Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 12.
V. 1. Kam Jesus gen Bethanien. Es war vorschnell geurteilt, wenn man glaubte, Christus werde sich zum Feste nicht einfinden. Das ist uns eine Warnung vor Übereilungen. Lernen wir doch geduldig warten! Vielleicht bietet sich eine günstige Gelegenheit, von der wir vorher nichts ahnen. Christus traf zunächst in Bethanien ein. Von dort wollte er sich drei Tage nachher nach Jerusalem begeben. In der Zwischenzeit wollte er dem Judas Gelegenheit geben, sich als Verräter anzubieten, um dann zur festgesetzten Stunde sich als Opfer zur Schlachtbank einzustellen; ist es ihm doch nicht unbekannt, was geschehen wird. Mit freiem Willen geht er in den Tod. Sechs Tage vor dem Passahfeste kam er nach Bethanien. So lässt sich aus Matthäus und Markus entnehmen, dass er bis zum vierten Tage dort verweilte. An welchem Tage man ihm das Gastmahl zurichtete, bei dem ihn Maria salbte, gibt Johannes nicht an. Immerhin ist wahrscheinlich, dass es bald nach seiner Ankunft geschah. Einige glauben, es handle sich hier um eine andere Salbung, als die von Markus und Matthäus beschriebene (Mt. 26; Mk. 14); das ist jedoch ein Irrtum, welcher davon herrührt, dass sie mit der bei diesen Evangelisten angegebenen Zeitbestimmung nicht ins Reine zu kommen wissen. Vor der Salbung redet Jesus davon, dass nach zwei Tagen Ostern werde. Diese Schwierigkeit löst sich ungezwungen auf zweierlei Weise: Johannes sagt ja nicht, dass Jesus am ersten Tage seines Aufenthaltes in Bethanien gesalbt wurde. Folglich konnte das geschehen, als er sich bereits zur Weiterreise anschickte. Indes ist es mir, wie oben gesagt, am wahrscheinlichsten, dass er etwa ein oder zwei Tage vor seinem Fortgang gesalbt wurde. Denn Judas hat jedenfalls mit den Priestern schon verhandelt gehabt, als Christus die beiden Jünger wegen der Vorbereitung des Passahlammes aussandte. Zum mindesten muss ein Tag zwischen diesen beiden Ereignissen verstrichen sein. Die Evangelisten (Mt. 26, 16; Mk. 14, 11) berichten, Judas habe, seit er den Kaufpreis sich zahlen ließ, Gelegenheit gesucht, Jesum zu überantworten. Wenn sie also Jesum erst von den „zwei Tagen“ reden lassen und dann die Geschichte von der Salbung einfügen, erzählen sie damit nachträglich, was sich schon vorher zugetragen hatte.
V. 2 u. 3. Matthäus und Markus sagen (Mt. 26, 6; Mk. 14, 3), Jesus habe damals bei Simon dem Aussätzigen gespeist. Johannes nennt den Hausbesitzer nicht ausdrücklich, doch macht auch er es kenntlich, dass Jesus anderswo, als bei Lazarus und Martha aß, indem er den Lazarus als einen von denen bezeichnet, die mit ihm zu Tische saßen. Folglich hatte er zugleich mit Christo eine Einladung bekommen. Und auch der Umstand, dass Matthäus und Markus von einer Salbung des Hauptes berichten, Johannes von einer Salbung der Füße, gibt keinen Anlass, die Berichte für auseinanderfallend zu erklären. Salbung des Hauptes war etwas Gewöhnliches. So kommt es, dass Plinius1) die Salbung der Füße für verwerfliche Verschwendung erklärt. Jedenfalls stimmen die drei Erzähler darin überein, dass Maria den Herrn nicht mit ängstlicher Sparsamkeit salbte, sondern eine reiche Fülle von Salbe verwendete. Wenn also Johannes hier von den Füßen redet, so will er damit sagen: der ganze Leib Christi vom Haupt bis zu den Füßen ward gesalbt. Die Erwähnung der Füße soll besagen: eine reichlichere Salbung ist unmöglich, als die von Maria vollzogene.
Das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe. Diese bestand nicht einfach aus dem aus der Nardenpflanze genommenen Öle, sondern war vermischt mit allerlei wohlriechenden Bestandteilen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn das ganze Haus mit Wohlgeruch erfüllt war.
V. 4. Da sprach seiner Jünger einer. Hier ist es Judas allein, welcher murrt, bei Matthäus sind es die Jünger überhaupt, bei Markus einige von ihnen. Ähnliches finden wir in der Schrift öfter: was einer getan hat oder einige, wird auf mehrere übertragen. Indes ist es mir wahrscheinlich, dass Judas allein der Urheber dieses verdrießlichen Einwurfes war. Die anderen wurden dann von ihm angesteckt. Wie leicht facht doch ein solches Flüstern gleich dem Windhauch eines Fächers in uns allerlei Herzensregungen an, die sich sonst nicht gezeigt hätten. Gar zu gern fällen wir scharfe Urteile über Personen; deshalb heißen wir auch gerade ein solches Judasgeflüster so gern willkommen. Der Geist Gottes hat ja die rasche Zustimmung, die Judas bei den Aposteln fand, dann ernstlich getadelt, - uns zur Mahnung, dass wir dem Gezischel boshafter Stimmen nicht unüberlegt schnell Glauben schenken sollen.
V. 5. Warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihundert Groschen? Ein Fläschchen voll von gewöhnlicher Salbe kostete nach einer Mitteilung des Plinius zehn Groschen („Denare“); doch gibt er als Preis der auserlesensten Sorte dreihundert und zehn Groschen an. Die Evangelisten erzählen alle drei, es sei eine besonders köstliche Sorte gewesen. So ist der Kostenanschlag des Judas nicht aus der Luft gegriffen2). Alles beinahe, was dem Genuss der Sinne dient, bringt einen überflüssigen Kostenaufwand mit sich, folglich schien, zumal bei einer so bedeutenden Ausgabe, Judas mit gutem Grunde aufzubegehren. Er will sagen: wenn Maria eine kleine Geldsumme angewendet hätte, - ein Fläschchen für zehn Groschen etwa, - so wollte ich nichts dagegen sagen. Aber sie hat, ohne dass ein greifbarer Nutzen dabei herauskommt, schrecklich viel Geld zum Fenster hinausgeworfen. Hat sie nicht dadurch die Armen verkürzt? Wie manche Sorge hätte man ihnen doch mit dem schönen Gelde abnehmen können! So finde ich es ganz unverzeihlich, was sie getan hat!
V. 6. Er war ein Dieb. Bei den andern Aposteln steckte kein böser Wille dahinter, als sie über Maria aburteilten; sie taten es, ohne es sich recht überlegt zu haben. Judas aber schützt fromme Redensarten vor, um dahinter seine Niederträchtigkeit zu verbergen. Nicht an den Armen, nur an dem Gelde war ihm gelegen. Was für ein scheußliches Ungeheuer ist doch die Habsucht! Ein Geldgeschenk der Maria hätte Judas zu entwenden gewusst. Diese erhoffte fette Beute entrinnt ihm nun. Das stachelt ihn zu solcher Wut auf, dass er den Schaden wenigstens einigermaßen durch den an Christo begangenen Verrat wieder wett zu machen sucht. Seine Verlogenheit wird so weit gegangen sein, dass er nicht bloß anderen zuflüsterte: Die armen Leute! wie schmählich sind sie betrogen! – sondern auch sich selber einredete: Christus hat dich um so viel Geld gebracht, - nun kann es dir nicht schwer angerechnet werden, wenn du ihn verrätst. Zu Gelde musst du kommen, einerlei woher!
Man wundert sich nur, weshalb Christus gerade diesem Jünger, dessen unehrliche Gesinnung er doch durchschaute, das Amt eines Kassenverwalters anvertraute. Heißt denn das nicht: dem, der sich aufhängen will, den Strick reichen? Die einzige Antwort, die ein sterblicher Mensch auf diese Fragen geben kann, ist die: die Gerichte Gottes enthalten Abgründe, die das Menschenauge nicht durchdringt. Keinesfalls dürfen wir aber aus diesem Verfahren Jesu die allgemeine Regel entnehmen, als wäre es zulässig, die Sorge für die Armen oder sonst ein heiliges Amt einem nichtswürdigen, jeder Übeltat fähigen Menschen anzuvertrauen. Was für Leute Gott zur Leitung seiner Kirche und anderen Ämtern haben will, hat er ausdrücklich gesagt; es wäre Frevel, solche Vorschriften Gottes unbeachtet zu lassen. Wir dürfen uns in diesem Punkte Christo nicht gleichstellen. Er ist die ewige Weisheit Gottes und hat in solcher Eigenschaft den Judas behandelt, wie es die geheimnisvolle Vorherbestimmung Gottes wollte.
V. 7. Lass sie mit Frieden. Indem Jesus befiehlt, die Maria in Ruhe zu lassen, gibt er die Lehre: wer seinem Nächsten ohne Grund lästig ist und mit ihm um nichts Streit anfängt, der handelt verkehrt und unrecht. Bei den anderen Evangelisten antwortet Jesus ausführlicher, doch kommen die Worte auf dasselbe heraus. Die Salbung, welcher Judas das Recht bestritt, wird hier insofern als wohlberechtigt bezeichnet, weil sie mit Christi Begräbnis in Zusammenhang stehe. Christus billigt sie nicht mit der Begründung, dass ihm gegenüber gerade diese Form der Huldigung am Platze sei, - dann hätte er ihre Einführung in der gesamten Jüngergemeinde anbefohlen. Hätte Jesus für jeden Tag einen solchen Dienst beanspruchen wollen, so hätte er ja auf alles andere eher deuten können, als gerade nur auf den Tag seines Begräbnisses. Gott macht sich gewiss nichts aus äußerem Prunk. Das Menschenherz ist freilich immer gar geneigt, eine Weise der Gottesverehrung zu erfinden, bei der es ganz das alte bleiben kann. Demzufolge heißt uns Gott, einfach, maßhaltig, nüchtern in allem Äußerlichen zu sein. Diejenigen Ausleger, welche die Antwort Christi dahin deuten, dass Gott besonderes Wohlgefallen an einer Verehrung habe, die einen großen Kostenaufwand erfordert und blendend in die Augen fällt, sind vollkommen auf dem Irrwege. Im Gegenteil: Jesus entschuldigt die Maria. Sie hat ihm in außerordentlicher Weise ihre Verehrung bezeugt, und man darf eine solche Ausnahme nicht zu einem Gesetz stempeln, nach dem die Gottesverehrung nun immer betrieben werden müsse.
Zum Tage meiner Begräbnis. Wenn Jesus sagt, die Salbe sei behalten worden, so gibt er der Meinung Ausdruck, dass sie jetzt nicht zu einem falschen, sondern genau zum rechten, den Umständen angemessenen Zeitpunkte, ausgegossen worden sei. Von dem, was wohl behütet wird, um dann, sobald es passt, und die rechte Stunde geschlagen hat, hervorgeholt zu werden, sagt man ja: es wird behalten, bewahrt. Ohne Frage würde Christus eine Salbung, die ihm jemand, weil er eine Neigung zu verschwenderischer Üppigkeit verspürte, hätte aufdrängen wollen, sich nicht haben gefallen lassen. Ein derartiger Charakterzug lag jedoch der Maria fern; sie salbte ihn nach Jesu eigener Aussage, um dem zum Todesgang bereiten Heilande die letzte Liebe zu erweisen. Die damals übliche Totensalbung war übrigens keine leere Form. Der Kern in dieser Schale war die Hindeutung auf die Auferstehung. Wie dunkel waren doch die bisherigen Verheißungen alle! Die Auferstehung Christi war ja noch nicht geschehen. Er heißt mit gutem Grunde (1. Kor. 15, 20) der „Erstling“ der Auferstandenen. So war denn den Gläubigen eine derartige Unterstützung des Auferstehungsglaubens not; sie sollte ihnen über das zeitweilige Verschwinden Christi hinweghelfen. Die Jünger ahnten noch nichts davon, dass Jesus so bald in die Nacht des Grabes gebettet werden sollte, und auch Maria hatte sich das nicht vorher überlegt. Zweifellos handelte sie unter augenblicklichem Antriebe, vom Geiste Gottes dazu angeleitet. Und Christus ist es, der diese von den Jüngern getadelte Salbung mit seiner Auferstehungshoffnung zusammenbringt, sodass dieser Hinweis auf Zweck und Nutzen das missgünstige Murren zum Schweigen bringen muss.
