Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – 3. Veranlassung, Verlauf und nächste Folgen der Disputation in Locarno. (5. August 1549.)

Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – 3. Veranlassung, Verlauf und nächste Folgen der Disputation in Locarno. (5. August 1549.)

Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn ihr seid es nicht, die da reden; sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet.
(Matth. 10, 19. 20.)

Die Seele und Triebfeder aller Anschläge gegen die Evangelischen war seit 1546 der neugewählte Landschreiber in Locarno Walter Roll von Uri. Mit ihm wirkte auf das gleiche Ziel hin der Landvogt Icer von Luzern. Auf der Jahresrechnung 1547 machte dieser den sieben örtlichen Gesandten (von Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zug, Freiburg und Solothurn) die Anzeige, dass der „neue Glaube in Locarno stark eingerissen und fort und fort weiter um sich greife.“ Weil aber die Gesandten mit keiner Vollmacht von ihren Obern versehen waren in dieser Sache zu handeln; beschlossen sie, auf das folgende Jahr sich solche zu verschaffen und inzwischen ihre Kantonsobrigkeiten vom Stande dieser Angelegenheit in Kenntnis zu setzen. Die katholische Priesterschaft in Locarno bemühte sich inzwischen eifrig den Landvogt gegen die Evangelischen aufzuhetzen. Beim Herannahen der Jahresrechnung 1548 schrieb daher Beccaria ängstlich an Pellican: „Die Zürcher Geistlichen möchten doch beim Rate auswirken, dass der Abgeordnete dieses Kantons sich jeder gewaltsamen Maßregel wiedersetze, die auf geheime Angebereien gegen ihn und seine Glaubensgenossen versucht werden. Gedenke man ihm wegen Ketzerei den Prozess zu machen, so solle man ihm die Ankläger gegenüber stellen, indem er sich bereit erkläre Alles, was er gepredigt habe, vor gelehrten und unparteiischen Richtern zu verteidigen. Doch scheue er auch den Kerker und den Tod nicht zum Preise seines Erlösers. Müsse er um des Glaubens willen von Locarno weg, so käme er nach Zürich.“ Was Beccario befürchtete, trat nun wirklich ein. An der Jahresrechnung klagte der Landvogt Icer: „Beccaria sei der Urheber des Abfalls vom altkatholischen Glauben, indem er sich unterstanden habe, mehrere Glaubensartikel anzufechten und sie als ungültig darzustellen.“ Auf diese Beschuldigung hin befahlen die Boten der sieben Orte dem nachfolgenden Landvogte, Nikolaus Wirz von Unterwalden, ob dem Walde, diesen unruhigen Schulmeister zu verbannen und auch auf andere Leute ein scharfes Augenmerk zu haben; solche aber, die er ertappen würde, nach Verdienen zu strafen. An dieser Verhandlung nahmen die evangelischen Gesandten keinen Teil, obgleich sie ihnen schwerlich unbekannt blieb. Als hierauf Ende Heumonats (1548) eine Tagsatzung in Baden gehalten wurde, reiste auch Beccaria dahin und bewirkte, dass das gegen ihn ausgesprochene Verbannungsurteil zurückgenommen wurde, jedoch geschah dieses nur unter Androhung neuer Strafe, „wenn er solcher Sachen weiter gedächte.“ Landvogt Wirz versäumte von nun an nicht, genau zu beobachten und über solche, die sich etwa unbesonnene Reden erlaubten, Verweisung, Gefängnis und andere Leibesstrafen zu verhängen. Auch Beccaria scheint durch seine evangelische Wirksamkeit wieder die Aufmerksamkeit der Gegner auf sich gelenkt zu haben. Unter diesen Umständen beschlossen die siebenörtischen Gesandten auf der Jahresrechnung 1549 einen Dominikaner aus Lugano Fra Lorenzo, kommen zu lassen, damit er „den wahren alten christlichen Glauben predige.“ Der Mönch versprach diesem Gesuche unter der Bedingung zu willfahren, dass ihm sicheres Geleit zugesichert und die Erlaubnis gegeben würde, so Jemand ihm etwas bei seinen Predigten einredete, mit solchem auf Grundlage der heiligen Schrift zu disputieren. Darauf verbot der Landvogt den Untertanen, sich dem Prediger mit Wort oder Tat zu widersetzen. Da dieser aber schon in seiner ersten Predigt durch viele dem Worte Gottes ganz widersprechende Behauptungen bei den Evangelischen Missfallen und Ärgernis erregt hatte; blieb die Mehrzahl von ihnen aus der zweiten weg. Darauf befahl der Landvogt in einem neuen Mandate, dass Jeder, der nicht notwendiger Weise an die Arbeit müsse, bei Strafe von 50 Kronen die Predigten des Dominikaners zu besuchen habe. Nun füllte sich zwar die Kirche, aber in welcher Stimmung dieses geschah, zeigte unter Anderen auch folgender Vorfall. Entrüstet über die frechen, dem Evangelio widersprechenden Behauptungen des Predigers rief ein Zuhörer ein Mal mitten in der Predigt demselben zu: „Du lügst aus voller Kehle!“ ohne dass man ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen gewagt hätte. Auch Beccaria äußerte unverhohlen: „Wenn man es ihm nur zuließe, wollte er dem Mönche etliche Artikel so er gepredigt, zunichte machen und abtun.“ Da auch das Volk seinen Unwillen über die Predigten des Fra Lorenzo laut zu erkennen gab, so beschloss der Landvogt durch Veranstaltung einer Disputation ein für alle Mal, wie er es hoffte, dem Widerspruche ein Ziel zu setzen. Zu diesem Ende ließ er noch ein paar gelehrte und geschickte Männer von Lugano kommen; denn die Bewohner dieser Stadt hingen um so entschiedener dem alten Glauben an, je mehr die Locarner sich dem Evangelio zuwandten. Schon zählte die evangelische Gemeinde hier an 200 Gliedern. Solchen erfreulichen Erfolg hatte die treue Wirksamkeit Beccarias bereits erzielt. Seine lieben Schüler Taddeo Duno, Lodovico Ronco und Martino Muralto nehmen durch Ansehen und Bildung, sowie durch die Entschiedenheit ihrer evangelischen Gesinnung unter denselben die ersten Stellen ein.

