Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 12

Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 12

1 Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber begebet zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei, welches sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf dass ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille.

Zuerst, bis an diese Stelle seines Briefes, hatte Paulus das verhandelt, womit die Aufrichtung des Reiches Gottes notwendig beginnt: dass man Gerechtigkeit allein von Gott sich schenken lassen, dass man bei seinem Erbarmen die Seligkeit suchen muss, dass in Christus die Fülle aller Güter beschlossen liegt und durch ihn täglich ausgeteilt wird. Nunmehr wendet sich die Rede in passender Ordnung zur Gestaltung des christlichen Lebens. Durch die zuvor entwickelte heilsame Erkenntnis Gottes und Christi wird die Seele in ein himmlisches Leben hineingeboren; die jetzt folgenden heiligen Ermahnungen und Vorschriften geben nun diesem Leben seine Gestalt und Prägung. Vergeblich wird man die schönsten Lebensregeln vortragen, wenn man nicht zuvor den Quell aller Gerechtigkeit in Gott und Christus aufgedeckt hat. Erst dadurch werden die Menschen zum Leben erweckt. Hier sehen wir den Hauptunterschied zwischen dem Evangelium und einer menschlichen Lebensweisheit. Mögen die Philosophen ihre sittlichen Vorschriften glänzend und mit anerkennenswertem Reichtum des Geistes darzustellen wissen -, dieser prächtige Schein ihrer Lehre wird doch nur der schönen Außenseite eines Gebäudes ohne Fundament gleichen oder auch einem Leibe ohne Kopf: denn es fehlt die Grundlage, welche Kraft und Leben geben könnte. Die Quelle aller Tugend und das Ziel alles Guten, den Ursprung, aus dem alle Heiligkeit hervorgeht, erschließt uns hier der Apostel: wir sind von Gott zu dem Zweck erlöst, dass wir uns selbst und alle unsere Glieder seinem Dienste weihen sollen.

V. 1. Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes. Es ist nur zu bekannt, dass sich unreine Menschen die Lehre der Schrift von Gottes unermesslicher Güte eifrigst aneignen, um ihres Fleisches Zügellosigkeit damit zu decken. Es gibt auch Heuchler, die das Evangelium in Verruf bringen und den argen Gedanken aufkommen lassen, als lähme der Glaube an Gottes Gnade den Eifer um ein frommes Leben und öffne eine Tür zu frechem Sündenleben. Paulus dagegen bezeugt uns hier, dass man nur dann Gottes Barmherzigkeit wirklich erkannt hat, wenn man sich stets vor Augen stellt, wie viel wir ihr verdanken. Daraus erwächst dann Ehrfurcht und eifriger Gehorsam. Der Apostel treibt uns nicht durch knechtische Furcht zu Gott, sondern lockt uns freundlich mit der Gnade, die uns selig macht und uns eine freiwillige und fröhliche Liebe zur Gerechtigkeit einflößt. Wie undankbar wäre es, wenn die Erfahrung von der Güte und Freigebigkeit eines solchen Vaters uns nicht zu aufrichtiger Hingabe an ihn entzündete! Und wenn gerade Paulus solche Mahnung vorträgt, muss sie wohl besonders wirksam sein: denn niemand hat herrlicher und klarer Gottes Gnade gepredigt als er. Ein Herz, welches diese Gnadenlehre vernehmen könnte, ohne einen Eindruck von der reichen Güte des Herrn und damit einen Anstoß zu wahrer Gegenliebe zu empfangen, müsst ja härter sein als Eisen. Wunderlicher Gedanke, dass jeder Antrieb zu rechtschaffenem Leben dahinfalle, wenn man der Menschen Seligkeit allein auf Gottes Gnade gründet! Als ob nicht ein ernsthafter Umgang mit der erfahrenen Güte Gottes in einem frommen Gemüte einen viel besseren Gehorsam gegen Gott zustande brächte als alle Gesetze und Versprechungen für die Zukunft! Hier können wir auch den milden Sinn des Apostels bewundern, der viel lieber mit freundlichen Mahnungen auf die Gläubigen wirken will als mit harten Befehlen. Er weiß, dass er auf diesem Wege bei empfänglichen Gemütern mehr ausrichtet.

Dass ihr eure Leiber begebet zum Opfer. Wissen, dass wir Gott gehören und sein Heiligtum sind -, das ist die Grundlage eines rechten Eifers für gute Werke. Wer dies weiß, der hört auf, sich selbst zu leben und richtet alle Regungen seines Lebens auf den Gehorsam gegen den Herrn. Zweierlei gilt es also hier ins Auge zu fassen. Zuerst: wir gehören dem Herrn. Weiter: eben darum müssen wir heilig sein; denn es wäre der Heiligkeit Gottes unwürdig, wenn die Gabe, die ihm gehören soll, nicht zuvor geweiht wäre. Steht aber dies fest, so muss Heiligkeit überhaupt das Trachten unseres ganzen Lebens sein. Wollten wir in unreines Wesen zurückfallen, so wäre dies ein Raub an Gottes Eigentum: denn wir würden damit Gottes heiligen Besitz entweihen. Diese Wahrheit legt uns der Apostel mit mannigfaltigem Ausdruck ans Herz. Zuerst hat er gefordert, dass wir unsern Leib dem Herrn zum Opfer bringen sollen. Daraus entnehmen wir bereits, dass wir kein Verfügungsrecht über uns haben, sondern dass wir ganz in Gottes Macht stehen. Also müssen wir uns selbst verleugnen und unserm eignen Willen gänzlich absagen. Dann beschreiben mehrere Beiworte, wie unser Opfer beschaffen sein soll. Es soll lebendig sein: also dies ist seine Weise, dass das alte Leben in uns geschlachtet und geopfert ward, und wir nunmehr dem Herrn ein neues darbringen. Es soll heilig sein in dem bereits dargelegten Sinne: die Gabe, die man Gott bringen will, muss ordnungsmäßig zuvor entsündigt und geweiht sein. Das dritte Beiwort (Gott wohlgefällig) erinnert daran, dass unser Leben sich dann in der rechten Bahn bewegt, wenn wir unsere Aufopferung dem Wohlgefallen Gottes anpassen; zugleich bietet es uns einen großen Trost: denn es lehrt, dass Gottes Wohlgefallen auf solchem Eifer ruht, wenn wir einem gerechten und heiligen Wesen nachdenken. Die Leiber, die wir dem Herrn zum Opfer bringen sollen, sind nicht bloß Fleisch und Bein sondern der ganze Bestand unseres Wesens. Denn die Glieder des Leibes sind die Werkzeuge für unsere Taten. Anderwärts (1. Thess. 5, 23) will der Apostel nicht bloß den Leib, sondern auch Seele und Geist heilig haben. Wenn es heißt, wir sollen unsere Leiber zum Opfer begeben, so ließe sich noch genauer übersetzen: zum Opfer darstellen. Darin liegt eine Anspielung an die Opfer des Alten Bundes, welche auf dem Altar gewissermaßen dem Anblick Gottes dargestellt wurden. Zugleich aber erinnert der Ausdruck in seiner Weise daran, wie wir bereit und fertig dastehen müssen, um Gottes Befehle zu empfangen und ihnen ohne Verzug zu folgen. Daraus ergibt sich der Schluss, dass jeder Sterbliche, der nicht den Vorsatz hegt, dem Herrn zu dienen, einen elenden und verderblichen Irrweg geht. Wir sehen auch, welcherlei Opfer Paulus der christlichen Gemeinde anempfiehlt. Nachdem Christi einiges Opfer uns dem Vater versöhnt hat, sind wir durch seine Gnade alle Priester geworden, um uns mit allem, was wir haben, dem Ruhme Gottes zu weihen. Ein weiteres Sühnopfer brauchen wir nicht mehr: wer ein solches noch bringen will, lästert Christi unvergleichliches Kreuzesopfer.

