Calvin, Jean - Psalm 71.
Inhaltsangabe: Zunächst bezeugt David sein Gottvertrauen um dann den Herrn einerseits als seinen Befreier anzurufen und sich anderseits bei ihm über den Hochmut seiner Feinde zu beklagen. Auch will er sich durch diesen Psalm im Glauben stärken. So rüstet er sich, dem Herrn seine Dankbarkeit zu zeigen.
1 Herr, ich traue auf dich; lass mich nimmermehr zu Schanden werden. 2 Errette mich durch deine Gerechtigkeit, und hilf mir aus; neige deine Ohren zu mir und hilf mir! 3 Sei mir ein starker Hort, dahin ich immer fliehen möge, der du geboten hast, mir zu helfen; denn Du bist mein Fels und meine Burg. 4 Mein Gott, hilf mir aus der Hand der Gottlosen, aus der Hand des Ungerechten und Tyrannen.
V. 1. Herr, ich traue auf dich. Man hält dafür, dass dieser Psalm im Blick auf Absaloms Verschwörung geschrieben wurde. Und weil David (V. 9) seines hohen Alters gedenkt, hat diese Vermutung viel für sich. Weil nun allein der Glaube uns die Tür öffnet, durch die wir zu Gott nahen können, so bezeugt David in gewohnter Weise, dass er nicht bloß mit oberflächlichem Schein betet, sondern dass er in der gewissen Zuversicht, sein Heil ruhe in des Herrn Hand, ernstlich zu ihm seine Zuflucht nimmt. Denn wer sich nach allen Richtungen umtreiben lässt oder seine Hoffnung zerteilt, wer sich ängstlichen Gedanken hingibt oder auf der andern Seite hochfahrend ist und Gottes Hilfe nicht zu bedürfen glaubt, wer ungeduldig mit den Zähnen knirscht und widerspenstig wird, der ist nicht wert, dass der Herr ihm helfe. Die nächsten Sätze stimmen fast wörtlich mit dem Anfang des 31. Psalms überein. Neu ist hier aber der Zusatz (V. 3): dahin ich immer fliehen möge. David will damit erbitten, Gott möge seine Hilfe so bereitstellen, dass er bei jeder drohenden Gefahr eine sichere Zuflucht findet. Er will sagen: Herr, halte dich doch stets zu meiner Verteidigung gerüstet, und wenn ich zu dir fliehe, so begegne mir mit deiner Gnade. – Der du geboten hast, mir zu helfen. Die Erinnerung an diese früher erfahrene Hilfe soll auch für die Zukunft gute Hoffnung geben Bei dem Ausdruck darf man übrigens nicht bloß an die Engel denken. Denn wenn sich Gott auch ihrer Hilfe zum Schutz der Seinen bedient, so hat er doch unzählige Weisen, zu retten. David will also ganz allgemein sagen, dass Gott bezüglich der Rettung der Seinen, die er beschlossen hat, seine Befehle zur rechten Zeit gibt, wenn er an irgendeinem Zeichen seine Gunst handgreiflich offenbart, und dass er bald durch einen bloßen Wink, bald durch Menschen oder andere Kreaturen durchführt, was er bei sich geplant hat. Und auch dies soll in Davids Worten ohne Zweifel liegen, dass Gottes Regiment allein ohne weitere Hilfsmittel vollständig ausreicht. Gott braucht nur zu befehlen, und wir sind gerettet.
V. 4. Mein Gott usw. Obgleich David in der Einzahl von der Hand des Gottlosen spricht, wird er doch an die ganzen Scharen der Feinde denken, die ihn umlagerten. Wir haben schon öfter erinnert, wie viel es für die Zuversicht auf Erhörung ausmacht, dass wir selbst ein gutes Gewissen haben. So können wir freimütig vor Gottes Angesicht klagen, dass die Menschen uns ungerecht und verbrecherisch drücken. Und der Gott, der verheißen hat, ungerecht unterdrückte Leute zu schützen, wird ohne Zweifel unsere Sache freundlich ansehen.
5 Denn du bist meine Zuversicht, Herr, Herr meine Hoffnung von meiner Jugend an. 6 Auf dich hab ich mich verlassen von Mutterleibe an; Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen. Durch dich tönt immer mein Lobgesang. 7 Ich bin vor vielen wie ein Wunder; aber du bist meine starke Zuversicht. 8 Lass meinen Mund deines Ruhmes und deines Preises voll sein täglich.