Zur Zeit des alten Bundes war das Gottesvolk noch in den Kinderschuhen; deshalb war es Gottes Wille, das Volk mit dergleichen Sinnbildern zu lenken. Wir dürfen damit in unserer Zeit keine Fortsetzung machen; das wäre töricht, ja es wäre Unrecht gegen Christum, der durch den Strahlenglanz seines Kommens solche Schattenspiele ein für alle Mal verjagt hat. Damals aber hatten die Sinnbilder des Gesetzes noch nicht durch die Auferstehung ihre Erfüllung gefunden, sodass es sich wohl ziemte, Christi Begräbnis mit solch äußerem Prunke zu schmücken. Jetzt, wo der Herr durch seinen Tod selber ausgeschüttet ist und als Auferstandener die Welt mit seinem Dufte erfüllt, braucht es keiner Narde und keiner Wohlgerüche mehr. Jetzt belebt er selbst die ganze Welt. Übrigens wollen wir uns einprägen, dass alle unsere Urteile über menschliches Tun sich allein auf das Wort Christi gründen dürfen, vor dessen Richterstuhl auch wir dereinst stehen müssen.
V. 8. Arme habt ihr allezeit. Hier wird ganz genau unterschieden zwischen dem, was Maria jenes eine Mal tat und tun durfte und zwischen dem, was Tag für Tag Christo zu Dienst und Ehren geschehen soll. Nicht Nachahmer, sondern Nachäffer der Maria sind folglich die, welche Christum mit allerlei Pomp und Prunk zu verehren trachten. Das hat Maria einmal getan; Jesus will nicht, dass es immer wieder getan werden. Wenn er sagt, er sei nicht allezeit bei seinen Jüngern, so denkt er damit lediglich an eine solche Art von Gegenwart, bei welcher äußere und kostspielige Ehrenbezeugungen sich etwa anbringen ließen. Denn wenn der Herr uns jetzt durch die Gnadenkraft seines Geistes nahe ist, wenn er in uns wohnt, ja uns nährt mit seinem Fleisch und Blut, so bietet das alles für einen körperlichen Kultus gar keinen Anknüpfungspunkt. Opfer, die Gott angenehm sind, und deren Duft ihm lieb ist, sind Gaben der Liebe, durch welche die Not der Bedürftigen beseitigt wird. Eine andere Art von Aufwand bei der Verehrung Gottes ist nicht statthaft.
V. 9. Da erfuhr viel Volks. Je näher die Zeit seines Todes heranrückte, desto mehr musste Jesu Name in aller Mund kommen: das war die Vorbereitung für das Aufwachsen völligeren Glaubens nach seinem Tode. Der Evangelist hebt besonders hervor, in welch hohem Ruhme das jüngst an Lazarus geschehene Wunder stand. Gott wollte, dass gerade dies Wunder, in welchem Christus eine einzigartige Probe der in ihm wohnenden Gotteskraft ablegte, recht viele Zeugen haben sollte, die es bestätigen könnten. So bemerkt der Evangelist ausdrücklich, dass die Leute auch den Lazarus selbst sehen wollten, an welchem das gewaltige Wunder geschehen war.
V. 10 u. 11. Die Hohenpriester trachteten usw. Welch geradezu wahnsinnige Wut, dass man einen Mann umbringen will, der durch einen handgreiflichen Beweis göttlicher Macht vom Tode erweckt worden war! Es offenbart sich darin der Geist des Schwindels, durch welchen Satan die Gottlosen aufstachelt, sodass sie ihrer Raserei keine Grenzen wissen, mag Gott ihnen gleich Himmel, Erde und Meer in den Weg legen. Von diesem Schandplane wird uns deshalb berichtet, weil wir wissen sollen: die Feinde Christi sind nicht deshalb so versteckt gewesen, weil sie sich in einem Irrtum befanden oder nicht genug Verstand besaßen, um anders zu handeln, sondern weil ihre Bosheit sie zu einer Wut trieb, die auch vor dem Kampfe mit Gott selbst nicht zurückschreckte. Auch will der Evangelist uns eindrücklich machen, dass die Wirkung, die von der Auferweckung des Lazarus ausging, so überwältigend war, dass die Gottlosigkeit der Gegner sich nur noch mit verbrecherischer Beseitigung eines Unschuldigen glaubte helfen zu können. Sieht es nun Satan für seine Aufgabe an, alles zu tun, um die Taten Gottes in Nacht und Vergessenheit zu begraben, so ist es gewiss unsere Aufgabe, allen Fleiß darauf zu verwenden, dass wir diesen Gottestaten ein beständiges Nachdenken widmen.
V. 12. Des anderen Tages usw. Von diesem Einzuge Christi handeln die andern Evangelisten weitläufiger. Unser Evangelist fasst alles, was die anderen erzählen, knapp gedrängt zusammen. Man lasse nicht aus dem Auge, dass Christi Plan darin bestand, freiwillig Jerusalem aufzusuchen, um sich zum Tode zu stellen. Sein Tod musste ein ungezwungener sein; denn nur durch das Opfer des Gehorsams konnte der gegen uns gerichtete göttliche Zorn versöhnt werden. Christus wusste, wie alles kommen sollte. Doch wollte er, ehe man ihn zum Kreuze schleppte, feierlich vom Volke als König gegrüßt werden. Ja, er legt die öffentliche Erklärung ab: damit, dass ich in den Tod gehe, besteige ich meinen Königsthron! Nun wird zwar seine Ankunft von einer großen Schar Volks feierlich begrüßt; und doch merkten die Feinde nicht, wer des Weges kam, wenngleich er durch die Erfüllung der Weissagungen (wovon später!) es bestätigte, dass er der rechte Messias sei. Nichts hat er unterlassen, was zur Befestigung unseres Glaubens beitragen kann.
Viel Volks, das aufs Fest kommen war. Somit waren die fremden Festgäste weit bereitwilliger, dem Gottessohne ihren frommen Dienst zu weihen, als die Einwohner von Jerusalem, welche doch geziemender Weise den anderen hätten mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Täglich hatten sie den Opferdienst, täglich den Tempel vor Augen, - ein Anblick, welcher ihre Herzen hätte entzünden sollen, Gott ernstlich zu suchen. Dort waren die ersten Lehrer der Kirche, dort die heilige Wohnstätte des göttlichen Lichtes. Umso abscheulicher ist der schnöde Undank, wenn sie trotz alledem sich aus dem verheißenen Erlöser nichts machen oder ihn gar verschmähen. Doch gerade dieser Übelstand zeigt sich immer wieder, wenn man daraufhin sich die Weltgeschichte ansieht: je vertraulicher Gott sich zu den Menschen herablässt, desto größer ist die Frechheit, mit welcher sie ihn verachten. Bei anderen, die ihre Heimat verließen, um zum Feste in Jerusalem zu sein, zeigt sich ein weit größerer Eifer, mit Fleiß nach Christo zu forschen. Sobald sie hören, dass er in die Stadt kommt, gehen sie ihm entgegen, um ihm ihre Glückwünsche zuzurufen. Es kann darüber kein Zweifel obwalten: sie handelten so infolge einer geheimen Anregung des Geistes Gottes, der solche Einholung bewirkte. Wir lesen in den Evangelien sonst nirgends von etwas Ähnlichem. Die Fürsten der Erde lassen Trompeten erklingen oder durch die Stimme des Herolds ihre Untertanen herbeirufen, wenn sie den Tag der Thronbesteigung begehen wollen; so hat Jesus durch Antrieb seines Geistes diese Volksmenge zusammengebracht, die ihn als König begrüßen sollte. Als die Volksscharen ihn in der Wüste zum König machen wollten, entwich er heimlich auf den Berg; denn damals wollten sie einen Brotkönig aus Jesus machen, der nur dazu da sein sollte, ihren Hunger zu stillen; satt werden, das war wie bei den Tieren, so auch bei ihnen, das Begehren. Einem so törichten, verkehrten Wunsche zu willfahren war für Christum ein Ding der Unmöglichkeit: dazu hätte er sich selbst verleugnen und das vom Vater ihm übertragene Amt mit Füßen treten müssen. Diesmal aber handelt es sich um die Begründung des Reiches, das der Vater ihm gegeben hatte. Ich gestehe zwar ein, dass die Beschaffenheit dieses Reiches selbst nicht einmal dem Volke, das Christi entgegen zog, sattsam bekannt gewesen ist. Das Auge Jesu blickte weiter. Er ließ auch nichts geschehen, als was zu dem Reich des Geistes, das er brachte, stimmte.
V. 13. Palmenzweige. Die Palme war bei den Alten das Sinnbild des Sieges und des Friedens. Aber sie bedienten sich auch der Palmzweige, wenn sie jemandem die Herrschaft übertragen oder dem Sieger eine demütige Bitte vortragen wollten. Damals nahm das Volk offenbar Palmzweige in ihre Hände als Zeichen festlicher Freude beim Empfang des neuen Königs.
Und schrien: Hosianna! Mit diesem Zuruf gaben sie Zeugnis, dass sie Jesum Christum als den vormals den Vätern verheißenen Messias anerkannten und von ihm Erlösung und Heil erhofften. Der 118. Psalm (V. 25), aus dem dies Wort des Beifalls entnommen ist, handelte vom Messias und wollte alle Frommen dazu anleiten, dass sie unter beständigen Gebeten mit glühender Sehnsucht sich sein Erscheinen erflehen sollten, um ihn, wenn er sich nun einstellte, mit vollkommener Ehrfurcht aufzunehmen. Es ist also wahrscheinlich, ja man kann es für gewiss annehmen, dass dies Gebetswort bei den Juden allgemein in Brauch war und es jeder schon oft ausgesprochen hatte. Das hebräische Wort „Hosianna“ heißt: Rette! oder: Hilf doch! Die Evangelisten behielten, obwohl sie griechisch schrieben, das hebräische Wort bei, um damit recht anschaulich zu schildern, wie das Volk sich einer feierlichen Gebetsformel bediente, welche, von David einst aufgebracht, danach von einem Geschlecht zum anderen im Gottesvolk fortgepflanzt wurde und eigens dem Gebrauch zur Begrüßung des Messiasreiches geweiht war.
In derselben Richtung bewegt sich auch der folgende Zuruf: Gelobet sei, der da kommt usw. Auch dies ist ein Gebet um frohen, glücklichen Erfolg des messianischen Reiches, mit dem die Aufrichtung und Wohlfahrt der Gemeinde Gottes aufs engste verbunden war. Anscheinend redet jedoch David dort im Psalm vielmehr von sich selbst, als von Christo. Doch löst sich diese Schwierigkeit leicht. Wir wissen ja, zu welchem Zwecke dem David und seinen Nachkommen eine dauernde Herrschaft zugesagt war: sie sollte ein Art Vorspiel sein für das ewige Reich, welches zu seiner Zeit geoffenbart werden sollte. Wenn also David auch von sich sprach, so dürfen wir doch nicht annehmen, dass er dabei nur an seine eigene Person dachte. Der Herr hat ja auch gar bald den Blick aller Frommen durch die Propheten auf ein anderes Ziel als Davids Person hingewendet. Die Davidischen Gesänge werden also mit gutem Rechte auf den König bezogen, der nach der Verheißung aus seinem Samen erstehen und als Erlöser kommen sollte. So lasst denn auch uns, den alttestamentlichen Gläubigen nacheifernd, von ganzem Herzen dem Reiche Christi Blühen und Gedeihen erflehen! Solches Gebet wird nicht vergeblich sein. Sind wir nicht träge darum, so wird er sich als der treue Schirmherr seines Reiches erweisen, indem er, über den keine menschliche Gewalt obsiegt, es kräftig beschützt. Fortbestehen würde es zwar auch, wenn wir gleichgültig wären. Aber man kann überall da, wo es nicht in voller Kraft und Blüte steht, sondern welkt und dorrt, die Schuld auf die Trägheit seiner menschlichen Vertreter schieben. Jeden Tag beten wir: „Dein Reich komme!“ Aber wie verschwindend wenige legen ihr ganzes Herz in diese Bitte! Dann handelt Gott nur gerecht, wenn er uns einen Segen wegnimmt, den wir zu erbitten zu schwerfällig sind.
