Christi, stehe auf und wandle.“ Und Gott hat sich zu diesem Worte bekannt. In der Reformationszeit ist wahrhaftig „die Stunde, von welcher unser Text redet, gekommen, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und die sie hören werden, die werden leben.“ Wie Luthers Geist, nachdem die Stimme des Sohnes Gottes in seine Tiefen gedrungen und nachdem ihm auf die Frage: „Was willst du, dass ich glauben und tun soll,“ die rechte Antwort aus der heiligen Schrift geworden war, sich nun erst lebendig, frei und selig fühlte und wie Einem das Herz aufgeht in Freude und Dank, diesen Prediger des Evangeliums auf den verschiedenen Wegen seines Lebens das Evangelium selbst bezeugen zu hören: so sind auch alle diejenigen, die durch sein Wort für Gottes Wort gewonnen worden sind, vom Tode zum Leben hindurch gedrungen, also dass wir noch heute mit Freuden bekennen: „Wir glauben an eine heilige, christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen,“ d. h. wir glauben, dass, „wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, der Herr mitten unter ihnen sei“ und dass uns in den von Christo dargebotenen Mitteln der göttlichen Gnade, als da sind das göttliche Wort und die zwei heiligen Sakramente, die Mittel uns gegeben und gesichert sind, mitten in einer Welt voll Torheit und Sünde, voll Jammer und Not, das Heil des Lebens uns zu retten und zu bewahren. Mit der Leuchte des göttlichen Wortes durchwanderten nun die Reformatoren alle Jahrhunderte und Länder und freuten sich überall alles reinen, kirchlichen, weil schriftgemäßen Bekenntnisses und Lebens. Weil sie nicht bloß das eine Wort des Erlösers kannten: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich,“ sondern auch das andere: „Wer nicht wider mich ist, der ist für mich,“ darum war auch in ihnen die Überzeugung begründet, dass es Eine niemals aussterbende, reine und heilige Kirche Jesu Christi geben müsse und gegeben habe, und dass diese Kirche auf einer und derselben Wahrheit ruhe, wenn auch die Formen dieser Wahrheit wechseln können und wechseln müssen.
Mit der Leuchte des göttlichen Wortes durchwanderten die Reformatoren die verschiedenen Gebiete des innern und äußern, des kirchlichen und bürgerlichen, des öffentlichen und häuslichen Lebens, um einesteils die vorhandenen Gebrechen in ihrer wahren Gestalt zu erkennen und andernteils diesen Gebrechen die rechte Hilfe entgegen zu setzen. Und dass die Reformatoren gerade dieses als die Aufgabe ihres Lebens betrachteten, dass sie das Evangelium auf den Leuchter stellten, damit es allen, die im Hause sind, scheinen und damit sie selbst den rechten Weg nicht verfehlen möchten, dass sie nicht sich selbst oder eine andere menschliche Weisheit predigten, sondern allein Jesum Christum, den Gekreuzigten - darum freuten sie sich der Stunde, „in welcher die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören, die werden leben.“ Darum war es auch eine große, heilige Zeit, wo aus dem Worte Gottes die Männer des Glaubens, der Liebe, der Geduld, des Mutes und der Standhaftigkeit herauswuchsen, „wie der Tau aus der Morgenröte“. Darum sehen wir es, wie die Fürsten auf den Thronen mit den Armen in der Hütte wetteiferten, „ihren Glauben zu halten, ihren Lauf zu vollenden und einen guten Kampf zu kämpfen.“ Darum sehen wir es, wie das bisher verlassene und irre geleitete Volk, wach und lebendig geworden und erleuchtet von dem Scheine des göttlichen Wortes, von den Lehrern Wahrheit, von der Obrigkeit Gerechtigkeit, von sich selbst aber auch Gehorsam, Zucht und Ordnung verlangte. Darum ist diese Stimme, nachdem sie durch die Gauen des deutschen Vaterlandes hin gehört und geglaubt worden ist, auch über die Grenzen desselben hinausgedrungen, selbst bis an die Pforten des päpstlichen Palastes, und dass sie auch ihn bewegt habe, dass sich überhaupt an die Reformation, wie sie durch Luther und seine Gehilfen auf den alleinigen Grund des göttlichen Wortes eingeleitet und fortgeführt worden ist, ein Segen knüpfe, an dessen Früchten Feinde und Freunde der evangelischen Kirche noch heute zehren, dass gerade die wesentlichen Grundsätze des reformatorischen Geistes, die Zurückführung aller Lehre und alles Lebens auf den in der Schrift uns dargestellten Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, soweit sie erkannt und gewissenhaft durchgeführt worden sind, das Leben der evangelischen Kirche in seinen Verirrungen. doch wieder auf den rechten Weg zurückgebracht, in seinen Gefahren beschützt, in seiner Angst und Not getröstet und in seiner Entfaltung gefördert habe, alles dieses ist durch die Geschichte des dreihundertjährigen Bestehens unsrer Kirche genugsam erwiesen worden.