Euer vernünftiger Gottesdienst. Diese Wendung wird Paulus hinzugefügt haben, um seine vorige Aussage zu erläutern und zu bekräftigen. Selbstaufopferung ist der wahre Gottesdienst. Wer sie nicht auf sich nimmt, ist ein falscher Anbeter. Man dient dem Herrn in rechter Weise, wenn man all sein Tun und Treiben nach seinem Gebote richtet. Hinweg also mit allem erdichteten Kultus! Er ist dem Herrn ein Gräuel. Bei Gott ist Gehorsam besser denn Opfer (1. Sam. 15, 22). Freilich pflegen sich die Menschen in ihre heiligen Erfindungen zu verlieben, welche einen Schein der Weisheit und des gottseligen Wesens um sich verbreiten (Kol. 2, 23). Gottes Wort aber, welches Paulus uns hier verkündigt, erklärt nur den Gottesdienst für vernünftig, welchen Gott befohlen hat, dagegen solche Menschengemächte, die man neben der Regel des Wortes aufrichtet, für töricht, unvernünftig und vorwitzig.

V. 2. Und stellet euch nicht dieser Welt gleich. Das Wort „Welt“ hat vielerlei Bedeutungen. Hier steht es für den allgemeinen Sinn und die Art der Menschen. Derselben uns anzupassen verbietet der Apostel mit gutem Grunde. Denn da die ganze Welt im Argen liegt (1. Joh. 5, 19), so müssen wir ausziehen, was Menschenart ist, wenn anders wir Christus in Wahrheit anziehen wollen. Um jeden Zweifel zu beheben, beschreibt der Apostel die Umwandlung, die er von uns verlangt, auch noch von der andern Seite her: sondert verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes. Solche gegensätzliche Wendungen, welche eine Wahrheit deutlicher machen sollen, sind ja der Schrift geläufig. Dabei wollen wir beachten, welch durchgreifende Verwandlung vor sich gehen soll: nicht bloß das Fleisch des Menschen soll erneuert werden, sondern sein Geist und Sinn. Es ist also nicht so, dass die Vernunft, die man als die allerweiseste Königin bezeichnet, einfach zur Herrschaft kommen müsste. Die Meinung des Apostels greift viel tiefer: auch der Sinn, also die Vernunft, wird von Grund auf erschüttert, ja sogar zunichte gemacht, wenn Paulus die Erneuerung unseres Sinnes lehrt. Alle unsere geistige Selbstbespiegelung sinkt in Nichts zusammen vor Christi Spruch (Joh. 3, 5), dass der ganze Mensch einer Neugeburt bedarf, wenn anders er ins Himmelreich eingehen will. Denn unser Herz und Sinn ist natürlicherweise von der Gerechtigkeit Gottes weit entfernt.

Auf dass ihr prüfen möget usw. Damit spricht Paulus aus, was es für einen Zweck und ein Ziel hat, dass wir einen neuen Sinn anziehen: wir sollen unsern und aller Menschen Anschlägen und Wünschen den Abschied geben und eine innere Richtung auf den einigen Gotteswillen empfangen, welchen zu kennen wahre Weisheit ist. Wie gottwidrig unser Sinn von Natur ist, lässt sich daraus abnehmen, dass er durchaus erst erneuert werden muss, wenn wir überhaupt prüfen wollen, was Gottes Wille ist. Die weiteren Beiworte lassen diesen Willen Gottes in seiner ganzen begehrenswerten Herrlichkeit erscheinen. Unser Eigensinn muss in seine Schranken gebannt werden: darum erklärt Paulus auf das allernachdrücklichste, dass das Lob der Gerechtigkeit und Vollkommenheit nur dem Willen Gottes gebührt. Redet die Welt sich ein, dass ihre selbst gemachten Werke gut seien -, so heißt es dagegen, dass man nur nach Gottes Geboten bemessen darf, was recht und gut ist. Zeigt sich die Welt in ihren eignen Gedanken höchst zufrieden und selbstvergnügt, so sagt Paulus, dass vor Gott nur wohlgefällig ist, was er verordnet hat. Sucht die Welt mit neuen Erfindungen eine Vollkommenheit über Gottes Wort -, so behauptet Paulus, dass allein Gottes Wille vollkommen sei: wer über ihn hinausstrebt, betrügt sich mit Einbildungen.

3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedermann unter euch, dass niemand sich höhere Gedanken mache, denn sich´ s gebührt zu denken, sondern dass er von sich mäßig halte, ein jeglicher, nach dem Gott ausgeteilt hat das Maß des Glaubens.