Unsere Stelle lehrt uns auch, dass es Gott allein ist, der die Kirche erhält. Er beansprucht für sich ja nur das, was wirklich ihm zugehört. Wenn er uns also selbst die Gebetsworte um Erhaltung des Reiches Christi in den Mund legt, so machen wir eben damit das Zugeständnis: Gott allein ist der Begründer unseres Heils; er allein vermag das Reich Christi aufrecht zu erhalten. Er bedient sich freilich dazu der Arbeit der Menschen, aber doch nur solcher, die er für diese Arbeit geschickt gemacht hat. Die Menschen verwendet er zur Ausbreitung und Erhaltung des Christentums nur in einer solchen Weise, dass letzthin allein seines Geistes Kraft durch sie Anfang und Ende des Werkes schafft.
In dem Namen des Herrn kommt, wer nicht nach eigener Willkür hervortritt oder sich eine Ehre anmaßt, sondern kraft ordnungsmäßiger Berufung sich in allem seinem Tun von Gott geleitet und getragen wissen darf. Alle wahren Diener Gottes kommen im Namen des Herrn: der Prophet kommt so, wenn er, vom Geiste Gottes getrieben, rein und lauter die aus Himmelshöhen stammende Lehre den Menschen weitergibt. Im Namen des Herrn kommt auch ein König, durch dessen Hand Gott wirklich sein Volk regiert. Weil nun aber auf Christum die Fülle des Gottesgeistes sich niedergelassen hat, weil er das Haupt aller ist, und alle die, welchen zu irgendeiner Zeit das Regieramt in der Kirche oblag, seiner Oberherrschaft untergeben, ja eigentlich nur Bächlein waren, welche von ihm als dem Urquell ausgingen, - so ist im vollkommensten Sinne nur er es, der im Namen des Herrn kommt. Auch überragt er die anderen nicht nur der Stufe nach, weil er der Oberherrscher ist, sondern dadurch, dass sich in ihm uns Gott in seiner Fülle darbietet (Kol. 2, 9). Jesus ist Gottes lebendiges Abbild und der wahre Immanuel (Hebr. 1, 3; Jes. 7, 14). Er kommt also in einzigartiger Weise in Gottes Namen: denn durch ihn hat sich Gott nicht nur stückweise, wie durch die Propheten, sondern völlig geoffenbart. Will man also Gottes Diener als Leute grüßen, die im Namen des Herrn kommen, so muss man dabei vor allem an Christus als das Haupt denken.
V. 14. Jesus aber überkam ein Eselein. Auch hier erzählt Johannes nur kurz die Hauptsache. Der scheinbare Widerspruch gegen den Bericht des Matthäus (21, 2. 5), welcher zwei Tiere erwähnt, löst sich leicht: Jesus ritt eben tatsächlich nur auf dem Eselsfüllen, welches aber von seinem Muttertier begleitet war. Unser Evangelist, welcher nicht ausführlich wiederholen wollte, was die anderen schon erzählt hatten, entnimmt auch der Weissagung des Sacharja (9, 9), die nach der Weise des hebräischen Parallelismus einen doppelten Ausdruck bietet, nur die entscheidende Aussage. Übrigens sehen sich auch die Juden gezwungen, jene Weissagung, die damals in Christo erfüllt wurde, auf den Messias zu deuten. Dass wir nun in Jesus den Messias erkennen, gründen wir freilich nicht darauf, dass er auf einem Esel in Jerusalem eingeritten. Unser Glaube hat viel tiefere Gründe: in der ganzen Person Christi schauen wir die Herrlichkeit des Sohnes Gottes (1,14) und seine Auferstehung wird uns zum leuchtendsten Beweise seiner göttlichen Kraft. Nebenher verachten wir aber auch diese Bestätigung nicht, die Gottes Vorsehung uns gab, indem Christi auffälliger Einzug mit der Weissagung merkwürdig zusammenstimmt.
V. 15. Fürchte dich nicht. In der Form, wie der Evangelist dies Prophetenwort beibringt, lehrt es uns, dass nicht eher Ruhe und Frieden in unsere Seele einzieht und alle Angst und Furcht bei uns schwindet, als bis wir wissen, dass Christus unser König ist. In der Weissagung Sacharjas stehen ursprünglich diese Worte nicht. Dort heißt es: „Freue dich sehr“ und: „jauchze!“ – nicht: „Fürchte dich nicht!“ Der Evangelist bleibt jedoch mit diesen Worten ganz dem Sinne der Weissagung treu: solches Jauchzen, solche große Freude ist allein in den Seelen echt, welche sich nicht mehr fürchten; Furcht aber quält uns so lange, bis wir durch die Versöhnung mit Gott den Frieden haben, welchen der Glaube bringt (Röm. 5, 1). Durch Christum wird uns das Glück zuteil, dass wir, von Satans Gewalt befreit, des Joches der Sünde entledigt, von der Schuld erlöst, dem Tode nicht mehr verhaftet, fröhlich rühmen können im Vertrauen auf den Schutz unseres Königs. Wessen er sich annimmt, der hat keinerlei Gefahr mehr zu befürchten. Nicht als ob wir frei von Furcht wären, so lange wir in der Welt leben; aber das herzliche Vertrauen, das sich auf Christum gründet, ist doch aller Furcht überlegen. Als Jesus noch längst nicht erschienen war, befahl der Prophet schon den Frommen jenes Jahrhunderts, sie sollten sich sehr freuen und jauchzen, weil der Messias kommen werde. Er konnte nur sagen: „Dein König wird dereinst kommen“ und fügt noch hinzu: „Also lege die Furcht ab und sei fröhlich!“ Nun ist er da und will, dass wir von seiner Gegenwart etwas haben. Umso tapferer müssen also wir alle Furcht niederzwingen und, vor allen Feinden sicher, getrosten, frohen Mutes unseren König ehren. Der Prophet redete zu seiner Zeit Zion an, weil dort der eigentliche Wohnsitz der Gemeinde sich befand. Jetzt sammelt sich Gott seine Gemeinde aus aller Welt. Doch gilt diese Verheißung insonderheit den wahrhaft Gläubigen, welche Christo untertan sind und sich von ihm regieren lassen. Dass übrigens Christus auf einem Esel reitet, soll uns einprägen, dass sein Reich weltlichen Prunk, Glanz, Reichtum und Macht verschmäht; so war der Einzug Jesu ein großer Anschauungsunterricht für jedermann, dass sein Reich geistlicher Art ist.
V. 16. Solches aber verstanden seine Jünger nicht usw. Wenn das Samenkorn in die Erde geworfen ist, keimt es noch nicht sofort. So tritt auch bei den Werken Gottes die Frucht nicht alsbald zu Tage. Die Apostel sind Gott behilflich zur Erfüllung der Weissagung, ohne doch zu wissen, was für einen tieferen Sinn ihr Tun hat. Sie hören zwar das Geschrei der Menge, nicht ein verworrenes, unverständliches Rufen, sondern die deutliche Begrüßung des Messiaskönigs; desungeachtet haben sie keine Ahnung, wo das hinaus will und was es soll. Es ist ihnen ein inhaltloser Lärm, bis ihnen der Herr die Augen auftut.
Wenn es hier heißt, endlich hätten sie daran gedacht, dass solches war von ihm geschrieben, so wird damit die Ursache ihrer groben Unwissenheit genannt, nämlich ihr damaliger Mangel an Schriftkenntnis. Ohne Gottes Wort sind wir alle blind; doch hilft uns das bloße Lesen der
Schrift auch noch nichts. Der Geist Gottes muss uns helle Augen schenken. Sonst sehen wir nichts, so schön die Sonne auch scheint. Diese Erleuchtung durch den Geist Gottes wurde jedoch den Jüngern erst nach der Auferstehung Christi zuteil, und zwar nach seiner Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit (vgl. 7, 39). Wir wollen uns hieraus die Lehre nehmen, dass wir über alles, was in der Schrift Christum angeht, uns kein Urteil gemäß den Gedanken unseres Fleisches erlauben dürfen. Auch wollen wir uns einprägen, dass darin zumal die Begnadigung durch Gottes Geist besteht, dass er nach und nach uns unterweist, damit unser Blick für Gottes Werke nicht völlig verschlossen bleibe. Erst nach dieser Erleuchtung wissen und fassen die Jünger, dass es kein zufälliges Spiel war, was sie und die Volksmassen damals mit Jesu aufführten, sondern dass Gottes Vorsehung alles so lenkte, dass die Schrift erfüllt werden musste.
V. 17 u. 18. Das Volk aber … rühmte die Tat. Der Grund, weswegen sie in Scharen aus Jerusalem herausziehen, ist der, dass die Kunde von der Neubelebung des Lazarus sich weithin verbreitet hatte. Somit hatten sie volles Recht dazu, dem Sohn der Maria die messianische Ehre zu erweisen; sie wussten, welche herrliche Tat er vollbracht hatte.
V. 19. Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet. Mit diesen Worten stacheln sich die Pharisäer zu umso größerer Wut auf. Er liegt darin gewissermaßen der Vorwurf der Trägheit. Sie wollen sagen: Selbstverständlich fällt das Volk von uns ab und jubelt ihm zu, wenn wir in unserer zurückhaltenden Unentschlossenheit verharren! So reden Leute, die sich nicht anders mehr zu helfen wissen, als dass sie zum äußersten schreiten. Sind aber Gottes Feinde so hartnäckig im Bösen, wie viel mehr steht es uns an, auf dem rechten Wege treu zu verharren!
V. 20. Es waren aber etliche Griechen. Ich glaube nicht, dass es Heiden oder Unbeschnittene gewesen sind, denn es heißt ja alsbald, sie seien gekommen, um anzubeten.3) So werden es wohl Abkömmlinge von Juden gewesen sein, die jedoch fern, jenseits des Meeres, in Griechenland wohnten. Dann ist es nicht zu verwundern, wenn der Evangelist diese Leute als Fremdlinge einführt, die nichts von alledem wussten, was sich damals in Jerusalem und Umgebung zugetragen hatte. Der Sinn ist dann der: nicht nur die Einwohner von Judäa, die aus Dörfern und Städten zum Feste sich einstellten, haben Jesum als ihren König begrüßt, sondern auch solche, die über das Meer aus entlegenen Ländern gekommen waren, haben die Kunde von Christo in der Ferne vernommen.
Um anzubeten. Anbeten können sie auch daheim; Johannes aber denkt hier an die mit Opfern verbunden feierliche Gottesverehrung im Tempel. Frommsein und Beten konnte man auch anderswo, Opfer darbringen jedoch nicht. Moses hatte es im Gesetz geboten, dass man sich im Tempel vor Gottes Angesicht stellen solle. Dafür waren die jährlichen Festtage da. Diese Griechen haben eine weite Reise unternommen, viele Ausgaben und noch mehr Mühseligkeiten daran gewendet, ja sie haben keine Gefahr gescheut, um nur ja nicht die äußerliche Betätigung ihrer Frömmigkeit zu versäumen. Haben wir heute angesichts dieses Vorbildes eine Entschuldigung, wenn wir im eigenen Hause und Lande den Dienst des wahren Gottes versäumen? Der gesetzliche Gottesdienst ist zwar dahingefallen, aber der Herr hat seiner Gemeinde Taufe, Abendmahl und öffentliches Gebet gelassen, damit sich gläubige Christen darin üben. Sind wir in diesen Dingen nachlässig, so verraten wir damit, dass es mit unserer Frömmigkeit bis nahe an den Gefrierpunkt gekommen ist.
V. 21 u. 22. Die traten zu Philippus. Ein Zeichen ihrer Ehrerbietung! Sie wagen nicht, Christum selber anzureden, sondern wünschen, Philippus möge sie dem Herrn vorstellen. Ehrerbietung macht die Menschen bescheiden.