V. 5. Denn du bist meine Zuversicht. Damit wiederholt David, was er zuvor schon über sein Gottvertrauen bezeugte. Höchstens könnte man sagen, dass jetzt weniger von der Stimmung seines Herzens, als von deren gutem Grunde die Rede wäre. So wäre der Sinn, dass die erfahrenen Wohltaten des Herrn dem David reichlichen Anlass zu guter Hoffnung geben. Kann er doch ganz und gar seine Zuversicht auf Erfahrung gründen und aussprechen, dass ihm schon von Jugend auf Zeugnisse der Gnade gegeben wurden, aus denen er lernen durfte, wie man sich allein auf Gott verlassen kann. Denselben Gedanken verfolgt der nächste Vers noch weiter rückwärts. Zu den Wohltaten, die David im frühesten Lebensalter erfuhr, fügt er diejenigen, mit denen ihn Gott umgab, bevor er ans Licht geboren ward. Ein ähnliches Bekenntnis lasen wir Ps. 22, 10, wo ebenfalls Gottes wunderbare Kraft und unausdenkliche Güte bei der Geburt des Menschen gerühmt wird. Wenn wir an diese Vorgänge nicht gewöhnt wären, müssten sie uns ganz unglaublich scheinen. So aber dünken uns Gottes Wunder wegen ihrer steten Wiederholung gewöhnlich und gemein. Wenn aber der heilige Geist darauf hinweist, dass Gottes denkwürdige Gnade schon in unserem Geborenwerden sich kund tut, so liegt darin ein nur zu berechtigter Tadel unserer Undankbarkeit. Mag bei unserer Geburt der mütterliche Organismus und menschliche Hilfe mancherlei ausrichten, so müssen wir doch fragen: was sollte aus uns werden und wie sollte man auf die Erhaltung des Lebens hoffen dürfen, wenn Gott uns nicht mit seiner Hand hielte und uns in seinen Schoß nähme? Ist doch der Austritt aus dem Mutterleib der Eintritt in eine Welt tausendfachen Todes. Darum redet David mit Recht den Herrn an: Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen. Damit stimmt auch der Schlusssatz zusammen: Durch dich tönt immer mein Lobgesang. Dies will besagen, dass der Herr in ununterbrochener Reihe stets neuen Anlass gegeben hat, zu loben und zu danken.
V. 7. Ich bin vor vielen wie ein Wunder. Jetzt wendet sich David zur Klage darüber, dass er wegen des unermesslichen Elends, das ihn drückte, zum Gegenstand allgemeinen Abscheus geworden war. Freilich scheint es ein Widerspruch, dass David in einem Atemzuge Gottes fortwährendes Wohltun rühmt, und doch behauptet, dass sich die Menschen über seine jämmerliche Lage verwundern. Wir entnehmen aber daraus die überaus nützliche Lehre, dass auch eine Last von Elend ihm den Geschmack der göttlichen Güte nicht nehmen konnte. War er auch jedermann verhasst, so vermochte doch keine Finsternis die Erinnerung an das erfahrene Gute auszutilgen, die wie eine zum Glauben hinleitende Leuchte in seinem Herzen verblieb. Dass er wie ein „Wunder“ ist, deutet auf eine außergewöhnlich unglückliche Lage: denn da man allgemein weiß, mit wie viel Elend das Menschenleben angefüllt ist, so wundert und entsetzt man sich nur bei ganz erschütternden Erfahrungen. Umso lobenswerter und vorbildlicher ist die Standhaftigkeit, welche David bewies: keine Schmach bricht ihn, sondern so viel die Welt ihn verwirft, so viel stützt er sich auf seinen Gott. Dass er „vor vielen“ wie ein Abscheu dasteht, lässt uns ersehen, dass die Augen des ganzen Volkes in seinem Unglück auf ihn gerichtet waren. Vielleicht aber bezeichnet das hebräische Wort nicht „viele“, sondern „große“ oder vornehme Leute. Dann musste es besonders erschütternd wirken, dass Leute von Einsicht, Urteil und Ansehen sich in dieser Weise gegen einen elenden Menschen stellten. Doch alsbald (V. 8) redet David, als wäre sein Gebet schon erhört: er bezeugt, dass er in alle Zukunft sich dankbar erweisen will. Und nun sich desto freudiger zu guter Hoffnung aufzuschwingen, verspricht er, dass er mit vollem Munde Gottes Lob singen will, nicht bloß einmal, sondern täglich, d. h. mit unermüdlicher Beharrlichkeit.