II.
Haben wir uns nun aber aus der Darstellung des christlichen Lebens, wie dasselbe vor und nach der Reformation sich gestaltet hat, zu beweisen gesucht, dass fürwahr die Reformationszeit das Wort des Erlösers verklärt: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben“: so liegt uns nun noch ob, die Folgerung zu erwägen, welche sich hieran knüpft. Zunächst wird die Einsicht in diese Wahrheit notwendig einen wohltätigen Einfluss auf unsere Hoffnungen in Bezug auf die Zukunft unsrer Kirche üben; sie wird denselben den rechten Grund unterstellen. Dass wir auch an dem heutigen Tage mit freudigen Hoffnungen auf die Zukunft unserer Kirche hinausblicken, dass wir ein Recht zu einer solchen Freude und Hoffnung haben, wer wollte solches bestreiten? Es wäre Undankbarkeit gegen göttliche und menschliche Treue, wenn wir in unsern Tagen nichts als Unglauben, Torheit, Not und Verderben in unsrer Kirche erblicken wollten, ohne dabei des vielen Guten und Erhebenden zu gedenken, was doch auch unsere Zeit bietet. Es wäre eine völlige Verkennung der Zeichen der Zeit, wenn wir von ihnen behaupten wollten, dass sie nur auf die Stürme einer herbstlichen, winterlichen Zeit hindeuten. Es wäre der geschichtswidrige und törichte Eigensinn eines verzagten oder trotzigen Herzens, wenn wir gerade in unsern Tagen, wo so viele Kämpfe mit mächtigen Feinden der evangelischen Kirche und des evangelischen Glaubens mit Ehren ausgekämpft worden sind, vor den neuen auftauchenden Feinden so zittern und zagen wollten, als sei nun nichts mehr zu hoffen, aber Alles zu fürchten. Sind doch die Eiszapfen an den Tempeln, wie die Kinder einer menschlichen Weisheit am Schlusse des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts sie aufgebaut hatten, geschmolzen; die Tempel selbst sind verfallen und verlassen, und Wenige sind es, die in ihnen noch ihre Erbauung, den Trost und den Frieden des Lebens suchen. Haben doch schon seit längerer Zeit gerade die Weisen und die Mächtigen der Erde ihre Knie wieder beugen gelernt vor dem, der sich selbst einen König der Wahrheit und den Fürsten des Lebens genannt hat. Gilt doch immer mehr in Kirchen und Schulen der Name Jesu Christi als derjenige, in welchem wir mit unsern Kindern selig zu werden hoffen, und an welchem wir wachsen müssen, als an unserm Haupte. Ist doch der Glaube an Jesum Christum sichtbar wieder eine Macht geworden, vor welcher ein geistloses und geistwidriges Gerede über göttliche Dinge nicht mehr aufkommen kann. Fangen doch die Gemeinden an, des Rechtes sich bewusst zu werden, die Predigt des lautern göttlichen Wortes von ihren Lehrern verlangen zu können. Geht doch durch die ganze evangelische Kirche, wie sie in den verschiedenen Ländern der Erde zerstreut ist, ein Zug nach Vereinigung, und wenn auch Alle nicht das Eine wollen, was Not tut, so bedarf es vielleicht bloß eines kräftigen und doch dabei liebreichen Verständnisses. Ist doch fast überall ein Schmerz über Etwas, was nicht sein soll, vorhanden, und wenn auch nicht überall und nicht immer das Übel erkannt wird, so ists doch schon nach dem Zeugnisse leiblicher Ärzte ein bewährter Grundsatz: „Wo Schmerz ist, da ist auch noch Leben.“ Das ist das Gute der Gegenwart, was uns an dem heutigen Tage mit frohen Hoffnungen für die Zukunft erfüllen kann und erfüllen muss. Allein wir wollen uns hüten, dass wir über der Freude an dem Guten nicht den Schmerz über das Böse vergessen und dass wir einer Hoffnung uns hingeben, die des rechten Grundes ermangelt und uns zu Schanden werden lassen müsste, wo wir grade der Hoffnung und der Freudigkeit am meisten bedürfen. Wir nennen uns eine reformirte d. h. gereinigte und verbesserte Kirche, und dass es besser mit uns geworden sei, das müssen wir nicht nur in