V. 23 u. 24. Die Zeit ist kommen. Viele deuten diese Worte auf Christi Tod, durch welchen des Menschen Sohn verklärt wurde. So würde Jesus darauf hindeuten, dass die Zeit seines Todes unmittelbar bevorsteht. Ich beziehe die Worte jedoch lieber auf die Verkündigung des Evangeliums, welche die Kunde von Jesu nun bald durch alle Lande verbreiten sollte. So will der Herr von vorn herein der tiefen Niedergeschlagenheit begegnen, in die sein Tod die Jünger versenken konnte. Er macht ihnen damit klar: Es ist nicht nötig, dass ihr allen Mut verliert. Die frohe Botschaft wird gleichwohl in aller Welt verkündigt werden! Damit nun der Gedanke an seine bevorstehende Verklärung nicht in kurzem alle Kraft für sie verliere, sobald er zum Tode verurteilt, ans Kreuz gehängt und sogar ins Grab gelegt ist, beeilt er sich, nachdrücklich zu betonen, dass sein schimpflicher Tod durchaus kein Hindernis seiner Verklärung ist.
Das Gleichnis, welches (V. 24) diesen Gedanken weiter ausführt, ist sehr passend gewählt. Wenn das Weizenkorn nicht stirbt oder verfault, so bleibt es dürr und unfruchtbar. Der scheinbare Tod des Samenkorns dient erst recht dazu, um es lebendig zu machen: denn nun geht daraus neue Frucht hervor. Alles in allem vergleicht Christus seinen Tod mit der Aussaat eines Kornes, die den Tod desselben zur Folge zu haben scheint, tatsächlich aber der Anlass ist, dass aus dem einen Korn viele werden. Dies Gleichnis hatte damals, als es zuerst ausgesprochen wurde, seine besondere Bedeutung. Es behält jedoch seine Bedeutung in der ganzen Kirchengeschichte. Zuerst reden wir schicklicherweise vom Haupte. Jene schreckliche Art der Beschimpfung und Lästerung, welche Christo in seinem Tode angetan wurde, vermag seine Herrlichkeit durchaus nicht zu verdunkeln, die vielmehr von nun ab jeder Antastung von Menschenhänden entrückt wird. Unsere Gedanken müssen sich also nicht bloß auf Jesu Tod, sondern auch auf die Frucht desselben in der Auferstehung richten. So werden wir inne, dass nichts das Hervorbrechen seiner Herrlichkeit zu hindern vermag. Gehen wir nun zu den Gliedern über. Wenn fromme Christen von Leiden aller Art bedrängt, in mancherlei Nöte verstrickt sind, Nahrung und Kleidung entbehren müssen, mit Krankheiten behaftet sind, wenn sie beleidigt und gekränkt werden, wenn es schreckliche Augenblicke in ihrem Leben gibt, wo des Todes Rachen sie zu verschlingen droht, - immer mögen sie dann bedenken: das ist die Aussaat des Samenkorns; zu seiner Zeit wird die Frucht nicht ausbleiben (vgl. Kol. 3, 3; 2. Kor. 4, 16).
V. 25. Wer sein Leben lieb hat. Der Lehre fügt Christus eine Ermahnung hinzu. Ist es nötig, dass wir sterben, um Frucht zu bringen, so haben wir es in Geduld zu tragen, wenn Gott uns dem Tode übergibt. Aber was will Jesus damit sagen, wenn er in scharfem Gegensatze mahnt, sein Leben nicht lieb zu haben, sondern zu hassen? Wenn ein Mensch mit allen Fasern seiner Seele sich so fest an das irdische Leben klammert, dass er nur mit äußerstem Widerstreben diese Welt verlassen würde, so sagt man von ihm: er liebt das Leben. Wer aber das irdische Leben gering achtet und hochgemut in den Tod geht, der hasst das Leben: nicht als ob das Leben so ohne weiteres etwas Hassenswertes wäre, - durchaus nicht! es gehört vielmehr zu den größten göttlichen Wohltaten, - sondern nur deshalb, weil gläubige Christen es gern fahren lassen, wenn sie es nur um den Preis der Untreue gegen ihren Heiland behalten könnten: dann ist das Leben nur eine Last, die der Christ gern fallen lässt, um unbeschwert zu seinem Herrn zu eilen. Wer auch in diesem Falle zähe am irdischen Leben festhält, der verliert sein Leben, d. h. er stürzt ins ewige Verderben.
„Verlieren“ ist also hier nicht einfach so viel als „einbüßen“, sondern es bedeutet, dass der Betreffende ins Verderben geht. Nach dem griechischen Texte handelt es sich gar nicht bloß um das „Leben“, sondern um die „Seele“. Dabei ist es viel zu wenig gesagt, dass man die Gewalt über die Empfindungen seiner Seele verliert, wenn man den Begierden des Fleisches gar zu viel nachgibt. Der Vollsinn der Worte Christi wird vielmehr durch den Beisatz klar: auf dieser Welt. Der Gedanke ist also: Wer sein Leben in dieser Welt liebt, sorgt schlecht für dasselbe. Trefflich hingegen verstehen die ihr Leben zu erhalten, die es auf dieser Welt verachten.
Wer sein Leben hasst usw. Sobald in unseren Herzen der Gedanke an das himmlische Leben vorwiegt, vermag die Welt uns nicht mehr zu fesseln, wenn sie scheidend zwischen uns und unseren Gott treten will. Von da aus findet sich auch leicht die rechte Antwort auf den Einwurf, den man hier erheben könnte: Wie ist es denn mit allen denen, welche aus Verzweiflung oder aus anderen Gründen, vor allem aus Lebensüberdruss sich selbst entleiben? Wir werden nimmermehr sagen, dass die damit für das Heil ihrer Seele sorgen. Andere reißt der Ehrgeiz in den Tod und eben dadurch ins Verderben. Von solchem Sterben redet Christus hier selbstverständlich nicht. Er preist nur jene Verachtung des hinfälligen Lebens, die bei gläubigen Christen aus der Gewissheit eines besseren Lebens hervorgeht. Also hat jeder, der nicht gläubig zum Himmel empor schaut, noch nicht gelernt, wie man sein Leben erhält. Diesen zweiten Satz hat Christus angefügt, um Leute, welche allzu sehr am Erdenleben hängen, aufzuschrecken; fesselt uns die Welt derartig, dass wir sie uns nicht leicht aus dem Kopfe schlagen können, so können wir ja den Himmel nicht erreichen. Wenn uns nun Christus so gewaltig aufrüttelt, wäre es ein unverantwortlicher Leichtsinn, trotzdem weiter dem gewissen Verderben entgegen zu träumen.
V. 26. Wer mir dienen will. Damit der Tod uns weniger bitter und widerwärtig sei, lädt uns Christus durch sein Beispiel dazu ein, ihn freudig auf uns zu nehmen. Wollen wir seine Jünger sein, dann werden wir uns schämen, die Ehre, dass wir in seine Fußstapfen treten dürfen, auszuschlagen. Er kann ja uns auch unter keiner anderen Bedingung zu den Seinen zählen, als wenn wir ihm auf demselben Wege nachgehen, den er uns durch sein Leben zeigt. Er geht uns voran auf dem Wege des Todes. Nun verliert der Tod sein Grauen, seine Herbigkeit, ja er wird versüßt dadurch, dass wir den Gottessohn zum Genossen haben. Weit entfernt, dass wir um des Kreuzes willen vor Christo einen Abscheu haben dürften, sollen wir vielmehr uns freuen, wenn wir um seinetwillen den Tod erleiden müssen.
Darauf deutet auch der folgende Satz: Wo Ich bin, da soll mein Diener auch sein. Mit diesen Worten verlangt Jesus von seinen Dienern, dass sie ohne Sträuben den Tod auf sich nehmen, da sie sehen, dass er ihnen im Sterben vorangeht. Denn es ist nicht billig, dass der Diener etwas vor seinem Herrn voraus habe. Dieser Satz enthält einen Befehl, der Schlusssatz dagegen einen Trost: der Vater wird denjenigen Dienern Christi, welche so im Leben als im Tode seine unzertrennlichen Begleiter gewesen sind, den Lohn nicht vorenthalten.
V. 27. Jetzt ist meine Seele betrübt. Beim ersten Anschein sieht es so aus, als stünde dieser Satz in beträchtlichem Widerspruch zu der vorhergehenden Rede. Das Herz dessen, der mehr als ein Held war, offenbarte sich darin, dass Christus die Seinen nicht bloß ermahnte, den Tod auf sich zu nehmen, sondern sogar, wenn die Lage der Dinge es erforderte, gern und freudig den Tod aufzusuchen. Und nun auf einmal bebt er vor dem Tode zurück und gesteht es ein, dass ihn Weichheit anwandelt? Doch wir lesen hier kein Wort, das nicht vortrefflich in den Zusammenhang passte. Frage nur jeder gläubige Christ seine eigene Erfahrung! Wenn solche, die ernste Dinge nicht ernst zu nehmen verstehen, auch hier spöttisch lächeln, so nimmt das nicht Wunder. Mit den gewöhnlichen Hilfsmitteln der Auslegung lässt sich diese Stelle überhaupt nicht würdigen; hier tut dem Ausleger praktische Erfahrung die besten Dienste.
Es war um unserer Rettung willen heilsam, ja notwendig, dass der Sohn Gottes in diese Seelenstimmung kam. Bei seinem Sterben gilt es, das Hauptaugenmerk auf die Sühne zu richten, wodurch er Gott, dessen Zorn uns verfluchen musste, besänftigte. Das konnte nicht geschehen, ohne dass er unsere Schuld auf sich nahm. Der Tod, den er litt, musste also voll Schrecken sein. Jesus konnte für uns keine Genugtuung vollbringen, ohne dass er auch im Gefühl das furchtbare Urteil Gottes über die Sündenwelt verspürte. Was für ein schreckliches Unheil muss doch die Sünde sein, wenn um ihretwillen der himmlische Vater an seinem eingeborenen Sohne eine so grausige Strafe vollzog! Der Tod ist wahrlich kein Kinderspiel für Christum gewesen: Er warf sich um unseretwillen in die äußerste Qual hinein. Wie aber konnte der Sohn Gottes in solche Betrübnis geraten? Auch das ist nichts Undenkbares. Seine Gottheit verbarg sich, zeigte ihre Kraft nicht, ruhte gewissermaßen, um der Sühne Raum zu schaffen. Christus hat ja auch nicht nur unser Fleisch, sondern zugleich menschliches Fühlen angenommen. Allerdings war diese Seelenstimmung eine freiwillige. Er war bange, nicht weil er bange sein musste, sondern weil er aus eigenem Antrieb neben anderen menschlichen Gefühlen auch das Furchtgefühl angenommen hatte. Festzustellen ist aber ausdrücklich, dass Jesus wirklich, nicht nur scheinbar betrübt und bange war.
Nur in dem einen Punkte war er anders, als wir anderen Menschen, dass er auch sein Gefühlsleben im Gehorsam gegen Gottes Gerechtigkeit fest im Zügel hielt, - worüber schon früher geredet wurde. Auch nach einer anderen Seite noch hat seine Bangigkeit einen Nutzen für uns. Hätte die Furcht vor dem nahen Tode Jesum in gar keine bange Gemütsbewegung versetzt, wer von uns könnte dann seine Gedanken auf ihn als unser Vorbild richten? Uns ist es ja nicht gegeben, ohne schmerzliche Erschütterung dem Tode entgegen zu gehen. Sobald wir also hören: Auch sein Herz war nicht von Eisen, - so fassen wir uns einen Mut: Wohlan, ihm nach! Dann macht uns die natürliche Schwachheit des Fleisches, die vor dem Sterben zurückschrickt, nichts mehr zu schaffen; wir stellen uns unserem Feldherrn als Kampfgenossen zur Seite.
Und was soll ich sagen? Hier sehen wir sozusagen mit eigenen Augen, wie viel unsere Rettung den Sohn Gottes gekostet hat. In der äußersten Bedrängnis findet er nicht einmal Worte, um seiner namenlosen Seelenqual den rechten Ausdruck zu verleihen. Er weiß sich als Mensch keinen Rat. Nur eins bleibt ihm noch übrig: Er flüchtet ins Gebet, er verlangt Befreiung vom Tode. Doch alsbald, weil er ja sich dessen wohl bewusst ist, dass er nach Gottes ewigem Ratschlusse zum Opfer für unsere Sünden bestimmt ist, nimmt er das ihm nur von der übermächtigen Betrübnis abgepresste Gebet zurück. Er streckt sozusagen die Hand aus, um sich selbst wieder zurückzuholen; er will völlig in Gottes Willen ruhen.