V. 3. Die Anknüpfung mit denn zeigt, dass diese Mahnung eng mit der vorigen Aussage zusammenhängt. Wollte Paulus unsern ganzen Eifer auf die Erkenntnis des Willens Gottes lenken, so war das nächste Erfordernis, dass er uns unsere hochmütigen und eigenwilligen Gedanken austreibe. Dabei stützt er seine Forderung mit der ganzen Autorität seines Amtes: ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist. Des Apostels Wort soll als Gottes Wort gehört werden. Denn er redet nicht aus sich selbst, sondern aus Gottes Auftrag und Offenbarung. Er hat seinen apostolischen Dienst nicht willkürlich an sich gerissen, sondern durch Gottes Berufung und Gnade empfangen (vgl. zu 1, 5). Mit diesem Hinweis auf seine Autorität zwingt der Apostel seine Leser geradezu, seinem Worte sich zu unterwerfen, wenn anders sie nicht den Gott verachten wollten, der durch ihn redete. Die nun folgende Mahnung will auch uns zurückhalten, Dinge zu erforschen, welche dem Geist nur vergebliche Unruhe, aber keine Erbauung bringen. Niemand soll höheren und weiteren Gedanken nachhängen, als sein Verstand fassen kann und seine Berufung ihm erlaubt. Darin liegt zugleich beschlossen, dass wir unser Dichten und Trachten nur auf Dinge richten sollen, die uns in der Demut und Nüchternheit erhalten. Ich glaube nämlich, dass dieses Verständnis unserer Worte besser mit dem Urtext und dem Zusammenhang der Rede sich verträgt als die gewöhnliche Übersetzung: „Dass niemand weiter von sich halte, denn sich´ s gebührt zu halten.“ Man macht sich höhere Gedanken, denn sich´ s gebührt zu denken, wenn man seine Gedanken mit Dingen beschäftigt, die außerhalb unseres Berufes liegen und die uns nichts angehen. Man bescheidet sich in seinen Gedanken, wenn man sich auf seinen zugewiesenen Kreis beschränkt und sich dadurch zur Anspruchslosigkeit immer wieder anleiten lässt.

Ein jeglicher, nach dem Gott ausgeteilt hat usw. D. h. wie einem jeglichen Gott ausgeteilt hat. Damit gibt der Apostel den Grund dafür an, weshalb wir uns in nüchterner Weisheit selbst beschränken sollen. Gott hat große Gaben verschieden ausgeteilt: und das Maß unserer Pläne und Ansprüche soll sich danach bemessen, dass wir die Grenzen einhalten, die Gottes Wohlgefallen uns gesteckt hat und die er uns im Glauben erkennen lässt. Unsere Gedanken greifen also nicht bloß dann zu weit, wenn sie sich mit gänzlich überflüssigen und unnützen Dingen beschäftigen, sondern auch dann, wenn sie sich auf Gegenstände richten, die zu wissen und zu treiben an sich gut sein kann, bei denen wir aber nicht fragen, ob sie uns anvertraut sind -, wobei wir dann mit Vorwitz und Selbstüberhebung das Maß dessen überschreiten, was wir bedenken sollen. Solche Anmaßung wird Gott nie ungestraft lassen. Sieht man doch nur zu oft, dass Leute, deren törichter Ehrgeiz über die gewiesenen Grenzen hinausgreift, schließlich in lauter Torheiten umgetrieben werden. In Summa: auch das gehört zu unserm vernünftigen Gottesdienst, dass ein jeder in Sanftmut und Nachgiebigkeit sich von Gott lenken und leiten lasse. Nicht unsere eigenen Gedanken sollen entscheiden, sondern der Glaube, welcher jeden an sein eignes, bescheidenes Maß bindet.

4 Denn gleicher weise als wir in einem Leibe viele Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäft haben, 5 also sind wir viele ein Leib in Christo, aber untereinander ist einer des andern Glied, 6 und haben mancherlei Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. 7 Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so warte er des Amts. Lehret jemand, so warte er der Lehre. 8 Ermahnt jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt jemand, so gebe er einfältig. Regiert jemand, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er´ s mit Lust.

V. 4. Denn gleicher weise usw. Was der Apostel davon sagte, dass die Weisheit eines jeden ihr Maß an seinem Glauben finden solle, das bestätigt jetzt ein Blick auf die Berufung aller Gläubigen. Wir sind doch in einer solchen Weise berufen, dass wir zu einem Leibe zusammenwachsen sollen. Wie die Glieder des menschlichen Leibes ineinander greifen, so will auch Christus eine Gemeinschaft und Verbindung seiner gläubigen Glieder stiften. Und da die Menschen sich selbst nicht zu solcher Einheit zusammenzufinden vermochten, ist er selbst das Band und Haupt geworden. Also dasselbe vernünftige Zusammenwirken, welches wir am menschlichen Leibe beobachten, soll auch in der Gemeinschaft der Gläubigen statthaben. Dieses Gleichnis macht sehr anschaulich, wie nötig jeder einzelne bedenken muss, was seiner Natur, seinen Gaben und seiner Berufung angemessen ist. Davon ließen sich ja mancherlei Anwendungen machen. Hier kommt es aber auf eine Wahrheit ganz besonders an: wie die Glieder eines Leibes verschiedene Verrichtungen haben, zu welchen allein sie passend eingerichtet sind, wie kein Glied alles zugleich ausrichten kann oder auch nur die Geschäfte eines andern mit übernimmt -, so hat auch Gott uns mancherlei Gaben verliehen und damit eine Arbeitsteilung geschaffen, die er gehalten wissen will. Ein jeder soll nach seinem Maße sich bescheiden und nicht in ein fremdes Amt greifen. Es soll niemand alles zugleich beherrschen wollen, sondern voller Selbstbescheidung auch dem andern seinen Platz lassen. Wenn dabei (V. 5) der Apostel betont, dass wir untereinander Glieder sind, so erinnert er uns damit, wie eifrig ein jeder seine Gaben zu Nutz und Heil der andern Glieder und der Gesamtheit anlegen soll.

V. 6. Und mancherlei Gaben. Damit schlägt der Apostel unsern angeborenen Stolz nieder. Ein jeder soll es tragen, dass er auch den andern braucht und sich von ihm muss helfen lassen. Gottes allerweisester Rat hat jeglichen sein Teil gegeben. Es dient zum Wohlsein des ganzen Leibes, dass niemand die Fülle aller Gaben empfangen hat und keiner ungestraft seine Brüder verachten darf. Wenn wir diese Grundwahrheit stets im Auge behalten, dass jeder seine besondere, große oder kleine Gabe von Gott empfing, die er innerhalb seiner Grenzen zur Auferbauung der Gesamtheit verwenden soll, so wird die Gemeinde Gottes wohlgeordnet dastehen. Jeder leistet seinen Beitrag zum gemeinen Besten, und keiner hindert den andern. Wer aber solche Ordnung umstößt, der kämpft wider Gott, der sie gegeben hat. Denn der Unterschied der Gaben stammt nicht aus menschlicher Willkür, sondern von dem Gott, der auf solche Weise seine Gnade austeilen wollte.