9 Verwirf mich nicht in meinem Alter; verlass mich nicht, wenn ich schwach werde. 10 Denn meine Feinde reden wider mich, und die auf meine Seele lauern, beraten sich miteinander, 11 und sprechen: Gott hat ihn verlassen; jaget nach und ergreift ihn, denn da ist kein Erretter. 12 Gott, sei nicht ferne von mir; mein Gott, eile mir zu helfen! 13 Schämen müssen sich und umkommen, die meiner Seele zuwider sind; mit Schande und Hohn müssen sie überschüttet werden, die mein Unglück suchen.
V. 9. Verwirf mich nicht in meinem Alter. Weil David bisher etwas davon sagen konnte, dass Gott sein Leben von den ersten Tagen an umfangen, dass er ihn im Knabenalter erhalten und dann während seines ganzen Lebenslaufs gehütet habe, so wirft er sich auch jetzt als ein müder Greis in seinen väterlichen Schoß. Denn je mehr unsere Kräfte schwinden, und also die bittere Notwendigkeit uns treibt, den Herrn zu suchen, umso mehr dürfen wir hoffen, dass er geneigt sein werde, uns zu helfen. Der Hauptinhalt seines Gebets ist der: Herr, der du mich gehalten hast, da ich in der Blüte meiner Kraft war, verlass mich doch jetzt nicht, da ich schon schwach und hinfällig werde; sondern je mehr ich deiner Hilfe bedarf, desto mehr möge mein Mangel dein Erbarmen erregen. Dieser Vers legt die Vermutung nahe, dass der Psalm aus Anlass der Verschwörung Absaloms gedichtet wurde. Welch ein schreckliches und ergreifendes Schauspiel ist es doch, wie nicht bloß das gemeine Volk sondern auch die Vornehmen ihre Augen von David wie von einem Scheusal abwandten, als der Sohn den Vater aus seinem Königtum vertrieben hatte und ihm durch die Wüste nachjagte, um ihm den Tod zu bereiten.
V. 10. Denn meine Feinde reden wider mich. Auch der Umstand soll den Herrn zum Erbarmen bestimmen, dass die Gottlosen so zügellos wider David wüten, weil sie ihn von Gott selbst verstoßen und verlassen glauben. Wissen wir doch, wie auch den schlechtesten Menschen der Mut bis zur Frechheit wächst, wenn sie meinen dürfen, Gott kümmere sich nicht darum, dass sie unschuldige Leute quälen. Es macht sie nicht bloß die Hoffnung, straflos zu bleiben, sicher, sondern sie rühmen sich sogar ihres Erfolgs, wenn sich ihrer ungezügelten Laune kein Hindernis entgegenstellt. Was damals dem David geschah, ist fast eine gewöhnliche Erfahrung der Kinder Gottes: die Gottlosen erlauben sich alles wider sie indem sie sich einreden, dass Gott sie ihnen zur Beute überlassen habe. Weil sie nämlich ihr Urteil über Gottes Gnade sich lediglich nach dem gegenwärtigen Stand des Glücks bilden, so wähnen sie, dass alle, denen er Leiden zuschickt, von ihm vergessen, verlassen und verworfen seien. Darum treiben und ermutigen sie sich gegenseitig zu allerlei bösartigen Unternehmungen, weil der Unglückliche doch in alle Zukunft keinen Rächer finden werde. Dennoch soll ihre freche Selbstüberhebung auch uns wiederum Mut machen, weil der Herr für seine Ehre sorgen muss und durch die Tat beweisen wird, was er so oft versprochen hat, dass er den Armen und Bedrängten Hilfe bringen werde. Und nicht etwa kann es die Schuld der Gottlosen mindern, dass sie in törichter Einbildung sich Straffreiheit von Gott versprechen: denn sie tun ja dem Herrn eine doppelte Schmach an, wenn sie ihm absprechen, was zu seinem eigentlichsten Wesen und Wirken gehört.
