Carnotensis, Arnoldus - Auf Invocavit.
Sieben Worte
"Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!"
Nachdem durch die Verkündigung des Evangeliums das Gesetz des Glaubens gegeben war, nach den Wundern und Zeichen und Zeugnissen der Gerechtigkeit, ward auch noch, weil der Weg der Unterweisung ein langer ist, der kurze und wirksame des Beispiels beschritten. Und damit die Lehre gar keinen Mangel haben sollte, erfolgte noch eine gedrängte Zusammenfassung derselben, die darum bis auf den letzten Augenblick verschoben wurde, damit gleichsam die überlebenden Kinder dies Testament eines frommen Vermächtnisses mit um so größerer Ehrfurcht aufnehmen sollten, je klarer sie erkennen würden, daß die Verordnungen desselben mit dem Blute Christi geschrieben seien, und je deutlicher das unverletzliche Siegel desselben das ausgeprägte Bildniß seines Gehorsams aufwiese.
Darum wird denn auch von dem Lehrstuhl des Kreuzes herab gleichsam ein zweites Gesetz gegeben, das kurz zusammenfaßt, was vorher in großer Weitläufigkeit hie und da gesagt worden war. Der treffliche Lehrmeister müht sich, seine Lehre zugleich zu thun und zu lehren und durch sein Beispiel zur Vollendung zu führen; er will nicht sowohl ein Lehrer, als ein Zeuge der Wahrheit sein. Von freien Stücken redet jetzt frei heraus derselbe, der kurz vorher auf die Fragen eines Herodes und Pilatus nur mit beharrlichem Schweigen antwortete. Die Neugier der von Hochmuth aufgeblähten Menschen hat er mit Verachtung gestraft, aber gern lehrt er hernieder vom Schandpfahl die Armen am Geist. Von neuem eröffnet er dort die Schule der Frömmigkeit. Er stellt nur einige wenige kurze Sätze auf, mittelst deren er sowohl die Stärke seiner Liebe kundgibt, als auch seinem heiligen Eifer nachzueifern anempfiehlt. Die Marterwerkzeuge vermögen ihn nicht am Lehren zu hindern, er beachtet das Eisen gar nicht, als wäre es stumpf, und in „frommer Fürsorge sorgt er darum, daß Leben und Wandel seiner“ Jünger dem Gesetze des Glaubens entsprechen und als ein fester Bau auf wohlgegründetem Fundamente fest ruhen möge.
Darum erweist er sich bald als Mensch, bald als Gott, bald allmächtig, bald schwach, auf daß seine Hoheit und seine Niedrigkeit in gleichmäßigem Wechsel mit einander ihm seine Aufgabe lösen helfen sollten. Bald bittet, bald befiehlt er, bald beklagt er seine Verlassenheit, bald verheißt er dem Schächer das Paradies.
Nach beiden Naturen thut er, was nach Lage der Sache nothwendig ist. Nach der einen läßt er sich verachten, nach der andern verschenkt er das Reich der Herrlichkeit. Vor seinem Kreuze er tönte höhnisches Geschrei und zu den Schmerzen seiner Wunden fügte das blutdürstige Volk noch Lästerungen; mit spöttischen Mienen und wilden Blicken schauten sie nach dem Antlitz, das sie verspielen hatten und in seltener Einmüthigkeit riefen sie: „Pfui dich, wie fein zerbrichst du den Tempel Gottes und bauest ihn in dreien Tagen.“
Da siehst du, was für eine schlimme Wirkung das verkehrte und treulose Auftreten der Gewalthaber auf die große Menge geübt, was für einen Sünden schmutz der Einfluß der Priesterschaft auf das urtheilslose Volk übertragen, wie sehr die Verschwörung an Kraft gewonnen hatte, die gegen Christum die Hand erhob, ihn zu tödten und seinen Namen von der Erde wegzutilgen. Sie Alle fürchten sich nicht der Schande auf ewig Mörder zu heißen, sie häufen zugleich auf sich und ihre Kinder die traurigen Folgen eines himmelschreienden Verbrechens, freiwillig unterschreiben sie eigenhändig ihr Verdammungsurtheil.