V. 7. Hat jemand Weissagung usw. Nun folgen einzelne Beispiele dafür, wie jeder nach seiner Kraft und auf seinem Posten das Seine leisten soll. Hat nämlich jede Gabe ihre Grenzen, so verderbt man die Gabe selbst, wenn man sich an diese Grenze nicht hält. Bei der Weissagung, von welcher der Apostel hier redet, müssen wir nicht in erster Linie an die Gabe denken, künftige Ereignisse zu enthüllen, welche ja freilich Gott zur Verherrlichung seines Reiches der christlichen Gemeinde in ihren Anfängen verliehen hatte. Vielmehr handelt es sich um eine Gabe weissagender Offenbarung in dem Sinne, dass der, welcher sie besitzt, den Willen Gottes überhaupt richtig und kundig zu erschließen und auszulegen weiß. Diese Gabe der „Prophetie“ ist noch heutigen Tages in der Christenheit vorhanden. Es ist die Fähigkeit, die Schrift recht zu verstehen und auszulegen. Das ist die Art der Weissagung, die noch besteht, seit die alten Propheten und alle Verheißungen Gottes in Christus und seinem Evangelium ihre Erfüllung gefunden haben. Wenn Paulus sagt (1. Kor. 14, 5; 13, 9): „Ich wollte, dass ihr alle mit Zungen reden könntet, aber viel mehr, dass ihr weissagtet.“ „Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk“ – so schweben ihm auch nicht ausschließlich die wunderbaren Gnadengaben vor, mit welchen Christus das Evangelium im Anfange seines Laufes schmücken wollte, sondern auch die gewöhnlichen und bleibenden Ordnungen seiner Gemeinde. So ermahnt er hier diejenigen, die in der Gemeinde das Prophetenamt innehaben (d. h. als Prediger Gottes Gedanken auslegen), dass sie ihre prophetische Rede dem Glauben gemäß einrichten und von dieser „Regel des Glaubens“ keinen Fußbreit abweichen. Unter „Glaube“ versteht er dabei die Hauptgrundsätze der Religion: wenn eine Lehrweise sich mit diesen in handgreiflichen Widerspruch setzt, ist sie sicher falsch. – Die übrigen Beispiele machen dem Verständnis geringere Schwierigkeiten. Hat jemand ein Amt, zu welchem er ordnungsmäßig bestellt ist, so warte er des Amts und bedenke, dass er nicht um seiner selbst, sondern um der andern willen auf seinen Posten gestellt ward. Sein Amt ist ein „Dienst“. In demselben Sinne ruft Paulus den Lehrern zu: Lehret jemand, so warte er der Lehre, d. h. er sorge für eine wahrhafte Auferbauung der Gemeinde. Denn deren Förderung ist der einzige Zweck seiner Tätigkeit. Ein „Lehrer“ ist nämlich derjenige, der die Gemeinde im Wort der Wahrheit unterrichtet und unterweist.

V. 8. Ermahnt jemand, so warte er des Ermahnens, nämlich kräftig und wirksam. Alle die bisher genannten Ämter sind nahe verwandt und grenzen eng aneinander, aber es ist doch für die Ordnung der Gemeinde nützlich, sie auseinander zu halten. – Gibt jemand, so gebe er einfältig. – Die letzten Glieder zeigen deutlich, dass uns hier der rechte Gebrauch der Gaben Gottes vor Augen gestellt werden soll. Die Gaben, an welche der Apostel hier denkt, sind nicht private und persönliche, sondern diejenigen, welche so genannte „Diakonen“ oder Almosenpfleger (Apg. 6; 1. Tim. 3, 8) aus dem Besitz der Gemeinde zu verteilen haben. Die Übung der Barmherzigkeit ist die Krankenpflege, welche nach der Sitte der alten Kirche christlichen Witwen (1. Tim. 5, 3-16) und andern Gemeindebeamten oblag. Die Almosenpfleger sollen nun ihr Amt „einfältiglich“ verwalten, d. h. ohne Betrug und Ansehen der Person die ihnen anvertrauten Gaben treulich austeilen. Die Krankenpfleger, welche außerdem auch sonst Bedürftigen Trost und Hilfe bringen mochten, sollen ihr Pflicht mit Lust, d. h. fröhlich tun. Ein verdrossenes Wesen würde ihren Diensten den Wert nehmen. Wie einen Kranken oder Betrübten nichts mehr tröstet und erquickt, als wenn man ihm mit frischem und bereitwilligem Gemüte hilft, so wird es ihn nur niederdrücken, wenn er bei seinen Pflegern, die um ihn sind, traurige Mienen sieht. – Regiert jemand usw. Dies gilt im Sinne des Apostels zunächst für die Ältesten oder Presbyter, welchen die Regierung der Gemeinde anvertraut war, welche die Gemeinde leiteten und Sittenzucht übten. Es lässt sich aber auf alle Inhaber irgendeines Vorsteheramtes anwenden. Wer für die Ordnung der Gemeinschaft sorgen soll, muss besonders sorgfältig sein und Tag und Nacht für das Wohl der Gesamtheit sorgen.

9 Die Liebe sei nicht falsch. Hasset das Arge, hanget dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brünstig im Geiste. Schicket euch in die Zeit. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. 13 Nehmet euch der Notdurft der Heiligen an. Herberget gern.

V. 9. Die Liebe usw. Indem der Apostel nun zu den Pflichten jedes einzelnen Christen übergeht, macht er billig den Anfang mit der Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist. Er gibt darüber die sehr nötige Vorschrift, dass die Liebe, frei von jedem falschen Schein, aus einem reinen und treuen Herzen kommen soll. Denn es lässt sich kaum beschreiben, wie erfinderisch fast alle Menschen darin sind, eine Liebe zu heucheln, die sie gar nicht haben. Sie belügen nicht bloß andere, sondern auch sich selbst, und reden sich ein, dass sie Leuten, die ihnen in Wirklichkeit nicht bloß gleichgültig, sondern verhasst sind, eine hinreichende Liebe zuteil werden lassen. Deshalb will Paulus nur solche Liebe als echt anerkennen, die sich von jeder Heuchelei frei hält. Es kann sich aber jeder selbst bezeugen, ob er im verborgensten Grunde seines Herzens nichts trägt, das der Liebe widerstreitet. Wenn der Apostel die weitere Mahnung gibt: Hasset das Arge, hanget dem Guten an -, so will diese nicht in blasser Allgemeinheit verstanden sein. Vielmehr weist der Zusammenhang darauf hin, dass unter dem „Argen“ ein missgünstiger und ungerechter Sinn verstanden sein soll, welcher den Menschen unbedenklich Schaden zufügt. Das „Gute“ ist dann der freundliche, hilfsbereite Sinn, welcher den Nebenmenschen gern Wohltaten erweist. Die Schrift liebt es, durch solche Gegenüberstellung des Lasters und der Tugend ihre Mahnungen besonders eindringlich zu machen. Der Hass gegen das Arge, welchen uns der Apostel einflößen will, ist natürlich nicht eine bloße Stimmung: wie wir dem Guten tätig anhangen sollen, so sollen wir vielmehr den argen Sinn kräftig abstoßen.

