Calvin, Jean - Der Römerbrief - Einleitung
Man könnte den Nutzen des Römerbriefes für die christliche Erkenntnis ausführlich rühmen. Aber wir wollen darauf verzichten. Denn unsere Rede würde an die Hoheit dieses Briefes bei weitem nicht heranreichen und würde darum nur verdunkelnd wirken. Viel besser empfiehlt der Brief sich selbst beim ersten Blick auf seinen Inhalt. Dieser Inhalt nämlich, den wir sofort darlegen wollen, zeigt neben vielen andern Vorzügen vornehmlich die wunderbare Eigenschaft, dass, wer ihn verstanden hat, eben damit den Schlüssel zu allen verborgenen Schatzkammern der Heiligen Schrift empfängt.
Der ganze Brief ist so wohlüberlegt entworfen, dass schon der Eingang wie ein kleines Kunstwerk erscheint. Das werden wir alsbald an manchen Einzelheiten beobachten. Hier sei nur an den Hauptpunkt erinnert, dass bereits der Eingang ungesucht zum Thema des ganzen Briefes hinleitet. Paulus beginnt mit einer Betonung seiner apostolischen Würde (1, 1-15) und wendet sich von diesem Ausgangspunkte wie von selbst zu einem Lobpreis des Evangeliums (1, 16). Vom Evangelium aber kann man nicht reden, ohne des Glaubens zu gedenken. Und damit hat der Apostel Schritt für Schritt seinen eigentlichen Gegenstand erreicht, bei welchem er bis zum Schlusse des 5. Kapitels verweilt: wir werden gerecht gesprochen durch den Glauben. Dies also bezeichnen wir als Hauptthema dieser Kapitel: die Gerechtigkeit des Menschen beruht allein auf Gottes Erbarmen in Christus, welches im Evangelium angeboten und durch den Glauben ergriffen wird. Weil aber die Menschen auf ihren Fehlern einschlafen, sich dabei wohl fühlen und im Selbstbetrug einer eingebildeten Gerechtigkeit einhergehen, so dass sie die Gerechtigkeit des Glaubens nicht begehren, ehe man sie nicht alles Selbstvertrauens beraubt hat; - weil sie andererseits durch die Süßigkeit des Lasters berauscht und in tiefe Sicherheit versenkt erscheinen, so dass sie nicht leicht der Gerechtigkeit nachjagen, wenn sie nicht von dem Schrecken des göttlichen Gerichts getroffen werden: so greift der Apostel die Doppelaufgabe an, die Menschen von ihrer Sünde zu überzeugen und ihre falsche Gemütsruhe zu erschüttern (1, 18 ff.).
Zuerst spricht er im Angesichte der Schöpfung jeglicher Undankbarkeit der Menschen das Urteil (1, 19-32): an dieser Erhabenheit der Werke erkennen sie den Werkmeister nicht; und wenn sie ihn erkennen müssen, so huldigen sie seiner Majestät nicht mit gebührender Ehrfurcht, sondern entweihen und schänden sie mit ihrem eitlen Wesen. So werden sie alle des denkbar größten Verbrechens schuldig, der Gottlosigkeit. Um den allgemeinen Abfall von Gott umso greller zu beleuchten, führt der Apostel eine Reihe von schmachvollen und verabscheuenswerten Lastern vor, denen wir die Menschen allenthalben unterworfen sehen. Hierin liegt ein deutlicher Hinweis für die Abirrung von Gott: denn alle diese Dinge sind Zeichen des göttlichen Zornes, die man bei andern Leuten als bei Gottlosen vergeblich suchen würde. Weil man aber den Juden und auch manchen Heiden, die mit einer Decke äußerlicher Heiligkeit ihr inneres Verderben verhüllten, solche groben Laster nicht aufbürden durfte, und dieselben deshalb der allgemeinen Verdammnis entnommen schienen, so wendet sich der Apostel gegen jene scheinbare Heiligkeit. Und da er jene dürftigen Heiligen vor Menschen nicht zu entlarven vermochte, so zieht er sie vor das Gericht Gottes, vor dessen Augen auch die verborgenen Lüste offen liegen (2, 1-8).