Noch hatte Christus nicht den letzten Odemzug gethan, noch hing er mit durchbohrten Händen und Füßen, das Haupt von der Dornenkrone zerrissen, lebendig am Kreuz, und als er herab schaute auf seine Brüder, die nach Brudermord dürsteten, machte ihre Frevelthat ihm größeres Wehe als die spitzen Nägel. Darum wendet er sich für sie an den Vater und indem er zwischen ihn und sie seine Liebe ins Mittel stellt, führt dieser nie dagewesene Sachwalter in ganz unerhörter Weise ihre Vertheidigung. Er macht die Sache seiner Feinde anhängig, aber ohne daß sie es wollen und wünschen stellt er sich freundlich auf ihre Seite und legt Gott seinem Vater die Frage vor, ob wohl ihre Sünde schwerer wiegen sollte, als seine Gerechtigkeit. Zugleich legt er klar, daß es ganz unangemessen sein würde, wenn der Mangel ihrer Tugend mehr, als die Gabe einer Tugend gelten, und ihre Bosheit über seine Güte, ihr Verderben über sein Heil den Sieg davon tragen sollte.
Denn wenn er selbst darnach ringt ihnen, das Heil, die Juden aber darnach ringen, sich die Verdammniß zu bereiten, so muß doch die Liebe des Sohnes bei Gott mehr auszurichten vermögen, als die Verblendung des Volkes, sintemal die letztere durchaus nicht von Gewicht sein kann, da kein Fremder, sondern der Sohn selbst in dieser Sache die Vertheidigung übernommen hat. Auch erfährt das Reichswohl durch solche Nachsicht keine Minderung, vielmehr eine Steigerung, und somit geschieht durch Milderung des Urtheilspruches weder dem Ansehn der Gesetze, noch des Richters Eintrag. Denn weil Gerichtshöfe dazu gesetzt sind dem Gemeinwohle zu dienen, so gerathen sie mit ihrem Zwecke nicht in Widerspruch, wenn sie auf irgendwelchem Wege zu ihrem Ziele gelangen und in Verwirrung gerathene Verhältnisse wiederum in Ordnung bringen. Christus müßte geradezu Klage erheben, daß ihm der Lohn seiner schweren Kämpfe vorenthalten werde, er müßte sich darüber beschweren, daß ein saurer Schweiß vergeblich vergossen sei, wenn die, um deren willen er so viel Mühe und Arbeit aufgewendet, unrettbar verloren sein, und seine tiefe Erniedrigung nicht ihre Rettung bewirken sollte, und wenn also das Blut des Sohnes in den Augen des Vaters so gering angesehen wäre, daß ihm nicht Alles gewährt würde, was er begehrt. Im Gesetz freilich heißt es: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Moses kennt keine Schonung, er verfolgt und rächt alles Unrecht, und ohne alles Erbarmen muß sterben, wer seine Gebote übertritt. Mit dem Eintritte der Gnadenzeit beginnt das Dringen auf Mäßigung, die Milde des Evangeliums verbietet dem Volke des Eigenthums gänzlich Zorn, Zank und verächtliches Benehmen, die Lehre unseres Meisters verstattet nicht zum Bruder „, Racha“ zu sagen oder „du Narr“, ja nicht einmal zu zürnen. Auch er selbst, der Richter Aller, dess die Rache ist, kennt keinen Zorn, der Tage währte, er befiehlt das Schwert in die Scheide zu stecken und droht denen, die das Schwert nehmen, daß sie durchs Schwert umkommen sollen. Mit blutig gegeißeltem Rücken, mit wund geschlagenen Wangen, mit verspeietem Antlitz, mit dornengekröntem Haupte, mit verwundeter Seite, mit durchbohrten Händen, mit durchgrabenen Füßen, hat er, gleich wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, sein Fleisch ohne Widerstreben in Todesmartern dahingegeben; geduldig hat er seinen bloßen Leib, gleich wie einen Amboss den Hammerschlägen dargeboten. Gewißlich konnte er viele tausend Engel herzurufen und für sich kämpfen und sich so schmählichen Mißhandlungen entreißen lassen; aber der befohlen hatte, „wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den andern auch dar, und wer dir den Mantel nimmt, dem wehre nicht auch den Rock,“ der hat sich auch selbst seinen Vorschriften untergeordnet, weil er wollte, daß er, das Haupt, seinen Gliedern ein Vorbild der Geduld darstellete, dem sie nacheifern müßten, wenn anders die rechter Art wären.