V. 10. Die brüderliche Liebe usw. Der Apostel kann nicht Worte genug finden, um die Innigkeit der Liebe zu beschreiben, welche die Christen untereinander verbinden soll. So brüderlich und herzlich sollen sie miteinander umgehen, als wären sie leibliche Geschwister. Solche Liebe müssen wir den Kindern Gottes entgegen bringen. Der Apostel hilft uns dazu mit einem neuen Winke: Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Gegenseitige Geringschätzung ist ja ein Gift, welches die Zuneigung zueinander am wirksamsten tötet. Nichts stört die brüderliche Eintracht gründlicher als der wegwerfende Hochmut, welcher den andern verachtet, um sich selbst zu erheben. Und umgekehrt gibt es kein besseres Band der Liebe als die Bescheidenheit, die jedem seine Ehre lässt.

V. 11. Seid nicht träge usw. Auch diese Mahnung will nicht bloß im Allgemeinen besagen, dass ein christliches Leben sich stets tätig erweisen soll. Sie will uns insbesondere ans Herz legen, unter Hintanstellung des eignen Nutzens den Brüdern unsern Dienst zu weihen, und zwar nicht bloß den guten, sondern oft gar unwürdigen und undankbaren. Bei allen solchen Pflichten müssen wir uns selbst vergessen: darum ist die Erinnerung nötig, dass wir uns selbst nicht nachgeben dürfen, vielmehr alle Trägheit abschütteln müssen. Anders können wir nie uns für Christi Dienst völlig frei machen. Wenn es weiter heißt: seid brünstig im Geist -, so weist uns dies den Weg zu solchem Eifer. Das Fleisch geht immer in stumpfer Trägheit dahin, wie ein Esel: es bedarf stets, gestachelt und getrieben zu werden. Nur brünstiger Eifer des Geistes vermag unsere Bequemlichkeit zu überwinden. Sollen wir fortgehend Gutes tun, so muss der Geist Gottes in unserm Herzen den rechten Eifer dafür entzünden. Dabei könnte aber jemand fragen, was dann die Ermahnung des Paulus überhaupt helfen könne. Ich antworte, dass zwar Gott uns den rechten Eifer schenkt; die Gläubigen aber haben wider ihre eigne Trägheit anzukämpfen und müssen die von Gott entfachte Flamme in sich aufnehmen. Geschieht es doch nur zu oft, dass unser verkehrtes Wesen den Trieb des Geistes dämpft und erstickt. Ebendahin zielt das dritte Wort: schicket euch in die Zeit. Denn kurz ist unser Lebenslauf, und die Gelegenheit, Gutes zu tun, eilt vorüber. Darum gilt es, eifrig zuzugreifen, wenn wir etwas leisten wollen. In demselben Sinne sagt Paulus Eph. 5, 16: „Kaufet die Zeit aus.“ Denn an unserer Stelle wird er nicht den an sich richtigen Gedanken einprägen wollen, dass wir uns in die Umstände der Zeit fügen, sondern vielmehr, dass wir nicht säumen und uns schicken sollen, die Gelegenheit der Zeit zu nützen. Übrigens bieten viele alte Handschriften vielmehr die Lesart: „Dienet dem Herrn“. Wenn dieselbe richtig sein sollte 1), so würde der Apostel zu verstehen geben, dass jeder Liebesdienst an den Brüdern im tiefsten Grunde ein Gottesdienst ist. So würde unser Eifer einen besonderen Antrieb empfangen.

V. 12. Seid fröhlich in Hoffnung. Auch die drei Worte dieses Verses sind eng sowohl untereinander als mit den vorangehenden Mahnungen verknüpft. Werden wir doch am besten imstande sein, Gutes zu tun und jede Gelegenheit dafür nützen, wenn wir fröhlich in der Hoffnung auf das ewige Leben ausruhen und dadurch alle gegenwärtige Unruhe geduldig tragen lernen. Wir suchen dann unsere Freude und unser Glück nicht mehr auf Erden und in diesseitigen Gütern, sondern richten unsern Sinn gen Himmel zu voller und beständiger Freude. Solche Freude gründet sich auf die Hoffnung des ewigen Lebens; darum überwiegt sie allen gegenwärtigen Schmerz. So hängt am ersten das zweite: geduldig in Trübsal. Nur wer sein Glück jenseits der Welt sicher geborgen weiß, der wird bereitwillig und geduldig jeden Schmerz tragen und durch den Trost der Hoffnung die Bitterkeit des Leides mildern und lindern. Da wir aber dies beides mit unserer Kraft bei weitem nicht zu zwingen vermögen, so fügt der Apostel hinzu: haltet an am Gebet. Wir sollen Gott bitten, dass er unsern Mut nicht wanken und fallen lasse oder ihn durch das Unglück gar zerbreche. Aber der Apostel mahnt uns nicht bloß zum Beten überhaupt, sondern zu anhaltendem Gebet. Wir müssen immer unter den Waffen stehen; denn täglich erhebt sich mannigfacher Aufruhr, den auch der Tapferste nicht niederschlagen kann, wenn er nicht stets neue Kraft schöpft. Das bewährteste Mittel gegen die Erschlaffung ist aber das Gebet ohne Unterlass.

V. 13. Nehmet euch der Notdurft der Heiligen an. Jetzt lenkt die Rede wieder auf die Liebespflichten zurück, deren vornehmste es ist, denen Gutes zu tun, von welchen wir eine Vergeltung nicht erwarten können. Da nun nach dem gewöhnlichen Lauf der Welt die bedrängtesten und hilfsbedürftigsten Leute am ehesten übergangen werden, weil die Menschen glauben, dass mit allen Wohltaten doch nicht zu helfen sei -, so legt uns Gott eben sie am dringendsten aufs Herz. Wahre Liebe kennt ja nur einen Gesichtspunkt: sie will Gutes tun. So sollen wir den Brüdern helfen, die der Hilfe bedürfen. Ein Hauptstück solcher Liebe wird ausdrücklich genannt: Herberget gern. Haben doch die Fremden, die fern von ihren Lieben sich leicht verlassen fühlen, Wohlwollen und Freundlichkeit besonders nötig. Wir sehen also, dass uns ein Mensch umso mehr aufs Herz gelegt werden soll, je weniger andere sich um ihn kümmern. Solcher Menschen sollen wir uns „annehmen“, als wären sie ein Stück von uns selbst. Insbesondere sollen wir den „Heiligen“ unsere Hilfe zuwenden: denn wenn auch unsere Liebe das ganze Menschengeschlecht umspannen muss, so wird doch ein besonderer Zug der Zuneigung uns mit den Glaubensgenossen verbinden.