Darauf teilt Paulus die Menschen in ihre Gruppen und stellt Juden und Heiden gesondert vor Gottes Richterstuhl (2, 9 ff.). Den Heiden nimmt er den Anlass, sich mit Unwissenheit zu entschuldigen: denn ihnen diente das Gewissen zum Gesetz und strafte sie hinlänglich (2, 12-16). Die Juden greift er an dem Punkte an, welchen sie als ihr festestes Bollwerk betrachteten: bei dem geschriebenen Gesetz. Wenn man ihnen hieran die Übertretungen zeigte, so konnten sie ja ihre Sündhaftigkeit nicht mehr leugnen. Denn Gottes Wort selbst hatte ihnen das Urteil gesprochen (2, 17-29). Zugleich begegnet Paulus einem nahe liegenden Einwand: dass man nämlich, wenn man die Juden nicht von allen andern unterscheide (3, 1 ff.), den Bund Gottes herabsetze, welcher für sie ein Kennzeichen dafür war, dass sie Gott geheiligt hatte. In dieser Hinsicht wird ausgeführt, dass die Vorzüge des Bundes denen nicht gelten, welche in selbstverschuldeter Untreue abfielen. Freilich bleibt Gottes Verheißung bestehen, und der Bund an sich behält seinen Wert: derselbe ruht aber auf Gottes Erbarmen, nicht auf dem Verdienst der Menschen (3, 1-10). Bezüglich ihrer persönlichen Eigenschaften stehen also die Juden den Heiden gleich. Dass sie alle Sünder sind, wird auf Grund der Autorität der Schrift nachdrücklich behauptet (3, 10-18). Dabei fallen auch einige Bemerkungen über den rechten Gebrauch des Gesetzes (3, 19 f.). Nachdem nunmehr der Menschheit alles Vertrauen auf eigne Tüchtigkeit und aller Ruhm eigner Gerechtigkeit genommen, nachdem ihr die Unerbittlichkeit des göttlichen Gerichts enthüllt, kehrt die Rede zum Hauptthema zurück: dass wir gerecht gesprochen werden durch den Glauben (3, 21-31). Wir hören, worin dieser Glaube besteht, und wie er uns Christi Gerechtigkeit erwirbt. Daraufhin schließt das 3. Kapitel mit jenem gewaltigen Ausruf, welcher alle Ansprüche menschlichen Hochmuts niederschlägt, damit niemand wage, sich wider Gottes Gnade zu überheben (3, 27 f.) Und damit die Juden solche überschwängliche Gnade nicht für die engen Grenzen ihres Volkes allein gegeben wähnten, so spricht der Apostel dieselbe im Vorbeigehen auch den Heiden zu (3, 29 f.).
Das 4. Kapitel knüpft nun die Beweisführung an ein besonderes durchsichtiges, nicht leicht zu verdrehendes Beispiel an: Abraham, der Vater der Gläubigen, wird diesen als Muster und Vorbild vorgestellt (4, 1-5). Wenn er die Rechtfertigung allein durch den Glauben erlangt, dann dürfen wir in seine Fußstapfen treten. Hier wird auch der Gegensatz deutlich: dass die Gerechtigkeit der Werke schwindet, wo man der Gerechtigkeit des Glaubens Raum gibt. Dies bestätigt ferner ein Spruch Davids, welcher die Seligkeit des Menschen allein auf Gottes Erbarmen gründet und damit leugnet, dass die Werke selig machen können (4, 6-8). Darauf verhandelt der Apostel genauer, was er zuvor nur gestreift, dass den Juden kein Vorzug vor den Heiden gebührt, sondern beider Seligkeit auf demselben Grunde ruht, da ja nach Aussage der Schrift Abraham als Unbeschnittener gerechtfertigt ward. Dabei laufen einige gelegentliche Aussagen über die Beschneidung unter (4, 9-12). Dann wird hinzugefügt, dass sich die Verheißung des Heils allein auf Gottes Güte stützt (4, 13-22). Wollte man sie auf das Gesetz gründen, so würde sie dem Gewissen, welches sie doch fest ergreifen muss, keine Ruhe bringen; die Verheißung würde dabei niemals ihr Ziel erreichen. Wer Gottes Gnadenzusage sich aneignen will, muss den Blick von sich selbst weg allein auf Gottes Wahrheit wenden. Er muss Abrahams Nachfolger werden, welcher nicht auf sich selbst sah, sondern auf Gottes Macht. Der Schluss des Kapitels (4, 23-25) bringt uns dieses Vorbild noch dadurch näher, dass die Übereinstimmung der besonderen Lage Abrahams mit den Erfahrungen aller Gläubigen aufgezeigt wird.