So thut er denn, wozu ihn sein dürstigliches Verlangen treibt, er wendet sich hinauf zum Vater und bittet, daß er dem unwissenden Volke die Sünde vergeben möge: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!“
Wie lautete das, o Herr, was sagtest du? Du klagt nicht an, du verlangt nicht Rache, vielmehr entschuldigst du und stellt die schwarze That der bösen Rotte in ein milderes Licht. Du möchtest die Gottlosen sammt ihren Kindern der Schuld entladen, darum hältst du ihnen ihr boshaftes Verbrechen nicht entgegen, sondern urtheilt, es dürfe ihnen vergeben werden, da du selbst bezeugt, es sei in Unwissenheit begangen. Aber wo bleibt dann dein früheres Wort: „Wenn ich nicht gekommen wäre, und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde; nun aber haben sie es gesehen, und hassen doch beide, mich und meinen Vater.“ Ja, sie haben es gesehen und hassen dich doch. An jedem Sabbath verkündigten sie, was Moses von dir geschrieben hat, und was von Alters her die Schriften der Propheten einstimmig bezeugten. Du tratest selbst zu ihnen in der Schule, und ohne ihrer Schriftgelehrsamkeit kundig zu sein, schlugelt du auf den Propheten Jesaias und lasest vor ihrer Aller Ohren die Stelle: „Der Geist des Herrn ist bei mir, der halben er mich gesalbet hat, und gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen,“ und unter allgemeinem Beifalle thatest du dar, daß in dir jene Weissagung der Schrift erfüllt sei. Wie konnte noch von Unwissenheit die Rede sein, da sie gerade, die gern wissen wollten, wie du zur Kenntniß der Schrift gelangt warst, die du doch nicht gelernt hattest, gerade diesen Beweis deiner göttlichen Weisheit erhielten, und anerkennen mußten, daß du im Gesetze wohl bewandert seid, obschon sie dich nie in den Schulen zu ihren Füßen gesehen hatten?
Sicherlich konnte ihnen nicht entgehen, was alle Welt bewunderte, daß du aus dir selbst die Weisheit, aus dir selbst die Erkenntniß hattest, als du öffentlich mit den Schriftgelehrten vom Gesetze handeltest, und aus dem Gesetze die Lehre desselben der Beschränktheit und Stumpfheit überwieselt. Wie konnte noch ein Bedenken, wie noch eine Spur von Unwissenheit übrig bleiben, als die Blinden sahen, die Lahmen gingen, die Aussätzigen rein wurden, die Todten aufstanden und den Armen das Evangelium gepredigt wurde. Aber die verstockten Seelen wollten nicht zur Erkenntniß kommen und das gute Theil erwählen, darum hatten auch für sie selbst seine Wunder keine Beweiskraft und seine Tugenden machten keinen Eindruck auf sie. Der Haß gegen Christum hatte ihre Herzen so sehr verhärtet, daß sie behaupteten, auch die guten Werke, die sie nicht wegleugnen konnten, seien nicht in der Kraft Gottes, sondern mit Hülfe der bösen Geister gethan worden. Sie schrieben die Werke Christi dem Beelzebub zu und die Salbung des Heiligen Geistes den bösen Geistern. Und doch bleibt Christus dabei, „daß sie nicht wissen, was sie thun,“ und legt deswegen um ihrer Verirrung und ihrer Blindheit willen beim Vater warme Fürbitte ein.
Aber dies ein Verlangen konnte nur in bestimmter Stufenfolge Erfüllung finden: es mußte in das öde, versumpfte, nicht fruchtreiche, sondern schlammreiche Erdreich hinein zu unterst das Fundament des Glaubens gelegt und aus seinen tiefsten Tiefen zunächst der verirrte Sinn entfernt werden, damit die Wahrheit sich ein festes und dauerhaftes Haus aufrichten und ausbauen, und die Hoffnung der Herrlichkeit diesen auf Glauben gegründeten Bau schön ausmalen könnte. Zwar die Beharrlichkeit ihres Unglaubens war an sich nicht zu entschuldigen, auch konnte ihr der Vernunft baarer Geist und ihre für die Erkenntniß des Wahren verdüsterte Seele nicht vorwenden, daß sie die so einfache Gestalt der Wahrheit anders auffaßte, als sie in Wirklichkeit war. Das, was ihnen vor Augen stand, sahen sie absichtlich schief an und so wurden sie von ihren schielenden Blicken irre geführt. Es war das also weder die Schuld ihrer Vernunft, noch seiner Lehre, die ja beide ihnen nicht fehlten. Sondern, während sie mit viel Zeitaufwand überflüssige Fragen thaten, ließen sie an das eingewurzelte Uebel, das tief in ihrem Innern saß, die heilende Hand nicht heran.