V. 12. Gott, sei nicht ferne usw. Welch eine schwere Anfechtung es war, dass Davids Feinde ihn als einen vom Herrn verworfenen Menschen bezeichneten, lässt sich kaum aussprechen. Denn sie redeten so nicht in unüberlegter Weise, sondern gaben sich den Anschein, alles wohl erwogen zu haben und nun ein wohlbegründetes Urteil zu sprechen. Es gehörte heldenhafte Tapferkeit dazu, dass David sich über ihre verkehrten Urteile hinwegsetzte und trotzdem auf Gottes Gnade traute, auch zu ihre seine vertraute Zuflucht nahm. Wenn er sagt: „mein Gott“, so ist dies ein Schild, mit welchem er sich gegen den schweren und harten Angriff schützt. Und indem er für sich um Gottes Hilfe fleht, bittet er zugleich darum (V. 13), dass seine Feinde in Schande versinken und ganz zugrunde gehen möchten. Allerdings ließe sich der Satz auch als zuversichtliche Aussage einer gewissen Zukunft deuten, sodass sich nun an das Gebet ein Triumphruf schlösse. Näher liegt es aber, darin noch eine Fortsetzung des Gebets zu sehen.
14 Ich aber will immer harren, und will immer deines Ruhmes mehr machen. 15 Mein Mund soll verkündigen deine Gerechtigkeit, täglich dein Heil, die ich nicht alle zählen kann. 16 Ich werde einhergehen in der Kraft des Herrn; ich preise deine Gerechtigkeit allein.
V. 14. Ich aber will immer harren usw. Wiederum hat sich David zu sieghafter Stimmung hindurch gerungen und denkt schon daran, seinen Dank zu erstatten. In einer Zeit, da die Gottlosen über seine Einfalt spotten, hofft er sich durch alle Bedrängnisse hindurch. Mochte sich noch kein Ausweg zeigen, mochten die Gottlosen nicht ablassen, in ihrem Stolz seiner gläubigen Zuversicht zu spotten, so beschließt er doch, dass er harren will. Darin besteht der Glaube seine Probe, dass man allein auf Gottes Verheißung sich gerichtet hält und sich durch ihr Licht durch die dichteste Finsternis der Leiden führen lässt. Was es also hier heißt, zu hoffen, muss man nach den Kämpfen ermessen, welche David zu bestehen hatte. Wenn er hinzufügt: ich will deines Ruhmes mehr machen, so lässt er ersehen, wie sicher er über den glücklichen Ausgang ist. Es ist, als wollte er sagen: Herr, da du mich bisher gewöhnt hast, Wohltaten von dir zu empfangen, so zweifle ich nicht, dass immer neue Gnadengaben mir neuen Stoff geben werden, deine Gnade zu rühmen. Welches Dankopfer aber David dem Herrn bringen will, sagt er sodann (V. 15) genauer: er will für alle Zukunft Gottes Gerechtigkeit und sein Heil verkündigen. Schon öfter haben wir gesagt, dass Gottes Gerechtigkeit nicht diejenige Eigenschaft bedeutet, kraft deren er einem jeden vergilt, wie er es verdient, sondern die Treue, die er damit beweist, dass er die Seinen hegt, schützt und errettet. Gottes „Heil“, d. h. das Heil, welches er schafft, wird zur Gerechtigkeit gefügt, wie die Wirkung zur Ursache: denn David war überzeugt, dass er nur darum gerettet wurde, weil Gott gerecht ist und sich selbst nicht verleugnen kann. Und weil er so oft, auf so mancherlei Weise und so wunderbar gerettet ward, eben darum will er in alle Zukunft Gottes Gnade eifrigst rühmen. Den angeschlossenen Satz: die ich nicht alle zählen kann, gegensätzlich aufzulösen: „obgleich ich sie nicht alle zählen kann“, empfiehlt sich nicht. Vielmehr wird die Meinung sein, dass die unzählbaren Wohltaten, mit denen Gott uns geleitet, umso mehr unser Gemüt entzünden müssen, sein Lob zu singen. Mögen wir dem einen oder anderen Gnadenerweis gegenüber vielleicht kalt und gleichgültig bleiben, so wäre es doch ein Zeichen größter Undankbarkeit, wenn uns nicht ihre unermessliche Menge aufweckte. Wir wollen also lernen, nicht nur leichthin und gleichsam widerwillig den Geschmack der göttlichen Güte zu genießen, sondern unsere Empfindungen weit zu machen, damit wir sie in ihrem ganzen Umfang fassen und uns dadurch zur Bewunderung hinreißen lassen.