Nachdem wir so vorläufig von der Frucht der Gerechtigkeit kosten durften, ergeht sich das 5. Kapitel in lauter weiteren Betrachtungen, welche den Ertrag der Glaubensgerechtigkeit noch deutlicher enthüllen. Wenn Gottes Liebe schon gegen Sünder und Verlorene sich so überschwänglich bewies, dass sie den eingeborenen Sohn für sie dahingab -, wie viel Größeres dürfen wir nun von ihr erwarten, nachdem wir erlöst und mit Gott versöhnt sind (5, 1-11)! Dann werden einander gegenübergestellt (5, 12-21) Sünde und geschenkte Gerechtigkeit, Christus und Adam, Tod und Leben, Gesetz und Gnade. Dies alles versichert uns dessen, dass Gottes unermessliche Güte unsere Sünde mit allen ihren ungeheuren Folgen austilgt. Das 6. Kapitel geht nunmehr zu der Heiligung über, die uns in Christi Gemeinschaft zuteil wird. Das Fleisch neigt ja dazu, sobald es oberflächlich mit der Gnade in Berührung gekommen, mit seinen Fehlern und bösen Lüsten sanft zu fahren, als ob die Arbeit schon ein Ende haben dürfte. Paulus behauptet dagegen, dass man die in Christus geschenkte Gerechtigkeit nicht festhalten könne, wenn man sich nicht auch der Heiligung unterwirft. Er beweist dies durch die Taufe, die uns in Christi Gemeinschaft versetzt: in der Taufe werden wir mit Christus begraben, damit wir, uns selbst abgestorben, durch sein Leben zu neuem Leben erweckt werden. Daraus folgt, dass ohne Erneuerung niemand mit Christi Gerechtigkeit sich decken kann (6, 1-11). Daraus leitet denn der Apostel Mahnungen zur Reinheit und Heiligkeit des Lebens ab (6, 12 ff.): dass wir aus dem Reich der Sünde in das Reich der Gerechtigkeit versetzt sind, muss notwendig bei uns sichtbar werden; die leichtfertige Trägheit des Fleisches, welche bei Christus einen Freibrief für die Sünde sucht, muss überwunden sein. Dabei wird kurz erinnert, dass das Gesetz abgeschafft und also der Neue Bund angebrochen sei, welcher uns mit der Vergebung der Sünden auch den Heiligen Geist bringen sollte.
Im 7. Kapitel beginnt nun die eigentliche Ausführung über den rechten Gebrauch des Gesetzes, worüber wir bisher (3, 20) nur vorläufige Andeutungen empfingen. Wir hören, dass wir vom Gesetz frei sind, weil ja das Gesetz an sich nur zur Verdammnis führen konnte (7, 1-6). Solche Gedanken kann man freilich für eine Lästerung des Gesetzes halten (7, 7 ff.): darum nimmt der Apostel dasselbe nachdrücklichst in Schutz. Durch unsere Schuld sei zur Ursache des Todes geworden, was uns zum Leben gegeben ward. Dabei beobachten wir zugleich, wie durch das Gesetz die Sünde gesteigert wird. Diese Beobachtung gibt dann Anlass, den Kampf zwischen Geist und Fleisch zu schildern, den die Kinder Gottes in sich empfinden, solange sie das Gefängnis dieses sterblichen Leibes umgibt. Sie tragen die Reste der bösen Lust noch in sich, die ihnen fort und fort die völlige Befolgung des Gesetzes wehren.
Das 8. Kapitel ist voll von Trostgründen, welche die erschreckten Gewissen der Gläubigen aufrichten sollen, wenn sie des soeben geschilderten Ungehorsams oder vielmehr noch unvollendeten Gehorsams gedenken. Damit aber die Gottlosen sich nicht einen falschen Trost aneignen möchten, erklärt der Apostel zunächst, dass solche Wohltat nur den Wiedergeborenen gelte, in welchen Gottes Geist sich lebendig beweist (8, 1-14). Zweierlei wird demgemäß eingeschärft: alle, welche dem Herrn Christus durch seinen Geist einverleibt sind, stehen außerhalb jeder Gefahr der Verdammnis, wie groß auch noch immer die Last ihrer Sünde sei; alle aber, die im Fleische verharren, fern von der Heiligung des Geistes, können sich solcher Güter nimmer getrösten. Daraufhin entfaltet der Apostel die ganze Größe unserer Heilsgewissheit (8, 15 ff.): das Zeugnis des Geistes Gottes verscheucht alle Zweifel und jede Furcht. Dazu wird im Voraus gezeigt, dass kein gegenwärtiges Elend, welches dies sterbliche Leben uns auflegt, den sicheren Besitz des ewigen Lebens anfechten und stören könne. Ja, solche Übungen fördern uns im Erwerb der Seligkeit, im Vergleich mit deren Herrlichkeit alles gegenwärtige Elend wie ein Nichts erscheint. Dies bestätigt Christi Beispiel. Er ist der Erstgeborene und der Anführer des Volkes Gottes: darum ist er auch das Urbild, nach welchem wir alle müssen gestaltet werden (8, 29). So krönt der Apostel seine Worte mit jenem herrlichen Lobgesang der Heilsgewissheit, welcher der Macht und der Machenschaften des Satans fröhlich spottet (8, 31 ff.).
