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Carnotensis, Arnoldus - Auf Oculi.

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Sieben Worte

"Weib, siehe, das ist dein Sohn!"

Wo bleibt dein altes Erbarmen, o Herr ? Warum zögert du? Schon schlägt deine Stunde. Siehe, deine Mutter steht bei dir, und Johannes, den du lieb hast. Du redest mit dem Uebelthäter und du solltest nicht mit deiner Mutter reden? Sie schaut dich an, die Gebenedeite unter den Weibern, mit fest auf dich gerichteten Augen betrachtet sie in mütterlichem Erbarmen deine Wunden. Und obschon sie weiß, was für ein großes Gut dein Leiden der Welt zu Wege bringt, durchlebt doch, die dich gebar, mit ganzer Seele dein Sterben, und ihr mütterliches Herz wird von unmenschlichem Schmerze zusammengeschnürt. Sie seufzt im tiefsten Innern und unterdrückt die hervorbrechenden Thränen, aber ihre Angst wächst nur um so höher an, je mehr sie verhindert wird sich einen Ausweg zu bahnen und in Trauerzeichen und Wehklagen sich Luft zu machen. Zwar wollten hie und da einmal ihr Seufzer entschlüpfen, aber mit Gewalt wurden sie zurückgehalten und wieder hinab verwiesen in die Tiefe der Seele, aus der sie hervorzugehen versuchten, und einer drängte gegen den andern tiefinnen. Es war in ihrer Seele ein gewaltiger Aufruhr, als ob Stürme gegen einander stießen, und wie wenn im Kessel brodelnde Massen Schaum aufstoßen, den unablässige Hitze herauskocht und zusammenballt.