Und eben darum, weil sie nicht wußten, daß sie krank waren, verschmähten sie die Mittel, durch die sie hätten gesund werden können. Es gab für ihre böswilligen Augen nichts Widerlicheres, als gerade das Licht, und, indem sie ihre Augenlider niederschlugen und eng zusammenkniffen, haben sie in gewaltsamer Weise sich selbst Blindheit auferlegt und so lange diesen krankhaften Zustand mit allem Willen festgehalten, bis der Wille zur Gewohnheit und die Gewohnheit zum Zwange wurde; der Zwang aber steigerte sich zuletzt bis zu jener wahnsinnigen Höhe, daß sie nicht mehr wußten, was sie thaten. Hierin erwies sich jene Verstockung des Herzens, die Jesaias dem Volke Israel zum Vorwurfe macht, und durch die sie in so große Stumpfheit verfielen, „daß sie mit sehenden Augen nicht sahen und mit hörenden Ohren nicht hörten.“
Weil sie ihre Herzen verhärteten, mußten ihnen ihre Sinne den Dienst versagen. Weil sie von den Urkunden der Gerechtigkeit einen falschen Gebrauch machten und von den Lichtstrahlen der Wahrheit sich mit Abscheu abwendeten, versanken sie, gleich fern vom Lichte der Natur, wie von dem der Gnade, in völlige Blindheit, und umnebelten sich gegenseitig mit so dicker Finsterniß, daß alle Schärfe geistiger und sinnlicher Wahrnehmung ihnen vollständig entgehen mußte. Da das Wohlgefallen am Gesetz, das sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, so tief gewurzelt in ihrem Herzen haftete, und der Geschmack an den alten Bräuchen den Gaumen ihres Geistes so sehr irre führte, daß ihnen als ein Satan galt, wer sie lehren wollte über Moses hinauszugehen, und aus dem Buchstaben, der doch vergeht, den lebendigmachenden Geist in sich aufzunehmen, so stellten die Moses über Christum hinauf, waren stets bereit sich gegen diesen als einen Lästerer zu ereifern, und zogen also den Knecht dem Herrn, den Schüler dem Lehrer vor. Seine Wunder konnten sie ja nicht leugnen, aber ihre Feindschaft gegen ihn war so stark, ihr Haß so riesengroß, daß sie den herrlichen Thaten und Worten Christi keinen Geschmack abgewinnen konnten. Zu ihren wahnsinnigen Geistern stand überhaupt der Wahrheit kein Zugang mehr offen; auch offenkundige Thaten, die unmöglich verdreht und verdunkelt werden konnten, legten sie ihm so schlimm als möglich aus, und zur Vertheidigung des Gesetzes bedienten sie sich gar nicht mehr vernünftiger Gründe, nur der Schmähungen.
Da sie aber aus dem Gesetze selbst überwiesen und in ihren eigenen Folgerungen gefangen wurden, da ihnen, um ihrer ungerechten Sache aufzuhelfen, gar kein anderer Ausweg übrig blieb, als die gewaltsame Unterdrückung und Verfolgung der Wahrheit, so verbanden sie einmüthigen Sinnes sich Alle dazu, seine Ehre in Schmach zu ersticken und durch einen schimpflichen Tod gleicherweise seinen Namen und ein gutes Gerücht auszutilgen. Darauf lief all ihr Rathschlagen hinaus und alle ihre lügnerischen Aufstellungen hatten nur den einen Zweck, den Heiligen und Gerechten, der sich wider ihr Thun setzte, aus dem Mittel zu thun und dadurch zu beweisen, daß er an der göttlichen Natur keinen Theil habe, weil er, wie alle andern Menschen, todes- und leidensfähig zu sein schien. Das war die Blindheit, das die Unwissenheit der irregeführten Menge, für die Christi Liebe um Vergebung bittet, um jenen Undankbaren eine Wohlthat darzubieten.
Gewiß ist dies ein Verlangen schon damals theilweise erfüllt worden, und es muß in vollkommener Weise erfüllt werden am Ende der Tage, wenn die Fülle der Heiden eingegangen sein wird zu den Thoren des Heils und dann auch das ganze Israel in den bergenden Hafen dieser Fürbitte einlaufen wird. Jesus wußte gar wohl, daß der Vater ihm alles in seine Hände gegeben hatte. Obschon er nun geben und aus eigener Machtvollkommenheit thun konnte, was er erbat, hat er dennoch damals als ein Bitten der dastehen wollen, damit aus seiner Herzensbewegung seine Liebe, aus seiner gehorsamen Hingebung seine Demuth, aus seinem Ringen die Wahrheit klar hervorleuchten sollte, daß bezüglich der Freisprechung von dem so schweren Verbrechen zwischen Kläger und Richter kein Widerstreit des Willens herrsche, sondern Beide in dieser Angelegenheit einhellig und einmüthig bemüht seien, dieselben Entschuldigungsgründe zur Geltung zu bringen.