Nun wurden aber viele dadurch in Zweifel gestürzt, dass sie die Juden als die ersten Hüter und Erben des Bundes Christus den Rücken kehren sahen. Sie schlossen daraus: entweder müsse der Bund mit Abrahams Nachkommen rückgängig geworden sein, weil dieselben seine Erfüllung verachteten -, oder Christus sei nicht der verheißene Erlöser, weil er gerade das Volk Israel tatsächlich nicht zu erlösen vermochte. So wendet sich der Apostel mit Beginn des 9. Kapitels zur Erörterung dieser Frage. Im Eingang bezeugt er seine Liebe gegen seine Volksgenossen, um dem Verdacht zu begegnen, als sei seine Rede vom Hass eingegeben. Rühmend erkennt er die göttlichen Gaben an, mit welchen Israel geschmückt war (9, 1-5). Erst nach dieser gewinnenden Vorbereitung geht er dazu über, den Anstoß zu beheben, der aus Israels Blindheit sich ergab. Er unterscheidet eine doppelte Art von Abrahams Kindern (9, 6-13): nicht alle Nachkommen nach dem Fleisch gehören der Nachkommenschaft an, welche die Bundesgnade wirklich erben soll. Umgekehrt werden auch solche, die ursprünglich draußen stehen, der Zahl der Kinder durch den Glauben einverleibt. Als Beispiel dafür dienen Jakob und Esau. Dasselbe führt uns freilich auf Gottes Erwählung zurück, von welcher überhaupt die ganze Frage abhängt. Diese Erwählung gründet allein in Gottes Erbarmen, und man wird vergeblich ihren Grund in menschlicher Würdigkeit suchen (9, 14-16). Umgekehrt kann für die Verwerfung, die ja freilich gerecht ist und bleibt, ein höherer Grund als Gottes Wille nicht angegeben werden (9, 17-24). Das Ende des Kapitels zeigt (9, 25 ff.), dass sowohl die Berufung der Heiden wie Israels Verwerfung durch die Weissagungen der Propheten bezeugt sei.
Im 10. Kapitel beginnt der Apostel von neuem mit einer Bezeugung seiner Liebe zu den Juden, und er erklärt, dass sie ihr Verderben durch eitles Vertrauen auf die Werke selbst verschuldet hätten (10, 1-3). Gegen diesen Vorwurf konnten sie sich allerdings durch einen Hinweis auf die Forderungen des Gesetzes rechtfertigen. Aber der Apostel antwortet im Voraus, dass auch das Gesetz uns zur Gerechtigkeit des Glaubens hinleite (10, 4-13). Diese Gerechtigkeit bietet Gott in seiner Güte unterschiedslos allen Völkern an; aber nur diejenigen ergreifen sie, welche der Herr durch seine besondere Gnade erleuchtet. Dass aber eine größere Schar aus den Heiden als aus den Juden dieses Gut empfangen würde, hätten schon Mose und Jesaja geweissagt. Der eine rede deutlich von der Berufung der Heiden, der andere von Israels Verstockung (10, 14-21).
Dabei harrte aber noch immer die eine Frage der Beantwortung: ob nicht kraft des Bundes Gottes doch ein Unterschied zwischen Abrahams Samen und den übrigen Völkern bestünde (11, 1). Zur Lösung dieser Schwierigkeit erinnert der Apostel zuerst daran, dass wir das Werk des Herrn nicht nach dem Augenschein begrenzen dürfen. Denn uns ist es verborgen, ob nicht doch Erwählte vorhanden sind, wo wir nicht vermuten. So hat sich einst Elias getäuscht, als er allen Glauben unter Israel geschwunden wähnte, und es waren doch noch siebentausend übrig (11, 2-4). Zweitens soll uns der Blick auf die Menge der Ungläubigen nicht irremachen, welche das Evangelium hassen (11, 5). Endlich sollen wir wissen, dass Gottes Bund auch für die fleischlichen Nachkommen Abrahams feststehe, allerdings nur bei denen, welche Gottes freie Gnade sich auserwählt (11, 6-12). Dann wendet sich die Rede zu den Heiden (11, 13-24): diese sollen sich nicht über Israel ob seiner Verwerfung erheben und sollen nicht auf die eigne Annahme stolz sein, denn sie sind nur durch Gottes Herablassung erhöht worden, und dies müsste ihnen vielmehr zur Demütigung dienen. Ja, Gottes Gnade sei gar nicht von Abrahams Samen gewichen (11, 25-36): dadurch, dass die Heiden gläubig wurden, sollte Israel nur zur Nacheiferung gereizt werden. Auf diese Weise will Gott sein gesamtes Israel sammeln.