Lehre und Bekenntnis, sondern auch im Leben selbst beweisen. Gibt es aber nicht genug der evangelischen Christen die sich weder um die Lehre und das Bekenntnis, noch auch um das Beweisen und Bewähren des Glaubens kümmern, und welche nicht viel weiter gekommen sind als diejenigen, über welche Luther in der oben vorgelesenen Stelle Klage führen musste? Wohnt in unsern Familien immer und überall christliche Zucht, Ordnung, Fleiß, Verträglichkeit, Liebe, Sanftmut, Geduld, Freude am Gebete, Freude an Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit, oder wird nicht alles dieses so oft von dem Geiste einer Zeit, der der Augenlust, der Fleischeslust und der Hoffart frönt, verdrängt? Wir behaupten, dass unsere Kirche auf das gepredigte und wohlverstandene Wort der Schrift gebaut sei. O wie Viele beschließen mit dem Tage ihrer Konfirmation die Zeit, wo sie ernstlich und fleißig das Wort Gottes gelernt haben, dass es sei das Licht und die Kraft und der Trost ihres Lebens und wie groß ist oft die Unwissenheit, welche in Bezug auf das göttliche Wort das Alter und die Jugend schändet, derer gar nicht zu gedenken, welche das Wesen der evangelischen Freiheit darin suchen, dass ein jeder glauben könne, was er wolle, die es geradezu leugnen, dass die Kirche auf diesen Grund gebaut sei und welche der Schrift das Recht und die Kraft streitig machen, das zu bestimmen und das zu richten, was wir glauben! Wir behaupten, dass das Wesentliche aller christlichen Wahrheit, zu welcher die Glieder der evangelischen Kirche sich bekennen, in dem Satze ausgesprochen sei, „dass wir gerecht und selig werden allein durch den Glauben an der Gnade Gottes in Jesu Christo.“
Wie viele gibt es aber, die in Bezug auf Werkheiligkeit gerade noch auf Grund und Boden der katholischen Kirche stehen, die den Glauben, weil sie sein eigentümliches Wesen verkennen, für gering und weniger notwendig halten und welche an Christum so glauben, dass er nicht mehr erlösen kann, und sich selbst für solche halten, die nicht erlöst zu werden brauchen und wo jeder Mensch sein eigener Erlöser ist! Soll dieses Alles nun unsere Freude nicht trüben an dem heutigen Tage und wollen wir auch im Angesichte solcher Übelstände, zu denen wir Alle unsern Teil der Schuld beitragen, unsre Hoffnung nicht sinken lassen: sagt selbst, was anders kann unsrer Hoffnung den rechten Grund und die festeste Stütze und immer neue Nahrung geben, als dieses durch die Reformationszeit verklärte Schriftwort: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben?“ Wo alle Glieder sich dessen bewusst werden, dass wir mit unserm Glauben immer auf das göttliche Wort zurückkommen müssen, dass das Wort Gottes nicht bloß der Grund der Kirche sei, sondern auch der Grund, auf welchen wir unser häusliches und öffentliches Leben, das Leben unsers Geistes und unsers Herzens bauen müssen; wo es unsre Freude ist, dass wir Gottes Wort unter uns reichlich wohnen lassen; wo wir jede Gelegenheit benutzen, immer reicher an Erkenntnis desselben zu werden; wo wir es insonderheit immer besser erkennen und lebendiger fühlen, dass wir, ohne Christum im Glauben ergriffen haben, zu Gott nicht kommen, vor ihm uns nicht freuen und trösten können und wo es die Aufgabe der Gemeinden und der Einzelnen in den Gemeinden wird, einen solchen Glauben zu gewinnen und einen solchen Glauben zu bekennen, zu bekennen nicht bloß mit dem Munde, sondern im Leben selbst, in unserm Tun und Leiden, in unserm Leben und Sterben, wo das ist: dann wird es besser in der evangelischen Kirche, dann kommen über sie die Tage, „wo alle Toten, weil sie die Stimme des Sohnes Gottes gehört haben, leben werden.“ Und darauf wollen wir unsere Hoffnung und unser Vertrauen setzen. Das will zunächst das Schriftwort.