V. 16. Ich werde einhergehen in der Kraft des Herrn. Dieses „Einhergehen“ beschreibt einen festen und bleibenden Stand. Gewiss erhalten die Gläubigen sich nicht ohne Mühe aufrecht, noch fliegen sie immer mit frischer Kraft, sondern seufzen oft unter ihrer Müdigkeit: aber weil sie trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten mit unbesiegtem Mut überwinden, weil sie nicht zurückweichen noch sich vom rechten Wege abdrängen oder durch Verzweiflung erdrücken lassen, so kann von ihnen gesagt werden, dass sie stetig fortschreiten, bis sie das Ende ihres Laufs erreichen. David rühmt also, dass die Kraft des Herrn und seine Hilfe ihn nie verlassen werde, bis er zum Ziel gelangt. Weil aber bei unserer Schwachheit nichts schwieriger und seltener ist als das Ausharren, sammelt er alle seine Gedanken und richtet sie allein auf Gottes Gerechtigkeit. Wenn er diese Gerechtigkeit allein preisen will, so gibt er aller falschen Zuversicht, durch welche fast die ganze Welt sich umtreiben lässt, den Abschied und birgt sich ganz in Gottes Schutz, ohne sich durch eigne Einbildungen herumziehen zu lassen. Augustin gebraucht das Wort: „Ich preise deine Gerechtigkeit allein“, ungezählte Male, um alles Verdienst der Werke umzustoßen. Und in der Tat steht Gottes Gerechtigkeit, die uns aus Gnaden geschenkt wird, im ausschließenden Gegensatz zur eigenen Gerechtigkeit, mit der wir etwas verdienen könnten. Doch steht davon an unserer Stelle eigentlich nichts. David will einfach sagen, dass er sich gewisse Rettung nicht von seinen eigenen Plänen und Anstrengungen, nicht von seiner Tapferkeit oder irgendwelchen Hilfsmitteln verspricht, sondern dass er sich allein vor Augen stellt, wie Gott gerecht ist und ihn darum unmöglich verlassen kann. Denn die Gerechtigkeit Gottes ist hier nicht jene Gnadengabe, durch die er sich mit den Menschen aussöhnt und ihnen ein neues Leben schenkt, sondern, wie wir schon sagten, seine Treue in der Erfüllung seiner Verheißungen, wodurch er sich recht und wahrhaftig gegen seine Verehrer zeigt. Heften wir uns nicht ganz fest und mit allen Sinnen an diese Gerechtigkeit Gottes, so weiß der Satan tausend Künste, uns in eitle Täuschungen hineinzulocken. Lassen wir uns mit allerlei Hoffnungen ein, so ist es fast unausbleiblich, dass wir ganz wankend werden. Wer sich mit Gottes Gnade nicht zufrieden gibt und auch nur die geringste andere Stütze hinzufügt, muss zu Falle kommen und dadurch anderen den Beweis liefern, wie trügerisch alle Stützen dieser Welt sind, durch die man Gottes Hilfe ergänzen will. Wenn nun David schon seinen äußeren Lebensstand nicht anders aufrecht erhalten konnte, als dadurch, dass er jede Zuversicht auf fremde Dinge fahren ließ und sich nur auf Gottes Gerechtigkeit stützte, so werden wir vollends im inneren und geistlichen Leben alle Festigkeit verlieren müssen, wenn wir uns nur im Geringsten von Gottes Gnade entfernen. Jede Teilung zischen unserm freien Willen und Gottes Gnade muss unsre arme Seele zu Fall bringen.
17 Gott, du hast mich von Jugend auf gelehret, und bis hierher ich deine Wunder. 18 Auch verlass mich nicht, Gott, im Alter, wenn ich grau werde, bis ich deinen Arm verkündige Kindeskindern, und deine Kraft allen, die noch kommen sollen. 19 Gott, deine Gerechtigkeit ist hoch, der du große Dinge tust. Gott, wer ist dir gleich?