Die drei folgenden Kapitel sind mannigfach verschiedenen, ermahnenden Inhalts. Das 12. gibt allgemeine Vorschriften für das christliche Leben. Das 13. beschäftigt sich zum großen Teil mit der Betonung des Rechts der Obrigkeit. Wir schließen daraus, dass einige unruhige Geister sich die christliche Freiheit nur mit dem Umsturz des staatlichen Lebens verbunden vorstellen konnten. Weil nun feststeht, dass für die Gemeinde Christi kein anderes, als das Gebot der Liebe gilt, so zeigt Paulus, dass dieses Gebot auch den bürgerlichen Gehorsam in sich begreift (13, 1-10). Dann fügt er einige bisher noch nicht berührte Lebensregeln hinzu (13, 11-14). Im nächsten Kapitel gibt er eine Ermahnung, welche damals besonders zeitgemäß war. Eine Gruppe von Christen hing noch mit abergläubischem Eifer an den Zeremonien des mosaischen Gesetzes und nahm den schwersten Anstoß an ihrer Übertretung. Eine andere Gruppe pochte auf die Abschaffung des Gesetzes, trug ihre Verachtung der Zeremonien zur Schau und eiferte wider den Aberglauben. Auf beiden Seiten sündigte man durch Maßlosigkeit. Die Abergläubischen richteten die andern als Verächter des Gesetzes Gottes: diese wiederum machten sich in unziemlicher Weise über die Dummheit der Gegner lustig. So tut der Apostel, was beiden Parteien nötig war: er leitet zur Mäßigung an, warnt die einen vor Hochmut und Selbstgefälligkeit, die andern vor gar zu engherziger Peinlichkeit. Zugleich spricht er als beste Regel für die christliche Freiheit aus, dass sie sich in den Schranken der Liebe und eines erbaulichen Wandels halte (14, 15-19). Und die Schwachen empfangen den trefflichen Rat, sich nichts wider ihr eigenes Gewissen zu erlauben (14, 20 ff.).
Der Anfang des 15. Kapitels wiederholt noch einmal die Hauptregel, das Ergebnis der ganzen Aussprache: die Starken sollen ihre Kraft gebrauchen, um die Schwachen zu festigen. Da aber der Streit über die mosaischen Zeremonien Juden und Heiden beständig von neuem entzweite, so räumt der Apostel jeden Anlass zu Hochmut und Eifersucht aus dem Wege und lehrt beide Teile, ihr Heil auf Gottes Erbarmen allein zu gründen und, auf diesem Grund stehend, von ihrer Höhe herabzusteigen: so sehen sie sich durch die Hoffnung eines gemeinsamen Erbes verbunden und müssen einander in Liebe umfassen. Um eben dieser Lehre ein besonderes Gewicht zu geben, schickt sich Paulus an, die Würde seines Apostelamtes zu rühmen (15, 14 ff.). Er nimmt dabei die Gelegenheit wahr, die Kühnheit zu erklären und zu entschuldigen, die ihn so freimütig seinen Lesern gegenüber als Lehrer auftreten ließ. Sodann macht er ihnen einige Hoffnung auf seinen Besuch, den sie, wie der Eingang des Briefes zeigt, längst erbeten und erwartet hatten. Er gibt auch den Grund für die bisherige Verzögerung an: die Gemeinden von Mazedonien und Achaja hatten ihm die von ihnen gesammelte Kollekte für die armen Gläubigen in Jerusalem anvertraut, um sie an ihren Bestimmungsort zu bringen. Das letzte Kapitel ist fast mit lauter Grüßen ausgefüllt. Nur einige nicht unwichtige Weisungen sind eingestreut, und den Schluss macht ein herrliches Gebet.
Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Römerbrief