Fünf Stufen lassen sich beobachten. Zuerst kommt die Klage, welche aus ungeheurem Schmerz hervorbricht.
Sodann empfindet Jesus, dass ein Ausweg gesucht werden muss; um nicht von der Angst erdrückt zu werden, geht er mit sich selbst darüber zu Rate, was geschehen muss.
Drittens nimmt er seine Zuflucht zum Vater und fleht ihn um Rettung an.
Viertens zieht er das Gebet, welches, wie er erkannt, seinem Heilandsberufe zuwiderläuft, wieder zurück und erklärt sich von vornherein bereit, alles, was gelitten werden muss, zu leiden; um keinen Preis, auf keinen Fall will er sich dem Auftrag des Vaters irgendwie entziehen.
Fünftens endlich gibt er sich damit zufrieden, dass nur dem Vater seine Ehre werde: alles andere vergisst er und achtet es für nichts.
Aber ziemt sich denn das für den Gottessohn? Unüberlegter Weise spricht er ein Stoßgebet aus, das er eiligst ungeschehen zu machen sucht, weil es ihm darum zu tun ist, dem Vater gehorsam zu sein! Wie steht es damit? Ich muss gestehen, dass hier die Torheit des Kreuzes zu Tage tritt, welche für hochmütige Leute ein Ärgernis ist. Aber je mehr sich der Herr seiner Herrlichkeit entäußert hat, desto deutlicher zeigt er uns eben damit seine unergründliche Liebe. Übrigens ist fest im Gedächtnis zu behalten, dass, wie schon früher berührt, das menschliche Gefühlsleben, dessen Christus nicht etwa ermangelte, bei ihm rein war und frei von Sünde. Das ist davon abzuleiten, dass es ganz und gar in den Bahnen des Gehorsams gegen Gott sich bewegte. Das widerstreitet einander nicht, dass Christus mit natürlichem Schauder auf den Tod blickt und doch voll des Wunsches ist, Gott gehorsam zu sein. Er verbessert sich deshalb ja unmittelbar danach: Doch darum bin ich in diese Stunde kommen. Todesangst ist an und für sich nichts Unerlaubtes. Sobald jedoch Jesus sich daran erinnert, wozu der Vater ihn gesandt hat und was die Pflicht von ihm, dem Erlöser, erheischt, bietet er den aus der natürlich-menschlichen Empfindung herstammenden Schauder dem Vater dar, damit Er ihn stille. Ja, Jesus hat seine Seele schon gestillt und gürtet sich, um frei und unbehindert Gottes Befehl zu befolgen. Wenn die Gefühlswelt Christi, der kein Sündenstäubchen anhaftete, dermaßen in Zucht genommen werden musste, um in den Schranken des Gehorsams gegen Gott zu bleiben, mit welchem Eifer müssen wir dann uns befleißigen, uns in Zucht zu nehmen! Wohnen doch in unseren sündlichen Herzen genauso viele Feinde Gottes, als Gefühle darin auf- und niederwogen! Jeder wirklich fromme Mensch muss darauf aus sein, sich Gewalt anzutun, dass er sich selbst völlig verleugne. Weiter ist auch darauf zu achten, dass wir nicht bloß denjenigen Herzensgedanken den Zügel anlegen, welche in offenbarem Widerspruch mit Gottes Willen sich befinden, sondern auch allen denen, welche uns auf unseren besonderen Berufswegen hemmen, mögen sie auch außerdem nicht schlecht oder lasterhaft sein.
Damit wir in dieser wichtigen Angelegenheit zur Klarheit kommen, müssen wir zuvörderst Gottes Willen ansehen, dann zweitens den reinen, unverdorbenen Menschenwillen, wie ihn Gott dem Adam gegeben hatte, und wie er dann bei Christo vorhanden war, endlich drittens unseren eigenen durch die Sünde befleckten und verdorbenen Willen. Gottes Wille ist Regel und Richtschnur. Ihm muss sich alles fügen, was unter Gott steht. Nun wird sich ja der unverderbte natürliche Menschenwille nicht gegen Gott auflehnen; doch werden dem Menschen, selbst wenn er völlig rechtschaffen ist, sich viele Hemmnisse in den Weg stellen, wenn er nicht immer wieder sein gesamtes Gefühlsleben Gott zu Füßen legt. Der innere Kampf Christi bestand also darin, dass er das natürliche Furchtgefühl abschüttelte, da er merkte, dass Gott in dem gegenwärtigen Falle bei ihm dies natürliche Empfinden nicht brauchen konnte. Dieser Kampf ist auch uns verordnet, außerdem aber der andere gegen das freche Widerstreben unseres Fleisches. In diesem Kampfe tragen auch die mutigsten Streiter niemals unverwundet den Sieg davon.
Vater, hilf mir. In dieser Reihenfolge muss auch bei uns der Kampf verlaufen. So oft uns Bangigkeit beschleicht oder Schmerz quält, haben wir ohne Aufschub unsere Herzen zu Gott zu erheben. Nichts ist schlimmer, nichts schädlicher, als inwendig hegen und pflegen, was uns Qual bereitet. Ach, wie viele, viele Menschen verzehren sich in verhehlter Pein! Jeder, der in solcher Lage sich nicht an Gott wendet, straft damit sich selbst; denn wer diesen so einfachen, naheliegenden Schritt unterlässt, schneidet sich selber jede Erleichterung seines bekümmerten Herzens ab.
V. 28. Vater, verkläre deinen Namen. Mit diesen Worten bezeugt Jesus: Des Vaters Ehre geht mir über alles; wird Er nur verklärt, dann kann ich auch freudig auf mein Leben verzichten! Dann erst kennen wir die richtige Mäßigung unserer Gebetswünsche, wenn es uns an erster Stelle um die Ehre Gottes zu tun ist und wir der Bitte um Gottes Verklärung alle anderen Wünsche unterordnen, ja zum Opfer bringen können. Wird Gottes Ehre gewirkt, so muss das für uns ein überreicher Ersatz sein, sodass wir nun stillen, ergebenen Herzens alles Schwere hinnehmen können.
Ich habe ihn verklärt und will ihn abermals verklären. Das bedeutet: Ich werde zu Ende führen, was ich angefangen habe (Ps. 138, 8)! Gott hatte ja vor, dem Ärgernis des Kreuzes ein Gegengewicht zu geben. Deshalb verspricht er nicht bloß auf des Sohnes Bitte hin, dass sein Tod göttliche Herrlichkeit an sich tragen werde, sondern erinnert auch, dass schon gar vieles, was vorhergegangen, im Voraus dem Kreuzestode Christi den Stempel göttlicher Schönheit und Hoheit aufdrücke.
V. 29. Es donnerte. Viele der Anwesenden hatten taube Ohren – geistlich verstanden! -, sie vernahmen deshalb nur ein Getön ohne Sinn. Und doch hatte Gott klare, verständliche Worte gesprochen. Andere waren nicht ganz so stumpf; doch machen sie einen gehörigen Abstrich an der Erhabenheit der vom Himmel erschallenden Stimme: nicht Gott, sondern nur ein Engel habe geredet. Heute geht es noch genau ebenso. Verständlich und deutlich genug redet Gott doch wahrlich im Evangelium; mit eindringender Gewalt äußert sich darin Gottes Geist, der, wo ihm Eingang gegeben wird, Himmel und Erde bewegt. Und doch lässt die Lehre Christi viele Hörer so kühl, als habe ein beliebiger Mensch Worte geredet, die keine besondere Beachtung verdienen. Andere gar behandeln Gott in seinem Worte wie ein Kind, das noch nicht recht sprechen kann, oder wie ein Fremdling, dessen Sprache man eben nicht versteht. Sie gleichen denen, welche sagen: Es donnerte. Hatte es denn nun weder Zweck noch Erfolg, dass Gottes Stimme damals erklang? Nun, jedenfalls trifft doch nur auf einzelne zu, was der Evangelist hier von dem „Volke“ sagt. Gewiss haben auch noch andere, nicht nur die Apostel, den Sinn und die Bedeutung der Worte weniger falsch aufgefasst. Der Evangelist will nur kennzeichnen, wie es im Großen und Ganzen in der Welt hergeht. Die meisten von denen, welche Gott reden hören, merken nicht, dass er wohl verständliche Worte redet.
V. 30. Nicht um meinetwillen. Bedurfte Jesus denn nicht einer Stärkung? Oder trug der Vater weniger Sorge um ihn, als um uns? Man verliere doch den wichtigen Gesichtspunkt nie aus dem Auge: wie Christus um unsertwillen Mensch ward, so hat ihm der Vater auch all das Gute, was er empfing, um unsertwillen gegeben. Auch geschah wirklich diese Stimme vom Himmel mit Rücksicht auf das Volk: Jesus selbst bedurfte keines äußeren Wunderzeichens. Der Herr macht hier den Juden, ohne sich dazu ausdrücklicher Worte zu bedienen, den Vorwurf: Wenn Gott redet, hört ihr so wenig davon, wie ein Stein! – Um ihretwillen redet ja Gott! So haben sie keine Entschuldigung, wenn sie ihm dafür keinen Dank wissen, ihm nicht einmal Gehör leihen.
V. 31. Jetzt geht das Gericht über die Welt. Der Herr hat bereits in gewisser Weise den Kampf durchgefochten und frohlockt als Sieger nicht bloß über die Furcht, sondern auch über den Tod. Herrlich beschreibt er die Frucht seines Sterbens. Unter solchen Umständen tat nicht not, dass sich die Jünger bei seinem Tode tiefer Niedergeschlagenheit hingaben. Unter „Gericht“ verstehen die einen die Neugestaltung, die anderen die Verdammnis. Ich pflichte den Ersteren bei: die Welt soll wieder in die rechte Ordnung gebracht werden. Das hebräische Wort, welches dem griechischen zugrunde liegt, bedeutet auch die rechte Ordnung, die gute Verfassung (hebräisch: mischphat). Bekanntlich herrscht in der Welt, wenn Christus nicht eingreift, nur Verwirrung und Unordnung. Christus hatte nun schon begonnen, das Reich Gottes aufzurichten: doch wurde erst sein Tod so recht der Anfang einer Neuordnung. Von da ab machte die Neugestaltung der Welt gewaltige Fortschritte. Zu beachten ist, dass diese Neuordnung nur durch gleichzeitige Niederreißung der Satansherrschaft, durch Abtötung des Fleisches und Zerstörung alles dessen, was der Gerechtigkeit Gottes widerstrebt, ins Werk gesetzt werden kann.
Deshalb verkündet Christus laut: Der Fürst dieser Welt muss ausgestoßen werden. So lange Satan die Macht in Händen hat, kann der Verwirrung und allen Gräueln in der Welt nicht abgeholfen werden; Satan ist der Quell alles Bösen in der Welt. Ist Satan beseitigt, so erhebt sich die Welt aus ihrem Abfall und beugt sich unter Gottes Zepter.
Aber wieso ist denn Satan beim Tode Christi gestürzt worden? Führt er nicht nach wie vor seinen Kampf gegen Gottes Reich? Keinesfalls darf man die Ausstoßung beschränken wollen auf eine kurze Zeit, in der es einmal Ruhe gegeben habe. Vielmehr beschreibt unser Heiland hier die herrliche Wirkung seines Todes, welche jeder Aufrichtige täglich verspüren kann.
V. 32 u. 33. Wenn ich erhöht werde. Hier wird die Art und Weise, wie das Gericht zur Ausführung kommt, beschrieben: der ans Kreuz erhöhte Christus will alle zu sich sammeln, um sie von der Erde in den Himmel emporzuheben. Der Evangelist sagt, Christus habe so die Art seines Todes andeuten wollen. Ohne Zweifel ist der Sinn dieser: das Kreuz ist der Himmelswagen, vermittelst dessen Jesus alle mit sich zum Vater hinaufbringen will. Es konnte auf Golgatha so aussehen, als sei er nun von der Erde erhöht, um überhaupt in Zukunft nichts mehr mit den Menschen zu tun zu haben. Aber damit verhält es sich ganz anders! Dadurch, dass er sich erhebt, will er die, welche an die Erde sich klammerten, zu sich emporziehen. Alle, - darunter sind zu verstehen die zur Herde des guten Hirten gehörenden Gotteskinder aus Juden und Heiden.