Der 15. August 1549 wurde als Tag zur Disputation bestimmt. Die Thesen, über welche disputiert werden sollte, waren an der Rathauspforte angeschlagen. Sie betrafen die Lehre von der Autorität des Papstes, von dem Verdienste der guten Werke, von der Rechtfertigung, von der Ohrenbeichte und vom Fegfeuer usw.

Die Disputation fand im Gerichtssaale des Schlosses statt. Da sah man, umgeben von seinen Amtleuten, den Landvogt sitzen, an seiner Seite, als Dolmetscher, den noch jungen Melchior Lussi von Unterwalden, den Statthalter Vattiste Bricio, sowie den Erzpriester Galeazzo Muralto von Locarno, den Dominikaner Lorenzo und den Priester alla Madona del Sasso, der vom Volke als ein Heiliger verehrt wurde, obgleich er ein Wüstling und arger Heuchler war; vor Allen mit Zuversicht erfüllt die Ehrengäste aus Lugano, an ihrer Spitze die Brüder Andrea und Girolamo Camuzzi, Doktoren der Heilkunde; aber auch, wie man meinte, in göttlichen Dingen wohl unterrichtet. Gegenüber stand Beccaria, begleitet von seinem eifrigen Taddeo und seinem treuen Ronco; rechts und links der Arzt von Locarno Giovanni Muralto und drei andere Begleiter. Edle, Notarien und viele Andere schlossen auf beiden Seiten den Kreis.

In Betreff des Primats des heiligen Petrus und der Päpste, worüber sich zuerst der Streit entspann, glaubte Andrea Camuzzi, dass jene Aussprüche Christi entscheidend seien: „Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen;“ und „ich will dir geben die Schlüssel zum Himmel, und was du binden wirst auf Erden, soll auch im Himmel gebunden sein.“ Sowie auch jener Auftrag Christi: „Weide meine Schafe und weide meine Lämmer.“ Doch Beccaria und seine Freunde bekämpften die Auslegung, welche von Comuzzi diesen Stellen gegeben wurde, „so nachdrücklich und entschieden, dass die Altgläubigen ziemlich ins Gedränge kamen. Da Landvogt Wirz solches bemerkte, forderte er in gebieterischem Tone den Beccaria und seine Schüler auf, einfach und ohne Umschweif zu erklären, ob sie die Lehre der römischen Kirche, wie sie in den aufgestellten Thesen ausgesprochen sei, annehmen wollen oder nicht.“ „Wir bekennen uns dazu,“ erwiderten sie; „aber nur soweit sie mit dem Worte Gottes übereinstimmt, sonst nicht.“

„Ja oder nein?“ schrie barsch der erzürnte Landvogt. Als jene bei ihrer gegebenen Erklärung beharrten, befahl Wirz den beiden Comuzzi, dem Erzpriester nebst einem anderen Geistlichen und, um den Schein der Parteilichkeit einigermaßen zu vermeiden, jenem evangelisch gesinnten Arzte von Locarno, sogleich und kurz ihr Befinden über die Thesen abzugeben. „Die Artikel,“ entschieden die Vier, „sind alle der katholischen Lehre gemäß, und ein Ketzer ist, wer sie nicht gut heißt.“ Vergebens verwahrten sich die Evangelischen gegen diesen Machtspruch. Da diese nun die Artikel nicht annehmen wollten, so gebot der Vogt seinen Dienern, den Beccaria zu ergreifen und ins Gefängnis zu werfen. Als diese sich anschickten den ihnen gewordenen Befehl zu vollziehen, entsteht Lärm vor dem Schlosse. An dreißig junge Männer, den Degen an der Seite, rennen unter Drohungen gegen die Luganeser hin und her und fordern mit Ungestüm die Freilassung des Beccaria. Vor Allen tobte dessen Bruder, ein wegen seiner Körperkraft und Verwegenheit gefürchteter junger Mann. „Sprich nur ein Wort,“ riefen sie dem Beccaria hinauf, „so wollen wir dich mit Gewalt herausholen!“ Die Priester, welche ans Fenster getreten waren, zitterten vor der ihnen drohenden Gefahr. Indessen gelang es dem Vater Beccarias für den Augenblick die erhitzten jungen Leute von einer Gewalttat zurückzuhalten. Als aber die Luganeser, von dem Landvogte und von seinen Dienern begleitet, sich nach dem Wirtshause begaben, stürmte der tobende Haufe ihnen nach und drang die Treppe Hinauf mit dem Rufe, man solle ihnen den Beccaria herausgeben, sonst würden sie ihn mit Gewalt befreien. Den Andern voran stürmten zwei wilde Burschen Bernardino Benada, ein Apotheker und Francesco Paolo Orello. Auf der Treppe entfiel dem einen von ihnen, gerade als der Vogt sich gegen ihn umwandte, ein Messer aus dem Ärmel. Wirz zitterte für sein Leben und da auch der Rat ihn bat, den Schulmeister auf freien Fuß zu setzen, weil er sonst für nichts gut stehen könne, gab er den Beccaria gegen Bürgschaft frei. Die Luganeser eilten nun so schnell als möglich zu Schiffe zurück, ohne sich des geträumten Sieges über die Evangelischen rühmen zu dürfen.

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