Selbstverständlich konnte in keinem Wege von strengem Gerichte mehr die Rede sein, sobald Christus mit Wunden bedeckt den Lohn für sein vergossenes Blut begehrte. Darum ist er erhöret worden, weil er Gott in Ehren hatte. Aber doch hat er nichts umsonst empfangen, sondern mußte einen unermeßlichen Preis bezahlen. Alle, um derer willen dieser hochwichtige Prozeß geführt ward, sollten daran den verzweifelten Stand der Sache des menschlichen Geschlechtes erkennen. Sie sollten daran erkennen, daß sie nur dann beigelegt werden konnte, wenn um des lieben Friedens willen das vollwichtige hohe Lösegeld bezahlt ward, das ausschließlich die Erniedrigung Christi und die Menschheit, die er angenommen hatte, darzubieten vermochte. So traten denn die Gerechtigkeit und der Frieden zu einander und reichten sich den Versöhnungskuß. Der Befreier stellte sich für seinen Gefangenen zum treuen Bürgen, und die Zusicherung der Gnade erhielt dadurch die vollständigste Glaubenswürdigkeit, daß die Buchstaben jenes Freibriefes auf den Leib des gekreuzigten Christus mit seinem eigenen Blut geschrieben wurden. Bis heute haftet fest an ihm das Siegel desselben, die Seitenwunde, die der Erlöser droben dem Vater fortwährend vor Augen hält. Sonach hat unser Testator seinen Nachkommen die Gnade zum ewigen Erbtheil hinterlassen. Der Erbsünde ist die Wurzel abgeschnitten. Und wenn sie auch bei Vielen immer neue Sündentriebe hervortreibt, ist sie doch im Ganzen und Großen so tief ausgerottet, daß es zur Versöhnung der Sünden, die täglich begangen werden, nicht wiederum der Kreuzigung Christi bedarf, sondern für alle Missethäter reicht aus das eine Reinigungsbad des Bekenntnisses und für alle Uebertretungen das eine Opfer der Buße. Jenes Schlachtopfer am Kreuze ist also für uns dargebracht zum Heile und zum Beispiele. Einerseits hat jenes Blut auch uns gereinigt, als er das Volk besprengte, da er zu einem Male in das Heilige eingegangen war, andererseits liegt uns ob, durch unser eigen Blut, durch Kreuzigung unserer Glieder, durch Verleugnung unserer Begierden ähnlicher Weise den Eingang zu gewinnen. Selbstverständlich vermögen wir nicht an den Geheimnissen der Breite und Höhe, der Länge und Tiefe des Kreuzes vorüberzugehen, ohne sie zu berühren. Nach seiner Tiefe geht dieses Panier hinab in die geheimsten Tiefen unseres Herzens, es bohrt sich mit scharfer Spitze in unser Innerstes, es durchdringet, bis daß es scheidet Seele und Geist, es durchsticht unsere Leidenschaften, treibt unsere geheimen und verborgenen Regungen zu Paaren und durchbohrt alle leichtfertigen Lüste. Also thut das Kreuz, wenn es in die Tiefe des Herzens hinabgedrungen ist. Es verwundet inwendig die Seele, und wenn tiefinnen der giftige Lindwurm mit dieser Waffe getödtet ist, erfüllt es hernach unser Innerstes mit Frieden, beruhigt das Gewissen und heiligt die Gedanken. Und gleich wie das Holz, das vom Herrn dem Moses gezeigt und in die Wasser zu Mara getaucht ward, alle ihre Bitterkeit in Süßigkeit verwandelte, also versüßt die Kraft des heiligen Kreuzes, wenn sie in die Seele hinabdringt, das ganze Salzmeer der Versuchungen, in das sie eintaucht und das sie berührt. Wir kommen nun zur Länge, die sich vom Fußende bis zur Einfügung des Querbalkens erstreckt, und die fortlaufende Abtödtung des Christenmenschen bedeutet, auch einen starken Hinweis darauf enthält, daß zugleich Gedanken und Werke gekreuzigt werden müssen. Ist es doch nothwendig, daß wir während des ganzen Lebens, wie groß auch das uns für diese Welt zugemessene Zeitmaß sei, unermüdlich in beharrlicher Geduld und anhaltender Ausdauer nach dem uns strecken und