Freilich gebot ihrem Schmerze das Grauen Schweigen, und die gräßlichen Blicke der höhnenden Juden ließen die wilden Wogen des Wehes erstarren. Aber sie trank die bitteren Wellen, die so mächtige Sturmwinde aufwühlten, bis zum letzten Tropfen. Und was das Allerschwerte war: sie rang mit dem Tode, und konnte doch nicht sterben; sie verschloß in ihrer Brust die Qual eines mächtigen Schmerzes, und doch war auf ihrem Antlitz nichts zu merken; kein Zug ihres Gesichtes verrieth die Kreuzigung ihrer Seele, die Marter ihres Geistes, in der sie ein lebendiges Opfer war, das Gott wohlgefiel, ein Brandopfer und ganzes Opfer. Als sie es mit eigner Hand entzündete, hat sie mit vollem Bewußtsein und ohne zu murren sich selbst zum Schlachtopfer dargebracht, und selber zum inwendigen Altar ihres Herzens Holz und Feuer und Wasser hinzugetragen. Im Heiligthume von Golgatha standen zwei Opferaltäre, der eine das Herz der Maria, der andere der Leib Christi: Christus opferte sein Fleisch, Maria ihre Seele. Zwar hatte sie den Wunsch, zu ihrer blutenden Seele auch das Blut ihres Leibes als Opfer zu fügen, und mit am Kreuze ausgebreiteten Händen zugleich mit ihrem Sohne das Abendopfer darzubringen, und mit unserm Herrn Jesus im leiblichen Tode das Geheimniß unserer Erlösung zu vollenden. Das aber war ein Vorrecht allein des Hohenpriesters, mit dem Blute der Versöhnung in das Allerheiligste einzugehen; diese Würde konnte er mit Niemand theilen; bei der Erlösung des menschlichen Geschlechtes half ihm kein Mensch und kein Engel, es konnte ihm auch keiner helfen. Da Christus wollte, daß seine Mutter den Aposteln zu Troste noch auf Erden bleiben, und der Gemeinschaft dieser Auserwählten Alles lehren sollte, was nur die von Anfang gehört und gesehen und in einem guten Herzen bewahrt hatte, und wodurch die Lehre des Evangeliums festes Fundament erhielt, hat er, um nach allen Seiten uns ein Vorbild der Frömmigkeit zu gewähren, nach dem Gebote, darin er vor Zeiten die Aeltern zu ehren befohlen, in treulichster Weise Fürsorge für dieselbe getroffen. Er ehrt sie mit freundlichem Zuspruche. Zwar war seine Rede nur kurz, aber doch war sie voll der schuldigen Zärtlichkeit, sie war der Ausdruck einer ganz sonderlichen Liebe. Er spricht: „Weib, siehe das ist dein Sohn!“ Und zum Johannes, der dabei stand, sagt er: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Während des Leidens Christi durfte die wilde Wuth des jüdischen Volkes nicht mit ungeweihter Hand in sein Heiligthum hineingreifen, oder durch feindselige Handlungen jenen Tempel des Heiligen Geistes irgendwie antasten. Ein treuer Pförtner stand Wache vor der so reichen Schatzkammer. Siehe, dem Jünger, der beim Abendmahle des Herrn ein Haupt an die Brust eines Meisters legen durfte, wird ein zweites ehrenvolles Vorrecht zuertheilt. Nach jener Stunde geheimer Offenbarung, da er erkannt hatte: „Am Anfange war das Wort und das Wort war bei Gott“, war ihm jene Werkstatt, in der „das Wort Fleisch wurde“, mit allem Nachdrucke vom Sohne zur Fürsorge überwiesen. Ihre jungfräuliche Keuschheit, ihre mütterliche Unbeflecktheit, ihre unverletzte Unschuld wird seinem bewährten und geliebten Jünger anvertraut; an ihm sollte sie einen würdigen Zeugen haben. Um der ehrfurchtsvollen Liebe willen, die er zu seinem Meister trug, sollte der Jungfräuliche der Jungfrau, der Pflegevater des Glaubens der Mutter seines Herrn in dienender Ergebenheit zur Seite stehen. Der Adoptivsohn tritt an die Stelle des leiblichen, auf ihn wird der Dienst der kindlichen Liebe übertragen. Es wird zwischen beiden geknüpft und befestigt das liebliche, innige Band einer sonderlichen frommen Hingebung, die nicht aus natürlicher Verwandschaft hervorgeht, sondern eine Gabe der Gnade ist. Die jungfräulichen Seelen des Johannes und der Maria sollen hinfort in Einheit ihr Leben verbringen. Die Einheit stillen Sinnes, die Einheit heiliger Vorsätze bedingt das Wohnen in Einem Hause, das Sitzen an. Einem Tische. O siehe Johannes, du empfängt das Testament eines frommen Vermächtnisses; du bist der Auserwählte, der allen Andern vorgezogen wird. Du bist dazu erwählt ihr zu dienen und zu gehorchen in der Liebe eines Sohnes, in der Ergebenheit und Unterwürfigkeit eines Knechtes. Dem Petrus wird die Kirche anvertraut, dir die Maria: jenem unruhige Geschäfte, dir friedliche und stille. Du standest an. Statt des Sohnes da und warst dazu gesetzt, seine Stelle bei der Mutter zu vertreten; und die Gebenedeite hat dich, den Stellvertreter, nicht zurückgewiesen. Weil es dem Sohne so gut schien, hat sie dich zu seinem Nachfolger angenommen, obschon du ihm lange nicht gleich kamst und geringeren Rang einnahmst. Warst du doch ein Fischer, der sein Handwerk vom Vater gelernt hatte, warst du doch durch keine Großthat berühmt. Der aber „was schwach ist vor der Welt erwählt hat, daß er zu Schanden mache, was stark ist“, der hat durch deine Erwählung den Ruhm der Armuth und Demuth und Keuschheit ans Licht gestellt; er hat durch Uebertragung dieses hohen Ehrenpostens deine felsenfeste Liebe und die lichte Reinheit deiner Seele anerkannt. Also geschah es nach des Herrn Geheiß, daß im besten und lieblichsten Einvernehmen bei einander wohnten Jungfräulichkeit und Demuth, Zuneigung und Reinheit, Unterwürfigkeit und Liebe; und Herrin und Diener hatten im Einmüthigkeit des Sinnes an diesen Stücken gleicherweise Theil, als der Wille des Herrn befohlen hatte. Der gnädige Herr bringt ein frommes Werk dadurch zu einem guten Ende, daß er den Schächer am Kreuze gerecht macht und seiner Mutter die schuldige Liebe erweist. Amen.

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