V. 34. Wir haben gehört im Gesetz usw. Ohne Zweifel hatten jene Leute nur die Absicht, über das, was Christus gesagt hatte, boshaft loszuziehen. So sind sie denn in ihrer Bosheit völlig blind, stehen mitten in der Sonne und haben nicht einmal einen Lichtschimmer. „Nein“, sagen sie zu Jesu, „dich können wir nimmermehr für den Messias halten! Du redest ja vom Sterben! Das Gesetz dagegen sagt vom Messias, er bleibe ewiglich“. Und nun steht doch klärlich beides im Gesetz geschrieben: einmal, dass Christus sterben wird, und dann, dass er gerade dadurch ein blühendes Reich aufrichtet bis ans Ende der Welt. Sie hängen sich nur an dies Zweite und machen sich daraus eine Berechtigung, ihn zu verwerfen. Ihrem Irrtum lag zugrunde, dass sie von einem in fleischliche Augen leuchtenden Messiasreiche träumten. Sie weisen Christum nur deshalb ab, weil er ihren verkehrten Gedanken nicht entspricht. – Im „Gesetz“ sind hier auch die Propheten mit einbegriffen. „Bleibe“ ist so viel als „bleiben wird“. Die Frage: Wer ist dieser Menschensohn? ist eine spöttelnde, des Inhalts: Gegen unsern Einwand bist du wehrlos; von unserem Wort besiegt liegst du am Boden! Unwissenheit und Anmaßung sind eben Geschwister.
V. 35. Noch eine kleine Zeit. Obwohl der Herr sie mit dieser Antwort freundlich ermahnt, setzt er ihnen damit doch auch scharf zu, denn er macht ihnen zum Vorwurf: So hell das Licht auch leuchten mag, ihr seht doch nichts, - und sagt ihnen an: in kurzem wird das Licht verschwinden! Wenn er auch nicht das Licht seiner leiblichen Anwesenheit, sondern das Licht des Evangeliums meint, so spielt er doch auf sein Weggehen im Tode an. Er will sagen: Wenn ich jetzt bald fortgehen werde, bleibe ich doch nach wie vor das Licht; dadurch, dass ihr in der Finsternis bleibt, schadet ihr nicht mir, sondern euch. – Das Licht ist da.
Sie aber gehen mit geschlossenen Augen daran vorbei. Jesus würdigt ihren Einwand deshalb keiner Entgegnung. Sie wollen ja mit Gewalt in ihrem Irrtum beharren. Wenn er sagt: „Das Licht ist nur noch kurz bei euch“, so trifft das bei allen Ungläubigen zu. Die Schrift verheißt nur den Kindern Gottes den Aufgang der Sonne der Gerechtigkeit, die niemals untergehen wird (Mal. 3, 20; Jes. 60, 19). Weil auf Verachtung des Lichtes das Hereinbrechen der Finsternis folgt, gilt es vorsichtig zu wandeln. Die Ursache davon, dass Nacht und Finsternis Jahrhunderte lang über der Welt sich lagerten, ist darin zu suchen, dass nur wenige es für der Mühe wert hielten, im Glanze der himmlischen Weisheit ihren Lebensweg zu gehen. Uns leuchtet Christus durch das Evangelium, damit wir ihm auf dem Weg des Heiles, den er uns zeigt, folgen sollen. Diejenigen also, welche die Gnade Gottes nicht gebrauchen, löschen, soweit sie das vermögen, das ihnen hingehaltene Licht aus. Um nun ihre Seelen in Angst und Unruhe zu bringen, erinnert Jesus die Juden daran, wie jammervoll die Lage derer ist, welche, des Lichtes beraubt, ihr ganzes Leben lang auf Irrwegen einhergehen. Sie können den Fuß nicht aufheben, ohne in Gefahr zu sein, zu fallen, ja zu verunglücken. Christus spricht es hier offen aus: Wenn ich euch nicht voranleuchte, so seid ihr in Finsternis! Wir entnehmen daraus, von welch geringem Werte der bloße menschliche Scharfsinn und Verstand ist, wenn er Christum beiseiteschiebt und ohne ihn unser Führer und Lehrer sein will.
Solches redete Jesus und ging weg. Ist das nicht sonderbar, dass er sich denen entzog, welche ihn so voll Begier aufgenommen hatten? Nein, denn aus den anderen Evangelien kann man sehen, dass es sich hier um Feinde handelte, deren Feindschaft angesichts der eifrigen Frömmigkeit der Wohlgesinnten, die wirklich nach Jesu verlangten, zu heller Flamme aufloderte. Die Festgäste von auswärts, welche Christo entgegen gezogen waren, haben ihn bis in den Tempel hineingeleitet; dort geriet er in einen Schwarm von Schriftgelehrten und Hauptstädtern hinein.
V. 37. Solche Zeichen. Dass Christus von den Juden verachtet worden war, konnte leicht jemanden hindern und in Verwirrung bringen. Um dies Ärgernis zu entkräften, zeigt der Evangelist, dass die Juden durch herrliche Zeugnisse, die sich gar nicht missverstehen ließen, unterrichtet worden sind. Sie sollten dadurch zum Glauben an Jesus und seine Lehre kommen. Aber so strahlend auch Gottes Macht und Herrlichkeit in diesen Wundern vor ihnen stand, - sie haben blind, wie sie waren, nichts davon gemerkt. Christus hat alles aufgeboten, um die Juden zum Glauben zu bewegen; so wäre es denn grundverkehrt, es ihm irgendwie zur Last zu legen und ihn weniger zu achten, weil sie nicht glauben wollten. Immerhin konnte die Gleichgültigkeit der Juden, an welchen die sichtbarsten Beweise der göttlichen Macht abprallten, vielen ein anstößiges Rätsel werden. Deshalb verweilt Johannes noch hierbei (V. 38 ff.) und zeigt, dass der Glaube nicht etwa von selbst überall da sich einstellt, wo ein Mensch seinen Verstand beisammen hat, sondern dass er ein einzigartiges, köstliches Geschenk Gottes ist, das schon nach alten Prophetenworten nur ganz wenigen zuteilwird.
V. 38. Der Spruch des Propheten Jesaja. Johannes will nicht sagen: das war so geweissagt, folglich waren die Juden völlig außerstande, anders zu handeln. Jesaja hat ja nichts anderes vorgetragen, als was ihm der Herr aus den geheimen Schatzkammern seines Ratschlusses geoffenbart hat. Es hätte so kommen müssen, auch wenn der Prophet darüber schwieg. Ohne seine Aussage hätte jedenfalls niemand geahnt, dass etwas Derartiges in Zukunft zu erwarten war. Jetzt aber, da diese Tatsache, so sehr sie gegen alles menschliche Erwarten verstieß, wirklich eingetreten ist, setzt der Evangelist dies Prophetenwort gleichsam als getreuen Spiegel der Ereignisse jedermann vor die Augen.
Herr, wer glaubt unserer Predigt, und usw. Es liegen hier zwei Satzglieder vor. In dem ersten blickt Jesaja, der soeben seine Weissagung über Christum angehoben, darauf hin, wie das, was er von Christo verkündet und auch das, was die Apostel dereinst predigen sollten, allenthalben von den Juden zurückgewiesen werden wird, und ruft im Hinblick auf dies unfassbare Widerstreben voll Entsetzen aus: Herr, wer wird unserer Kunde Glauben schenken?
In dem zweiten Satzgliede gelangt er zu dem Verständnis der Ursache, weshalb nur ganz wenige glauben. Es liegt daran, dass die Menschen von sich aus nicht zum Glauben durchzudringen vermögen, Gott aber nicht allen ohne Unterschied die Erleuchtung schenkt, sondern nur wenige mit seinem Geiste begnadigt. Schon bei den Juden durfte den Gläubigen der hartnäckige Unglaube der großen Menge kein Hemmnis sein, wenngleich ihre eigene Zahl recht unansehnlich war.
Dann dürfen wahrlich auch wir uns des Evangeliums nicht schämen, mag es auch noch so wenig Anhänger haben. Vor allem aber müssen wir die tiefe Wahrheit beachten, die unserer Stelle zu Grunde liegt: zum Glauben kommen wir nicht durch unsere Klugheit, sondern allein durch Offenbarung Gottes.
Dass der Arm des Herrn die Macht Gottes bedeutet, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Der Arm Gottes streckt sich im Evangelium nach uns aus; doch merkt davon nur der etwas, dem Gott es offenbart. Er offenbart es aber nicht allen; folglich bleiben viele blind und unerleuchtet, sodass sie hören und doch nicht hören.
V. 39. Darum konnten sie nicht glauben. Das klingt sehr hart. Es hört sich so an, als ob den Juden der Zugang völlig verbaut, jede Möglichkeit des Glaubens abgeschnitten gewesen wäre, weil eben der Prophetenspruch Blindheit über sie verhängte, ehe sie noch vor die Wahl gestellt wurden, ob sie glauben wollten oder nicht. Was ist darauf zu sagen? Nun, es konnte jedenfalls nicht anders gehen, als Gott es vorausgesehen hatte. Doch wohlgemerkt: das einfache, bloße Vorherwissen Gottes wirkt nicht bestimmend auf den Gang der Ereignisse ein. Also gilt es hier nicht sowohl auf sein Vorauswissen, als vor allem auf sein Strafgericht zu achten. Gott redet ja nicht nur davon, was, wie er vom Himmel her sieht, die Menschen tun werden, sondern auch davon, was er selbst tun wird. Er wird die Gottlosen mit Stumpfsinn und Betäubung schlagen, um sich an ihnen für ihre Bosheit zu rächen. Hier wird die nächstliegende Ursache hervorgehoben, der zufolge Gott beschlossen hat, dass sein sonst so heilsames Wort den Juden zu Tod und Verderben gereichen soll: sie haben es mit ihrer bösen Gesinnung nicht besser verdient. Dieser Strafe konnten sie, sobald Gott sich vorgenommen hatte, sie zu verhärten und das Licht seines Wortes für sie in Finsternis zu verwandeln, nicht mehr entgehen.
Der zweite prophetische Ausspruch ist darin von dem ersten verschieden, dass dort (Jes. 53, 1) Jesaja bezeugt: es kommen zum Glauben nur die, welche Gott nach seinem Gnadenratschluss erleuchtet, - weshalb nur sie, das wurde nicht näher begründet. Von Rechts wegen sind alle verloren; so macht Gott nach seiner freien Güte nur mit denen, welche er sich ausersehen hat, eine Ausnahme gegenüber den anderen. Hier aber (Jes. 6, 9. 10) wird auf eine Verstockung hingewiesen, mit welcher Gott die boshafte Undankbarkeit des Volkes gestraft hat. Das ist eine wohl zu beachtende Abstufung.
V. 40. Er hat ihre Augen verblendet. An dieser Stelle belehrt Jehovah den Propheten frühzeitig darüber, dass bei all seiner Arbeit als Lehrer des Volkes nichts anderes herauskommen wird, als dass es noch schlimmer wird. Zuerst sagt er: „Geh und sage diesem Volke: Höret mit euren Ohren und vernehmet es doch nicht!“ das heißt: Ich sende dich aus, damit du deine Rede an taube Leute richtest. Dann fährt der Herr fort: „Verstocke das Herz dieses Volkes usw.“ was besagt: Ich bestimme ausdrücklich, dass mein Wort denen, die ich verworfen habe, das Strafgericht bringt, dass sie dadurch nur noch mehr verblendet und in immer völligere Finsternis versenkt werden. Gewiss ein schauerliches Gottesgericht! Gott überschüttet die Menschenherzen mit dem Lichte seiner Lehre und erreicht damit, dass sie aller Einsicht beraubt werden. Ja aus dem einzigen Lichtquell, den sie besitzen, schöpfen sie Finsternis. Selbstverständlich ist das nicht die Hauptwirkung des Wortes Gottes, sondern es ist nur eine Nebenwirkung desselben, dass es die Menschen zu verblenden vermag. An und für sich ist es ja widersinnig, dass Lüge und Wahrheit, Lebensbrot und tödliches Gift diesen Wirkungen hervorrufen, und durch das Heilmittel die Krankheit gesteigert wird. Schuld daran ist nur die arge Gesinnung der Menschen; sie verwandelt Leben in Tod, Heil in Unheil. Bei dieser Gelegenheit wollen wir bedenken, dass die Verblendung des menschlichen Herzens entweder von dem Herrn selber oder von Satan und falschen Propheten oder endlich von den Dienern Gottes – die letzten drei sind dann alle in ihrer Art nur die Werkzeuge Gottes – gewirkt wird. Wenn übrigens die Propheten treulich ihr Lehramt verwalten und den Erfolg ihrer Arbeit Gott anbefehlen, dann brauchen sie, auch wenn weniger erreicht wird, als sie wünschten, doch nicht matt und mutlos zu werden. Dann müssen sie sich damit begnügen, zu wissen: unser Wirken hat den Beifall Gottes, so wenig Nutzen es auch den Menschen bringen mag! Auch derjenige Geruch der Lehre, welchen durch Verschulden der Gottlosen todbringend wirkt, ist in Gottes Augen gut und angenehm (2. Kor. 2, 15).