14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und fluchet nicht. 15 Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden. 16 Habt einerlei Sinn untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den niedrigen. 17 Haltet euch nicht selbst für klug.

V. 14. Bei diesen mancherlei Mahnungen müssen wir von vornherein darauf verzichten, gar zu peinlich eine bestimmte Ordnung zu suchen. Diese kurzen Vorschriften zielen einmal auf diese, dann wieder auf jene Seite des christlichen Lebens. Nur der allgemeine Gesichtspunkt, welchen uns der Apostel zu Beginn des Kapitels eröffnet hatte, hält sie zusammen. Alsbald werden wir die Vorschrift empfangen, nicht Böses mit Bösem zu vergelten (V. 17). Was der Apostel aber jetzt von uns verlangt, ist noch schwieriger: wir sollen unsern Feinden nicht einmal fluchen, d. h. wir sollen ihnen nichts Böses, sondern lauter Segen wünschen und von Gott erbitten, selbst wenn sie uns quälen und unmenschlich behandeln. Je schwieriger es ist, solch sanftmütigen Sinn zu bewahren, umso angestrengter muss unser Eifer sein, ihn zu erlangen. Denn in allem, was Gott befiehlt, will er unsern Gehorsam sehen. Dabei gilt nicht die Entschuldigung, dass wir solchen Sinn nun einmal nicht haben. Denn Gott will, dass wir uns gerade durch Sanftmut von den Gottlosen und Weltkindern unterscheiden. Damit ist uns freilich eine schwierige Aufgabe gestellt, die gänzlich wider die menschliche Natur geht. Aber es ist nichts so schwer, dass es Gottes Kraft nicht überwinden könnte. Und diese Kraft wird uns nie fehlen, wenn wir nur nicht versäumen, darum zu bitten. Begegnen wir auch schwerlich einem Menschen, der im Gesetz des Herrn solche Fortschritte gemacht hätte, dass er dieses Gebot schon vollkommen hielte -, so soll doch niemand sich für ein Kind Gottes ausgeben oder mit dem Namen eines Christen schmücken, der nicht wenigstens anfangs weise solchen Sinn angezogen hat und mit seiner widerstrebenden Neigung täglich im Kampfe liegt. Ich wiederhole, dass dies Gebot zu halten viel schwerer ist, als bloß von der eignen Rache für eine Beleidigung abzustehen. Mancher hält seine Hände zurück, zügelt auch seine innere Neigung, dem Feinde Schaden zuzufügen, aber er wünscht von ganzem Herzen, dass ihn sonst woher ein Schlag oder Verlust treffe. Und ist mancher selbst von Natur so sanftmütig, dass er seinem Feind nicht ausdrücklich etwas Böses anwünscht, so wird unter Hunderten doch kaum einer den gegenteiligen Wunsch hegen, dass es seinem Beleidiger geradezu gut gehen möchte. Die meisten lassen sich zu ungezähmten Verwünschungen hinreißen. Gottes Wort aber will nicht nur unsere Hände binden, dass sie nichts Böses tun, sondern will auch die bittere Stimmung im Herzen unterdrücken; ja noch mehr: es will, dass wir um das Heil derer besorgt sein sollen, welche uns in ungerechter Weise verfolgen und welche damit dem Verderben entgegen gehen. Gott will an uns nicht bloß soviel Geduld sehen, dass wir in unsern Gebeten den zornigen Ansturm zähmen. Vielmehr soll unsere Fürbitte um Verzeihung ein Zeugnis werden, dass es uns wehe tut, wenn wir unsere Feinde so mutwillig ins Verderben stürzen sehen.

V. 15. Freuet euch mit den Fröhlichen usw. Die allgemeine und zusammenfassende Vorschrift steht erst an dritter Stelle (V. 16): Habt einerlei Sinn untereinander, d. h. nehmet herzlichen Anteil an dem Geschick des Nächsten. Was vorangeht, ist beispielsweise gesagt: wir sollen Freude und Leid mit dem Bruder teilen. Das ist die Art der wahren Liebe, dass sie von dem Leid des andern sich nicht herzlos in die eigne Freude oder Bequemlichkeit zurückzieht, sondern mit ihm trauert. In Summa: Wenn der Sinn des Bruders in jedem wechselnden Geschick, in Freude und Leid unsern Sinn mitberührt, dann haben wir die Vorschrift des Apostels erfüllt. Nur der böse Neid freut sich nicht im Hinblick auf des Bruders Glück. Nur die unmenschliche Hartherzigkeit bleibt unbetrübt, wenn es ihm übel geht. Es soll also unter uns eine solche innere Gemeinschaft bestehen, dass wir alle Regungen gemeinsam empfinden.

V. 16. Trachtet nicht nach hohen Dingen. Dem Christen ziemt es nicht, ehrgeizig nach Dingen auszuschauen, mit denen er andern voraus kommen will, überhaupt nicht, sich hochmütig zu gebärden; er soll vielmehr auf bescheidenes und nachgiebiges Wesen bedacht sein. Dies macht uns groß vor Gott, nicht der Stolz und das verächtliche Herabschauen auf die Brüder. Hieran reiht sich vortrefflich die weitere Erinnerung: haltet euch herunter zu den niedrigen, nämlich zu niedrigen Dingen, nicht „zu den Niedrigen“. Dieses Verständnis empfiehlt sich um des Gegensatzes willen mehr. Nichts fördert ja die Eitelkeit mehr, als wenn man sich zu hohe Pläne macht. Je höher der Platz ist, den wir begehren, umso hochmütiger werden wir. Der Apostel verwirft also alle Streberei und alle hohen Ansprüche, welche die Menschen oft als einen edlen Ehrgeiz loben. Die oberste Tugend der Gläubigen ist Mäßigung, oder vielmehr eine Bescheidenheit, welche die Ehre lieber andern gibt als sich selbst nimmt. Damit hängt auch das Nächste zusammen: Haltet euch nicht selbst für klug. Denn nichts macht hochmütiger als die Überzeugung von der eignen Klugheit. Davon sollen wir ganz absehen, sollen auch andere hören und ihren Ratschlägen Beachtung schenken.