recken, was da vorne ist. Die Breite aber ist die Liebe, die in der Größe ihres Eifers Alles umfaßt, mit den Schwachen schwach wird und mit denen brennt, die geärgert werden. In ihrer Lust am Helfen dehnt sie sich aus und erstreckt sie sich über alle Nothleidende. Sie sammelt unter ihre ausgebreiteten Flügel die unbefiederten Küchlein und wärmt und schirmt sie. Die Kleinen zu schützen, setzt sie sich der Gefahr aus und vergißt sich selbst. Gilt es die Vertheidigung Anderer, so achtet sie auch eigenen Schaden nicht. Selbst mit denen, die sie hassen, schließt die Frieden. Sie ist so friedfertig, daß sie an ihren Beleidigern sich nicht rächen will. Sie läßt sich nicht erbittern, sie vergilt nicht Scheltwort mit Scheltwort. Wenn sie bessern will, so sorgt sie mit allem Fleiß dafür, daß die Freundlichkeit mehr hervortritt, als die Strenge, die Ermahnung mehr als der Zwang, die Demuth mehr als die Gewalt. Sie umfaßt zugleich den Gerechten und den Gottlosen, den einen, daß er nicht falle, den andern, daß er wieder aufstehe. Gütigkeit ist ihr nichts Fremdes, Milde erbettelt sie nicht auswärts. Sie läßt sich nicht erst durchs Gesetz, durch Striemen und Bande dazu zwingen die Lasten Anderer auf sich zu nehmen, freiwillig beugt sie die Kniee und krümmt sie den Rücken. Sie erachtet es nicht für lästig das Leiden derer auf sich zu laden, die es selbst nicht zu tragen vermögen, sondern dem Elend des Bruders begegnet sie mit hülfreichem Wohlthun und opferwilliger Güte. Findet sich etwa bei den Schwachen etwas, dadurch sie geschändet werden, so gibt sie ihnen nur um so reichlicher Ehre. Sie macht keine Vorwürfe, die überhäuft nicht mit Schimpf, sie heilt, aber verwundet nicht, sie verbindet, aber zerfleischt nicht, sie entbürdet, aber belastet nicht. Sünden macht sie nicht kund, sondern sie deckt sie zu. Dieser Breite Geheimniß hat Christus auch unter Martern offenbart, darum ließ er sich mit ausgebreiteten Händen, mit seiner erhobenen Linken und Rechten mitten zwischen die Uebelthäter stellen. Er wollte, daß wir erkennen sollten: er thue jene Heilsthat für Alle; was da geschah, sollte nicht allein den Frommen, sondern auch den Gottlosen zu Gute kommen; er habe jene heilsame Arzenei viel mehr den Kranken, als den Gesunden dargeboten; er habe jene Gnade mit der gleichen Freigebigkeit für die von der Freien, wie für die von der Magd Geborenen bestimmt.
Noch bleibt uns die Höhe übrig, dargestellt durch den Theil des Kreuzes, der sich nach oben erstreckt. Dadurch wird bedeutet die Zuversicht der köstlichen Hoffnung, die unter die Himmelsbürger versetzt. Alle, die der Welt gekreuzigt sind. Durch das Zeugniß eines guten Gewissens macht sie uns gewiß und sicher der Theilnahme an jener Herrlichkeit. Wieder und wieder streckt sie die Hand nach den zukünftigen Gütern aus, bald gibt sie uns einen Vorschmack, bald öffnet sie uns den Mund, bald füllt sie ihn, bald bringt sie in der Engel. Gemeinschaft, bald treibt sie ihrer Schaar zu folgen, bald gibt die Erkenntniß, bald Mildigkeit, bald Liebe, bald Jubel, bald Freude und Ergötzen, bald macht sie fröhlich und ruhig, bald weise und freundlich.
Und dennoch, einen so vollkommenen Vorschmack auch Einer von dem, das droben ist, gewinnen möge, es bleibt ein gewaltiger Unterschied zwischen Glauben und Schauen. Ohne das Kreuz können zur vollen Fülle auch die Auserwählten nicht hinangelangen, die zwar, weil sie bewährt und vollendet sind, keine Versuchung mehr zu Falle bringt, denen aber noch Eins zum völligen Frieden fehlt, das nämlich, daß sich ihrer Anschauung die Wahrheit noch nicht in ihrer ganzen unverhüllten Gestalt darbietet. Amen.