Dass sie mit den Augen nicht sehen. Behalten wir im Sinne, dass der Prophet von den Ungläubigen spricht, die schon vorher die Gnade Gottes mit Verachtung abwiesen. Sicherlich würden alle Menschen so handeln, wenn nicht der Herr nach freier Wahl etliche gehorsam machte. Daher ist von Anfang die Beschaffenheit der Menschen die gleiche. Wenn aber die Verworfenen dann aus freien Stücken und mit selbsterwählter Bosheit sich gegen Gott aufgelehnt haben, dann straft sie Gott dadurch, dass er sie in ihren verworfenen Sinn dahingibt und sie nun unaufhörlich immer tiefer in ihr Verderben geraten. Will Gott ihre Bekehrung nicht, so fließt das aus ihrer eigenen Schuld: sie haben sich selber ihre verzweifelte Lage zugezogen. Kurz belehren uns auch diese Prophetenworte darüber, wie unsere Bekehrung zu Gott zustande kommt: dadurch, dass er unsere Herzen erleuchtet, welche, so lange sie von satanischer Finsternis erfüllt waren, naturgemäß von Gott abgekehrt blieben.
Und ich ihnen hülfe. Hilfe oder Heilung ist die Frucht der Bekehrung. Der Prophet versteht darunter die Segnung Gottes, den neuen glücklichen Zustand, und somit die Befreiung von allerlei Elend, das mit Gottes Zorn zusammenhing. Wenn bei den Verworfenen das Wort Gottes eine Wirkung hat, die es ursprünglich nicht nach sich ziehen soll, so ergibt sich daraus gegensätzlich, zu welchem Zweck uns tatsächlich das Wort gepredigt wird: es soll uns zu wahrer Gotteserkenntnis erleuchten, zu Gott bekehren und mit ihm versöhnen, damit wir Hilfe, Glück und Heil haben.
V. 41. Solches sagte Jesaja, da er seine Herrlichkeit sah. Die Lehrer sollen nicht denken: für Jesajas Zeit galt dieses Wort wohl; hierher aber passt es nicht! Deshalb prägt uns der Evangelist ein, dass der Prophet nicht bloß zum Lehrer seiner Zeit bestellt war, sondern dass ihm Christi Herrlichkeit gezeigt ward, damit er bezeugen könne, was künftig in seinem Reiche geschehen sollte. Die Tatsache, dass der Prophet die Herrlichkeit Christi schaute, wird dabei als unzweifelhaft einfach vorausgesetzt.
V. 42. Doch auch der Obersten usw. Als die Juden Christum so trotzig abwiesen, konnte es scheinen, als wären sie alle ohne Unterschied eines Sinnes in diesem ihrem Widerstreben gewesen. Dem war jedoch nicht so. Aus der großen unverständigen Volksmasse hoben sich immerhin einige Leute mit gesundem Sinne heraus. Ein denkwürdiges Beispiel der Gnade Gottes! Denn wo die Gottlosigkeit erst einmal das Übergewicht bekommen hat, da ist sie gewissermaßen eine jeden befallende Seuche, die alle einzelnen Teile des Volksleibes ansteckt. Folglich ist es ein auffallendes Gottesgeschenk, wenn inmitten eines so verderbten Volkes sich einige von der allgemeinen Krankheit frei erhalten. Gott ist auch in dieser Beziehung noch heute der Gleiche. So sehr allenthalben Gottlosigkeit und Gottesverachtung sich breit macht, so ingrimmig viele es unternehmen, die Lehre des Evangeliums aus der Welt zu schaffen, - immer gibt es einige, die nicht mit dem Strome schwimmen. So hat der Christenglaube doch immer noch einige Wohnstätten auf Erden, sodass er nicht ganz ausstirbt. „Auch“ steht hier mit besonderem Nachdruck: denn gerade in dem Stande der Obersten herrschte ein so erbitterter, tödlicher Hass gegen das Evangelium, dass man nicht hätte glauben sollen, es fände sich unter ihnen auch nur ein einziger Gläubiger. Umso wunderbarer war die Kraft des Geistes Gottes, der auch dorthin durchdrang, wo anscheinend kein Zutritt für ihn frei stand. Indes ist die Abneigung der Obersten gegen Christum nicht nur ein damals allein vorhandener Übelstand. Fast immer ist Ansehen und Reichtum und hohe Würdestellung mit Hochmut gepaart, weswegen es selten vorkommt, dass solche Leute, die vor lauter Anmaßung kaum noch andere Menschen für ihresgleichen ansehen, sich freiwillig in den Zügel der Demut nehmen. Standespersonen tuen immer gut, wenn sie ihre eigene Größe mit Misstrauen ansehen; wie leicht kann sie ihnen ein Hindernis am Heil werden! Wenn Johannes sagt, es seien viele Gläubige unter den Obersten gewesen, so haben wir das nicht so zu nehmen, als sei die Mehrzahl oder wenigstens die Hälfte dieses Standes gemeint. Mit den anderen verglichen, welche die große Masse bildeten, waren es doch nur wenige. Viele waren es nur, wenn man sie ohne Seitenblick auf die anderen für sich allein betrachtete.
Um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht. Geht es denn an, den rechten Glauben und das Bekenntnis voneinander zu scheiden? Es ist ja undenkbar, dass, wo das Feuer des Glaubens im Herzen glüht, nicht auch nach außen die Flamme dieses Feuers im Bekenntnis des Mundes sichtbar würde (Röm. 10,10). Nun, hier handelt es sich nur darum, zu zeigen, wie groß die Schwäche des Glaubens bei diesen recht lauen oder vielmehr kühlen Menschen war. Sie hatten die Lehre Christi angenommen, weil sie merkten, dass sie von Gott stammte. Aber der Glaube war nicht lebendig in ihnen, besaß nicht die Kraft, die ihm so wohl ansteht. Christus gibt ja den Seinen nicht den Geist der Furcht, sondern der Kraft, sodass sie den Mut haben, ein freimütiges, furchtloses Bekenntnis abzulegen, wie er selbst es ihnen vorgemacht hat. Allerdings glaube ich nicht, dass jene Leute ihren Glauben mit keiner Silbe verraten haben: die Meinung des Evangelisten wird nur sein, dass ihr Bekenntnis ziemlich schüchtern zutage kam. Wirklich bekannt würden sie sich zu Jesu doch nur haben, wenn sie ihm offen und klar als dem Messias gehuldigt hätten. Beruhige sich also niemand durch Scheingründe darüber, wenn er irgendwie seinen Glauben versteckt und verschleiert, um dadurch nicht in Ungelegenheiten zu geraten. So verhasst auch der Name Christi sein mag, so unentschuldbar ist gleichwohl die Feigheit, die uns zwingt, auch nur ein klein wenig vom Bekenntnis zu ihm abzubiegen. Auffallend ist, dass gerade bei den Obersten ein Mindermaß von Mut und Kraft sich findet. Solche Leute sind in der Regel vom Ehrgeiz beherrscht; der aber versteht es vorzüglich, den Menschen einen Sklavensinn einzupflanzen. Irdische Ehren sind Ketten von Gold; sie fesseln einen Menschen an Händen und Füßen. Er ist nicht mehr frei zur einfachen Pflichterfüllung. Eine Beobachtung, die unbeachteten, geringen Leuten die Zufriedenheit mit dem ihnen gefallenen Los sehr erleichtern kann. Sie wissen von vielen, und zwar sehr bösen Fesseln nichts. Wie schwer haben doch hochgestellte und vornehme Leute in ihrem Stande zu kämpfen, damit sie sich als treue Untertanen Christi beweisen können! Als diejenige Gruppe, vor der man sich besonders scheut, nennt der Evangelist die Pharisäer. Auch die Schriftgelehrten und Priester würden nicht gleichmütige Zuschauer geblieben sein, wenn sich jemand als Jünger Jesu offen erklärt hätte. Aber in den Pharisäern kochte unter der Decke eines heiligen Eifers eine besonders rasende, wenn auch ohnmächtige Wut. Etwas Hochlöbliches ist wirklicher Eifer um die Reinerhaltung der Religion; wo aber unter der schönen Tünche sich nur Heuchelei verbirgt, da stiftet solcher Eifer mehr Schaden, als die Pest in ihrer schlimmsten Gestalt. Umso inniger sollen wir den Herrn bitten, uns die untrügliche Leitung seines Geistes zu schenken.
Dass sie nicht in den Bann getan würden. Da sehen wir, was den Leuten den Weg zum fröhlichen Bekennen verlegte: sie fürchteten sich davor, mit Schimpf und Schande aus der Synagogen-Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Wie groß ist doch die menschliche Bosheit, dass sie göttliche Einrichtungen, so gut sie auch sein mögen, nicht bloß verdirbt und götzendienerisch verunstaltet, sondern sogar zu seelengefährlicher Tyrannei missbraucht! Der Bann sollte seiner ursprünglichen Bestimmung nach aller Zuchtübung in der Gemeinde Gottes den richtigen Nachdruck verleihen. Gegen die Verachtung der Gemeinde musste eine Strafe zur Hand sein. Und wohin war es mit dem Banne gekommen? Er lag für jeden bereit, der bekannte: „Ich gehöre dem Messias an.“ Hinaus mit ihm aus der Gemeinde der Gläubigen!
V. 43. Denn sie hatten lieber die Ehre usw. Der Evangelist betont, dass diese Leute nicht etwa noch irgendwelche den Christenglauben verdunkelnde Wahnvorstellungen des jesusfeindlichen Judentums festhielten, sondern lediglich bange waren, gesellschaftlich und kirchlich gebrandmarkt zu werden. Hat Ehrgeiz mehr bei ihnen vermocht als Gottesfurcht, so geht daraus hervor, dass ihre früheren eitlen Gewissensbedenken tatsächlich schon überwunden waren. In Gottes Augen ist solch furchtsames Benehmen durchaus verwerflich. Wir sollen unseren Glauben aus Besorgnis vor dem Hass anderer nicht verheimlichen. Es ist verkehrt, ja menschenunwürdig, dem gottlosen Beifall der Menschen den Vorzug zu geben vor dem Wohlgefallen Gottes. Auf solch wahnsinnigen Abweg gerät aber jeder, der menschlicher Missgunst aus dem Wege gehen möchte, wo er doch seinen Glauben rein und unverfälscht bekennen sollte. Moses hielt vor Zeiten um dessentwillen standhaft aus, dass er sich an den Unsichtbaren hielt, als sähe er ihn (Hebr. 11, 27). Heftest du deine Augen auf Gott, so kann dir der Mut nicht geknickt werden, und du hast ein Herz, fester als Stahl. Schämen mögen sich alle, die es für einen kleinen, leicht verzeihlichen Fehler ansehen, wenn sie gelegentlich Christum verleugnen. Der Geist Gottes bezeugt, dass gerade diese Versündigung höchst abscheulich ist: die Menschen auf der Erde werden ja dadurch über Gott im Himmel gestellt. Die Ehre bei den Menschen liebhaben, ist hier so viel als: gern bei den Leuten etwas gelten. Der Evangelist beschuldigt die Verleugner Christi somit, dass ihnen an den Menschen mehr gelegen war, als an Gott. Zugleich aber zeigt er auch, dass der von den Priestern so übel missbrauchte Bann null und nichtig war. Lasst den Bann doch schleudern, wer will; er tut uns nichts, wenn wir wissen, dass man uns doch nur von unserem Heiland abbringen will.