Allein das Schriftwort dient auch dazu, unsern Bestrebungen um das Besserwerden in der evangelischen Kirche die christliche Weihe zu geben. In unsern Tagen wird nicht nur viel von Kirche, Reformation, von Verfassung der Kirche geredet, sondern es tauchen auch viele Bestrebungen auf, das Reden von solchen Dingen in die Tat umzusetzen. Ob bis jetzt alle Reden und Bestrebungen in dieser Beziehung von dem Grunde ausgegangen sind, der in dem Schriftworte liegt: „Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören werden, die werden leben,“ das brauchen wir darum um so weniger zu richten, als in demselben Schriftworte zugleich das Gericht liegt und als der Tag es klar machen wird, ob das Gebäude von Stroh und Heu, oder auf den Grund des allein seligmachenden, göttlichen Wortes gebaut ist und ob diejenigen, die daran arbeiten, die Stimme des Sohnes gehört und in dem Gehorsam gegen dieses Wort die so notwendige Freiheit bewahrt haben. Uns aber, durch die in unsern Kreisen das wahre und gesunde Leben der evangelischen Kirche gefördert werden soll und auf welche Gottes Gnade und Treue ebenfalls rechnet, dass wir nicht nur behalten, was uns vertraut, sondern auch damit Frucht bringen auf die Zeit des Gerichts und der Ernte, wollen wir darauf hinsehen, dass Alles, was wir tun, damit es besser werde, zurückweise auf ein Herz, das durch das Wort Christi lebendig und frei geworden ist, frei von der Liebe zu Allem, was nur irdischen Gewinn und zeitliche Ehre bringen kann, frei von der Sünde, die da ist eine Feindschaft wider Gott und Christum, frei in der Liebe zu allem, was Gott von uns fordert und was das Heil der Brüder mehren und die Ehre des Reichs Gottes verklären kann. Das Gelübde wollen wir an dem heutigen Tage auf dem Altare der evangelischen Kirche niederlegen, dass wir Gottes Wort fleißig lernen und üben wollen mit unsern Kindern, dass wir Jesum Christum, als den, der von Gott uns gegeben ist als der Weg, die Wahrheit und das Leben, lieb haben und in der Liebe zu ihm wachsen zur Reife des vollkommenen Mannes.“ Dann stehen wir auf dem Grunde, auf welchen alle Bestrebungen um das Heil der Kirche zurückweisen müssen, wenn sie anders eines gesegneten Erfolges gewiss sein wollen. Weil gerufen von dem Herrn, schauen wir nun auch in der Arbeit für ihn hinauf zu ihm, dass Er jeden Zweifel löse, jede etwa empfangene Wunde heile und jede eintretende Sorge verscheuche. Weil erleuchtet von dem Herrn, halten wir es nicht mit denen, welche die Stimme des eignen Geistes höher achten, als des Herrn, welche mit dem nassen Schwamme ihrer Aufklärung auch die Zeugnisse eines gesunden, christlichen Sinnes vertilgen möchten und welche sich des Lichtes rühmen, ob sie gleich in Finsternis sind. Weil gekräftigt und gestärkt von dem Herrn, gehen wir mit Freude an unsere Arbeit und in dem milden Scheine des Wortes, dass „Niemand mehr von dem Haushalter über Gottes Geheimnisse fordere, als dass er treu sich erweise,“ werden wir nicht müde unser Amt, unsere Kraft, unsere Zeit, unser Hab und Gut, unser Blut und Leben dem zu weihen, durch welchen wir wiedergeboren sind zu einer lebendigen Hoffnung. Weil lebendig gemacht durch Seine Stimme, suchen wir alles Leben bei Ihm und sehnen uns danach, dass wir überall Seine Stimme hören und als die Seinigen von Ihm erkannt und getröstet werden hier und dort. Amen.