17 Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. 18 Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn (Gottes); denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“

V. 17. Vergeltet niemand Böses. Eine ähnliche Vorschrift folgt wenige Verse später (V. 19). Nur ist dort ausdrücklich von Rache die Rede, hier von einer wenig milderen Art des Ausgleichs. Wir vergelten oft Böses mit Bösem, auch wenn wir uns nicht gröblich für ein erfahrenes Unrecht rächen. Wir begegnen etwa denen, die uns nicht wohlwollen, mit einer berechneten Kälte. Wir messen ab, was uns dieser und jener wert ist oder nicht. Die uns etwas geleistet haben oder von denen wir etwas für uns hoffen, lassen wir unser Dienstwilligkeit erfahren. Hat uns aber jemand im Stich gelassen, wo wir seiner bedurften, so vergelten wir Gleiches mit Gleichem, und helfen ihm gegebenenfalls nicht mehr als er uns geholfen hat. Solche Beispiele, da man ohne offenbare Rache doch Böses mit Bösem vergilt, ließen sich noch viele anführen.

Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. Weil wir nur zu sehr auf unsern Vorteil oder die Abwehr unseres Schadens bedacht zu sein pflegen, so will Paulus unsere Fürsorge vielmehr auf einen würdigeren Gegenstand richten: unser oberstes Anliegen soll sein, dass unser ehrbares Verhalten jedermann zur Erbauung dienen könne. Ebenso notwendig und unentbehrlich wie ein gutes Gewissen vor Gott ist auch ein guter Ruf bei den Menschen. Denn wenn Gott durch unsere guten Werke geehrt werden soll, so muss es ja seiner Ehre schaden, wenn die Menschen an uns nichts sehen, was Lob verdient. Dabei verdunkeln wir nicht bloß Gottes Ehre: wir hängen ihm geradezu Schaden an. Denn jede Sünde der Gläubigen ist in den Augen der Unerfahrenen ein Schandfleck für das Evangelium. Sollen wir uns nun der Ehrbarkeit gegen jedermann befleißigen, so gilt es zu fragen, zu welchem Zweck. Der Zweck ist nämlich nicht, die Augen der Menschen auf uns zu ziehen und ihre Lobsprüche zu empfangen. Die Lust danach will uns der Herr im Gegenteil austreiben (vgl. Matth. 6, 2.5). Vielmehr sollen wir den Menschen Anlass geben, ihre Seele zu Gott zu erheben und ihn zu preisen (Matth. 5, 16). Unser Beispiel soll sie zu eifrigem Trachten nach der Gerechtigkeit erwecken. Von unserm Leben soll ein guter Geruch ausgehen, der zur Liebe und Hingabe an Gott lockt. Werden wir auch um des Namens Christi willen verlästert, so hören wir doch nicht auf, gegen jedermann Gutes zu erweisen. Dann wird eben erfüllt, was Paulus 2. Kor. 6, 8 ff. ausführt.

V. 18. Ist es möglich usw. Eine ruhige Lebensführung, die uns allen Menschen angenehm macht, gehört zu den besten Gaben des Christenstandes. Wollen wir danach trachten, so bedarf es nicht bloß der höchsten Ehrbarkeit, sondern auch rechter Freundlichkeit in unserm ganzen Wandel. Sie verschafft uns nicht bloß die Gunst der billig denkenden und guten Menschen, sondern überwindet auch den Sinn der Widerstrebenden. Zwei Gefahren gilt es dabei indessen zu meiden. Zuerst dürfen wir nicht derartig nach aller Menschen Liebe haschen, dass wir auch um Christi willen unter keinen Umständen irgendeines Menschen Hass auf uns nehmen wollen. Mancher, der um seines sanften Wesens und stillen Gemütes willen allen Menschen höchst liebenswürdig erscheint, hat doch um des Evangeliums willen die bitterste Feindschaft seiner nächsten Anverwandten zu tragen. Zweitens muss unsere Gewandtheit uns nicht verleiten, zu allem und jedem ja zu sagen: denn damit würden wir um eines faulen Friedens willen nur den Fehlern der Menschen schmeicheln. Da sich also nicht unter allen Umständen der Friede mit allen Menschen aufrechterhalten lässt, deutet der Apostel mit zwei Nebensätzen auf die möglichen Ausnahmen hin: Ist es möglich, soviel an euch ist. Das aber bleibt eine Pflicht der Frömmigkeit und Liebe, dass wir unsererseits den Frieden nicht brechen, wenn uns der andere nicht dazu zwingt. So sollen wir ehrlich bestrebt sein, den Frieden zu wahren, sollen deswegen vieles ruhig dulden, sollen verzeihen und von der vollen Strenge des Rechts manches nachlassen -, aber uns bereithalten, nötigenfalls den Streit scharf und mutig zu führen. Denn dass wir als Christi Streiter mit der Welt, deren Fürst der Satan ist, einen ewigen Frieden halten, wird nicht angehen.

V. 19. Rächet euch selber nicht. Die Sünde, welche der Apostel jetzt angreift, ist schwerer als die kurz zuvor behandelte (V. 17), wie wir schon gesagt haben. Doch entspringen beide aus der gleichen Quelle, nämlich aus übertriebener Selbstliebe und dem uns angeborenen Stolz. Diese Fehler machen uns höchst nachsichtig gegen die eignen Sünden und äußerst unduldsam gegen die Sünden der andern. Da nun vermöge dieser Grundkrankheit jedem Menschen eine brennende Lust eingeboren ist, sich selbst zu rächen, so gibt der Apostel die Vorschrift, dass wir auch bei der allerschwersten Beleidigung durchaus an keine Rache denken, sondern diese dem Herrn überlassen sollen. Und weil Menschen, die einmal solche ohnmächtige Wut erfasst, sich nicht leicht einen Zügel anlegen, so legt ihnen Paulus gewissermaßen mit sanfter Anrede die Hand auf die Schulter, hält sie zurück und spricht: meine Liebsten. Bis dahin reicht die Vorschrift, dass wir uns nicht rächen, ja nicht einmal an Rache denken sollen. Nun folgt der Grund dafür: sondern gebet Raum dem Zorn, nämlich Gottes. D. h. belasst dem Herrn die Möglichkeit, zu richten; ihr nehmt sie ihm vorweg, wenn ihr selbst zur Rache greift. Ist es ein Frevel, an Gottes Statt stehen zu wollen, so ist es auch unerlaubt, Rache zu nehmen. Denn damit fallen wir Gott in das Richteramt, welches er sich vorbehalten hat. Dabei lässt der Apostel auch leise den Gedanken anklingen, dass Gott einerseits denen schon Genugtuung verschaffen wird, die geduldig auf seine Hilfe harren, dass er aber denen zu helfen keinen Raum mehr hat, welche selbst zufahren. Übrigens sei noch einmal erinnert, dass der Apostel nicht bloß unsere Hand zurückhalten, sondern auch die Lust des Herzens stillen will, sich selbst zu rächen. Es ist also auch gänzlich überflüssig, hier zwischen einer öffentlichen und einer privaten Strafe zu unterscheiden. Denn wer etwa mit böswilligem Sinne und in der Absicht, auf diese Weise eine Rache zu üben, die Hilfe der Obrigkeit anruft, handelt nicht minder verwerflich, als wenn er selbst aus Rachsucht Ränke schmieden würde. Ja selbst Gott dürfen wir nicht in jedem Falle um Rache angehen: denn käme etwa ein solches Gebet aus persönlichem Hass und nicht aus dem unverfälschtem Eifer des Heiligen Geistes, so würde es ja den Herrn weniger zum Gericht aufrufen, als vielmehr zum Diener unserer bösen Begierden machen wollen. Nur dann geben wir in rechter Weise dem Zorn Gottes Raum, wenn wir mit ruhigem Gemüte die Zeit abwarten, bis uns geholfen wird, und inzwischen bloß den einen Wunsch hegen, dass die, welche uns jetzt lästig sind, umkehren und unsere Freunde werden möchten.

Denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein“ usw. Dieser Beweisspruch stammt aus dem Liede Mose (5. Mose 32, 35), wo Gott verkündigt, dass er als Rächer an seinen Feinden auftreten werde. Gottes Feinde aber sind, die seine Knechte ohne Ursache angreifen. Seinen Freunden gilt (Sach. 2, 8; 5. Mose 32, 10): „Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“ Mit diesem Troste dürfen wir zufrieden sein, denn die uns eine unverdiente Last auflegen, werden nicht ungestraft bleiben. Wir brauchen auch nicht zu fürchten, dass wir die Böswilligen etwa nur in größere Schuld und in größere Gelegenheit bringen, Böses zu tun, wenn wir geduldig nachgeben. Wir werden nur Gott, unserm einigen Helfer und Erlöser, Raum schaffen, uns zu helfen. Im Übrigen haben wir schon gesagt, dass wir auf unsere Feinde auch nicht die Rache Gottes herabbeten dürfen. Aber wenn sie in ihrem verkehrten Wesen fortfahren, so wird sie das gleiche Schicksal treffen wie alle Verächter Gottes. Und nicht deshalb bringt Paulus diesen Spruch bei, um uns zu erhitzen und zu zornigen Gebeten zu ermutigen, sondern lediglich, um uns getrost zu machen wider der Gottlosen Wut. Wir sollen nicht fürchten, dass unsere Geduld die Feinde nur zu schärferem Auftreten ermutigen werde: denn nicht vergeblich steht Gott als unser Rächer da.

20 So nun deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. 21 Lass dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

V. 20. So nun deinen Feind hungert. Jetzt zeigt der Apostel, wie man das Gebot, sich nicht zu rächen und nicht Böses mit Bösem zu vergelten, in Wahrheit erfüllen kann: so nämlich, dass wir nicht bloß darauf verzichten, Unrecht zu tun, sondern dass wir sogar denen, die uns beleidigen, Wohltaten erweisen. Denn wenn wir ihnen die Wohltaten nicht gönnen wollten, so wäre dies auch nur eine Form sündhafter Wiedervergeltung. Wenn der Apostel fordert, wir sollen unsern Feind speisen und tränken, so begreift er unter diesen Beispielen alle möglichen Leistungen überhaupt. Wir sind also verpflichtet, soweit es irgend in unsern Kräften steht, unserm Feinde und Verfolger, wenn er dessen bedarf, in jeder denkbaren Lage mit unserm Vermögen oder mit Rat und Tat beizustehen. Soll man ihm aber in äußerlichen Dingen helfen, so darf man doch gewiss nicht wider sein Seelenheil beten!

So wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Da niemand gern Kraft und Vermögen ohne Nutzen verschwendet, so zeigt der Apostel auch noch den Erfolg, den wir erzielen können, wenn wir gegen unsere Feinde die Pflichten der Menschlichkeit erfüllen. Bei den feurigen Kohlen denken einige Ausleger an das Verderben, welches wir über das Haupt des Feindes bringen, wenn wir ihm als einem Unwürdigen Wohltaten erweisen und uns so gegen ihn betragen, wie er es nicht verdient: denn dadurch wird seine Schuld verdoppelt. Andere finden hier lieber den Gedanken, dass unsere Wohltaten das Gemüt des Feindes vielleicht erweichen und zur Gegenliebe umstimmen könnten. Ich glaube dagegen, dass der Apostel einfach sagen will, dass der Sinn des Feindes nach irgendeiner Richtung zur Entscheidung getrieben werden muss. Die Wohltaten werden ihn entweder milde stimmen, oder, wenn seine gar zu große Heftigkeit dessen nicht fähig sein sollte, so wird das Zeugnis seines Gewissens so in ihm brennen, dass er wenigstens spüren muss, wie wir mit unserer Güte innerlich über ihn den Sieg davontragen.

V. 21. Lass dich nicht das Böse überwinden. Dieser Satz dient nur zur Bestätigung der bisher vorgetragenen Wahrheiten. Denn mit unserm Kampfe wider die Bosheit ist es so bestellt: wenn wir versuchen, sie zu vergelten, so bekennen wir uns eben damit als von ihr überwunden; vergelten wir dagegen Böses mit Gutem, so beweisen wir damit die unbesiegte Stärke unseres Geistes. Und das ist ohne Zweifel der schönste Sieg, dessen Frucht wir nicht nur im Gemüte spüren, sondern auch tatsächlich sehen werden. Denn wenn Gott es gibt, so werden wir mit unserer Geduld einen Erfolg erringen, wie er schöner gar nicht gedacht werden kann. Wer dagegen versucht, Böses mit Bösem zu überwinden, der mag über seinen Feind vielleicht äußerlich einen Sieg davontragen: aber dies wird tatsächlich zu seinem Verderben ausschlagen, denn er ist damit zu einem Kriegsknecht des Satans geworden.

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Sie ist wohl tatsächlich richtig.
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autoren/c/calvin/calvin-roemer/calvin-roemer-kapitel_12.txt · Zuletzt geändert: von aj
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