V. 44. Jesus aber rief usw. Mit dem hier aufgezeichneten Worte will Jesus die Seinen zu recht unbeugsamer Glaubensfestigkeit ermuntern, zugleich aber auch die verkehrte Ängstlichkeit der betreffenden Obersten tadeln und beseitigen. Er ruft laut, weil es sich nicht um bloße Belehrung, sondern um eine Aufmunterung handelt, durch die er sie zu freudigem Bekenntnis anspornen will. Der Inhalt seines Ausrufes ist der: Glaubst du an Christum, so verlässt du dich damit nicht auf einen Menschen, sterblich und schwach wie andere auch, sondern auf Gott selbst. Du findest in ihm nur Göttliches, ja, schaust du ihm, so schaust du Gott ins Angesicht. Wie sinnlos deshalb, ja wie unwürdig, im Glauben an Jesum wankelmütig zu sein, als wäre kein rechter Verlass auf ihn! Das ist die größte Beleidigung, die man Gott zufügen kann, wenn man seine Wahrhaftigkeit nicht als zuverlässig ansieht. Erst der ist dem Evangelium wirklich gerecht geworden, der im christlichen Glauben seinen Halt gefunden und nun sich nicht mehr auf Menschen, sondern auf Gott verlässt und dabei sicher und ruhig verharrt, allen Listen Satans zum Trutze. Wollen wir Gott die Ehre geben, die ihm gebührt, so müssen wir im Glauben feststehen lernen, mag gleich das Weltgebäude wanken, der Fürst der Hölle toben und alles unter dem Himmel in Stücke gehen. Christi Gläubige glauben ja nicht an ihn als einen bloßen Menschen, weil sie durch seine irdische Erscheinung hindurchdringen. Jesus stellt sich hier mit dem Vater zusammen und heißt uns auf Gottes Stärke schauen; aus sich heraus hat ja sein schwaches Fleisch keine Festigkeit. Wenn der Herr später in den Abschiedsreden seine Jünger dagegen ermahnt (Joh. 14, 11. 12): „Glaubt an mich!“ – so erklärt sich dies aus der veränderten Lage. Dort handelt es sich nicht um den Gegensatz von Gott und Mensch; dort steht Christum allein im Vordergrund, Christus und die Fülle seiner Gaben, welche vollkommen hinreichen müssen, unseren Glauben aufrecht zu erhalten.
V. 45. Und wer mich sieht. „Sehen“ ist hier so viel wie „Kennen“. Um unseren Gewissen, welches sonst bald diesem bald jenem harten Stoße ausgesetzt sein würde, den vollen, ganzen Frieden zu geben, ruft Jesus uns hin zum Vater. Der ist größer als die Welt; deshalb steht der Glaube sicher und fest. Wo aber Christus in Wahrheit erkannt wird, da erstrahlt er in göttlicher Herrlichkeit, und wir wissen ganz genau: der Glaube an ihn ist kein Hangen an einem Menschen, sondern gründet sich auf den ewigen Gott; wer an den im Fleische erschienenen Christus glaubt, vergöttert nicht einen Menschen, sondern betet den lebendigen Gott an. Hast du solchen Glauben, so hege ihn nicht nur beständig im Herzen, sondern gib von dem, was in deinem Herzen ist, auch unverzagt Kunde mit der Zunge, so oft Gott es will!
V. 46. Ich bin kommen in die Welt ein Licht. Um seine Jünger noch beherzter und unternehmender zu machen, preist Jesus noch weiter die Gewissheit des Glaubens. Und zwar bezeugt er zunächst: Ich bin in die Welt gekommen, um ein Licht zu sein, das die Menschen aus aller Finsternis und allem Irrtum herausbringt. Wie erlangen wir denn nun dies herrliche Licht? Jesus sagt es uns mit den Worten: auf dass, wer an mich glaubt usw. Er macht somit allen denen den Vorwurf der Undankbarkeit, welche sein Evangelium recht gut kennen und doch sich von den Ungläubigen nicht scheiden. Je köstlicher es ist, aus der Finsternis herausgerufen zu werden ins Licht, desto weniger Entschuldigung haben Leute, welche, sei es durch Trägheit, sei es durch Nachlässigkeit, das in ihnen angezündete Licht wieder zum Erlöschen bringen. Großes Gewicht liegt in diesen Worten: Ich bin kommen in die Welt ein Licht! Wenngleich er ja von Anfang Licht war, legt er sich doch nicht ohne besonderen Grund hier diesen Namen bei: Jesus ist wirklich dazu gekommen, um den Menschen den Dienst eines Lichtes zu erweisen.
Halten wir einmal die Stufen genau auseinander: Nicht für sich zunächst, sondern zunächst für andere ist er ein Licht; ferner nicht nur für Engel, sondern auch für Menschen; endlich drittens: er ist im Fleische erschienen, um seinen ganzen Lichtglanz erstrahlen zu lassen. „Wer an mich glaubt“ heißt es teils, weil Jesus sämtlichen Gläubigen ohne Ausnahme diese Wohltat angedeihen lassen will, teils, um den Ungläubigen zu sagen: Wenn ihr es nicht anders wollt und vor dem Licht davonlauft, ist es ganz selbstverständlich, dass ihr in Finsternis untergeht! Schleppte man die ganze Weisheit der Welt in ein einziges Menschenhirn zusammen, in diesem ganzen Wust würde sich kein Fünkchen wahren Lichtes finden lassen, - vorausgesetzt, dass Christus dabei ganz aus dem Spiele bleibt, - im Gegenteil, es würde alles ein ungestalteter Wirrwarr sein: Christus allein ist imstande, uns von der Finsternis zu befreien.
V. 47. Wer meine Worte hört usw. Nachdem Jesus von seiner Gnade geredet und die Seinigen zu standhaftem Glaubensmut angefeuert hat, beginnt er, an die Herzen der Widerspenstigen zu klopfen. Immerhin mildert er auch diesmal die Strenge, welche diese gottlosen Menschen damit wohl verdient haben, dass sie so gut wie vorsätzlich Gott verwerfen. Er nimmt davon Abstand, sie zu richten, weil er ja doch gekommen ist, sie alle zu retten. Man beachte, dass Jesus hier nicht mit irgend beliebigen Ungläubigen redet, sondern mit solchen, denen die Lehre des Evangeliums gezeigt worden ist, und die trotzdem wissentlich und willentlich ihn abweisen. Was hält Christus da noch ab, sie zu verdammen? Er hat zeitweilig alles Richten darangegeben. Umso mehr sollen alle Mut bekommen, Buße zu tun. Allen ohne Unterschied bietet er die Seligkeit an. Alle will er in seine weit geöffneten Arme schließen. Indes wird das Gericht dereinst umso schwerer ergehen über die, welche eine so gütige, holdselige Einladung verschmähten. Jesus will sagen: Schaut her! Da stehe ich, um euch alle herbeizurufen. An Richten denke ich gar nicht mehr. Nur das Eine habe ich im Auge: Alle will ich zu mir locken. Und selbst Leute, die zwiefacher Verdammnis wert wären, will ich noch vom Untergange retten! –
Es wird also niemand um dessentwillen verdammt werden, dass er einmal das Evangelium verächtlich ansah, sondern nur der, welcher die Heilsbotschaft, die er dankbar hätte annehmen sollen, endgültig verwarf und mit klarem Bewusstsein statt des Heils das Verderben wählte.
Der Gegensatz von „richten“ ist hier „selig machen“ oder retten. „Richten“ bedeutet folglich in diesem Ausspruche: „Verdammen“. Retten aber ist der besondere und eigentümliche Beruf Christi. Wenn die Ungläubigen des Evangeliums halber eine umso schwerere Verdammnis werden erdulden müssen, so ist das, wie bereits wiederholt bemerkt, nur eine Begleiterscheinung, eine Nebenwirkung der Evangeliumspredigt.
V. 48. Wer mich verachtet usw. Damit die Gottlosen sich nicht in den Traum einwiegen, sie dürften ungestraft Christum verspotten, kündigt er ihnen an, - sie hätten wohl dabei von Schauder erfasst werden müssen, - dass, wenn er auch selbst nichts gegen sie unternimmt, schon ganz allein seine Lehre genügt, sie in die Verdammnis zu stürzen (vgl. 5, 45).
Seine Meinung ist diese: Ich brenne von dem allersehnlichsten Wunsche, euer Retter zu sein. Daher entäußere ich mich meines Rechtes, euch zu verdammen. Mit meiner ganzen Persönlichkeit gebe ich mich dem Berufe hin, zu retten, was verloren ist. Wähnt aber deshalb nur ja nicht, der Hand des richtenden Gottes entronnen zu sein. Selbst wenn ich den Mund gar nicht auftue zu eurer Verdammung, so vollstreckt mein Wort an und für sich, das ihr jetzt mit Verachtung behandelt, das Gericht an euch.
Und nimmt meine Worte nicht auf. Dieser Satzteil erläutert den vorausgehenden. In den Menschen steckt die Heuchelei von Geburt. So ist ihnen nichts leichter, als mit dem Munde zu prahlen: Freilich sind wir bereit, Christum aufzunehmen! Selbst ganz schlechte Menschen behaupten dies oft ganz keck. Deshalb müssen wir es uns wohl einprägen: Christus wird überall da verworfen, wo seine Worte, genau wie sie dastehen, keine Annahme finden. Diejenigen geben Christo nur einen Judaskuss, die ein großes Rühmen von ihm machen, dabei aber mit Hass zurückweisen, was er gesagt hat. Lasst uns lernen, Jesum in seinem Worte zu suchen; darin ist er. Und dann lasst uns ihm den Gottesdienst, den er einzig und allein verlangt, darbringen, nämlich Gehorsam gegen sein Wort.
Das Wort, welches ich geredet habe. Welch eine unvergleichlich hohe Würde bekommt Jesu Wort dadurch, dass er ihm das Richteramt beilegt! Danach wird das jüngste Gericht einfach darin bestehen, dass gefragt wird: Bist du dem Worte Jesu gehorsam gewesen? Christus wird selber den Richterstuhl besteigen, das Urteil aber wird er fällen gemäß dem hier den Menschen gepredigten Evangelium. Eine solche Ankündigung muss den Gottlosen im höchsten Maße schaurig tönen: Dem Verdammungsurteil seiner Lehre, die sie jetzt in unsinnigem Stolze angreifen, werden sie nicht entfliehen können. Jetzt lachten sie darüber: Wer will uns darum strafen? Dann aber wird ihnen das Lachen vergehen. Für die Frommen birgt eben dieser Spruch den reichsten Schatz des Trostes. Mag die Welt sie auch verdammen, sie sollen nicht daran zweifeln: im Himmel ist ihre Erlösung schon beschlossene Sache; denn überall, wo der Glaube an das Evangelium einen Platz im Menschenherzen gefunden hat, kann Gottes Gericht nur zu einem Freispruch führen.
V. 49. Denn ich habe nicht von mir selber geredet. Jesus steht da als Mensch. Damit seine äußere Gestalt der Erhabenheit Gottes nichts wegnehme, verweist er darum alsbald auf den Vater, wie wir es schon wiederholt antrafen. Und sicherlich muss, wenn es frevelhaft ist, auch nur einen Strahl der göttlichen Ehre jemand anders zu übertragen, auch das Wort, das am großen Gerichtstage das Urteil ausspricht, von Gott selber herrühren. Christus macht hier zwischen dem Vater und sich einen Unterschied, - nicht in Anbetracht der Gottheit, sondern in Anbetracht seiner gegenwärtigen menschlichen Niedrigkeit. Es soll niemand seine Lehre für bloße Menschenlehre halten und deshalb unter Gebühr schätzen. Wären menschliche Gesetze und Lehren die oberste Regel und Richtschnur für unser Gewissen, so wäre der Ausspruch Christi unzutreffend: „Mein Wort wird euch richten“. So kann er aber sagen, weil sein Wort nicht aus Menschengedanken stammt, sondern von dem einigen Gesetzgeber (Jak. 4, 12).
V. 50. Sein Gebot ist das ewige Leben. Abermals weist Jesus auf die Frucht seiner Lehre hin, damit sich ihr jedermann umso lieber unterwerfe. Dann ist es freilich auch recht und billig, dass die Gottlosen die Strafe Gottes zu fühlen bekommen, wenn sie sich weigern, ihn als den Urheber ewigen Lebens anzunehmen.