V. 17. Gott, du hast mich von Jugend auf gelehret. Immer wieder spricht David aus, wie vielen Dank er dem Herrn für seine Wohltaten schuldet nicht bloß um sich zur Dankbarkeit zu treiben, sondern auch um seine Hoffnung für die Zukunft zu stärken, wie dies aus dem nächsten Vers deutlich hervorgeht. Dass uns Gott „lehret“, geschieht sowohl durch sein Wort, als durch seine Taten, und hier ist von dem Letzteren die Rede: denn von Jugend auf durfte David an immer neuen Erfahrungen lernen, dass nichts besser ist, als sich auf Gott allein verlassen. Und er bezeugt, dass er, um nicht durch Undankbarkeit sich weiterer göttlicher Wohltaten unwert zu machen, immer ein Herold der wunderbaren Taten des Herrn sein wolle. In diesen Zusammenhang fügt sich auch die Bitte ein (V. 18): verlass mich nicht im Alter. Der Gedankengang ist der: Mein Gott, der du dich von Anbeginn so freundlich zu mir gestellt hast, du wirst doch jetzt nicht, da du die Abnahme meiner Kraft siehst, mir deine hilfreiche Hand entziehen? So sollen auch wir allewege den Schluss ziehen, dass der Gott, der uns schon in den ersten Lebenstagen mit seiner Liebe umfing, uns mit seiner Freundlichkeit durch die Zeit der Jugend geleitete, und während unsers ganzen Lebenslaufs mit seinen Wohltaten nicht aufhörte, gar nicht anders kann, als bis zu unserm letzten Augenblick in der gleichen Weise fortfahren. Diese Schlussfolgerung liegt in dem Wörtlein „auch“: Gott kann sich nicht plötzlich anders gegen uns stellen, weil seine Güte unausschöpflich und er nicht veränderlich ist, wie ein Mensch. Und noch einen andern Grund führt David an, um dessen willen sein Gebet erhört werden muss. Würde er jetzt in seinem Greisenalter ohne Hilfe bleiben, so würde dies auch den Ruhm der göttlichen Gnade schmälern, die ihn bis dahin trug. Ließe Gott uns seine Gnade nur flüchtig schmecken, um sie dann zurückzuziehen, so würde man ihrer nur für einen Augenblick gedenken. Würde er aber jemanden durch eine Reihe von Wohltaten auszeichnen und doch im letzten Augenblick seines Lebens verlassen, so würde auch dies nicht zur Empfehlung seiner Freigebigkeit dienen. Demgemäß bittet David um Hilfe bis zum letzten Ende, damit er Kindern und Kindeskindern den immer gleichen Fluss der Gnade Gottes rühmen und noch im Tode bezeugen könne, dass Leute, die im Glauben ihre Zuflucht bei Gott suchen, sich niemals betrogen sehen. Der Hinweis auf Gottes Arm und Kraft, stellt uns vor Augen, wie der Herr in Davids Rettung in ganz ungewöhnlicher Weise seine treue Gerechtigkeit kundtat.
V. 19. Deine Gerechtigkeit ist hoch. Mit diesen Worten verfolgt David den gleichen Gedanken noch weiter. Bemerkenswert erscheint, dass die Gerechtigkeit Gottes, deren Wirkungen nahe und offensichtlich sind, doch ihre Stätte in erhabener Höhe hat, weil sie für unsern Verstand unbegreiflich ist. Wollten wir sie nach unserm winzigen Maßstab messen, so würde die geringste Anfechtung uns zugrunde richten. Wollen wir also ihr einen Zugang offen halten, damit sie uns retten und wir sie in ihrer ganzen Weite aufnehmen können, so müssen wir unser Gemüt nach allen Seiten, nach oben und nach unten weit machen. Eben darauf deutet die Anrede bei Gott: der du große Dinge tust. Denn, wenn wir der erkannten Gotteskraft das rechte und gebührende Lob zukommen lassen, wird uns niemals der Anlass zu guter Hoffnung fehlen. Endlich muss uns die Empfindung der Güte Gottes so tief rühren, dass sie uns zur Bewunderung fortreißt: Gott, wer ist dir gleich? So wird es denn geschehen, dass unser Herz, welches sonst in sündhafter Unruhe umgetrieben ward, in Gott allein Ruhe findet. Denn wenn irgendeine Anfechtung uns begegnet, machen wir alsbald aus der Mücke einen Elefanten, ja, wir fahren hohe Berge auf, über welche Gottes Hand nicht zu greifen vermag. So denkt unser arger Sinn Gottes Macht in enge Grenzen eingeschlossen. Darum zielt Davids Ausruf darauf, uns den Glauben zu lehren, der hindurchbricht und, wie es denn allein richtig ist, Gottes Macht höher einschätzt als alle Hindernisse. Denn wenn auch jedermann mit Worten bekennt, dass dem Herrn keiner gleich ist, so ist unter hundert doch kaum einer bis zum tiefsten Herzensgrunde davon überzeugt, dass es völlig genug ist, ihn zum Helfer zu haben.
20 Denn du lässest mich erfahren viel und große Angst, und machst mich wieder lebendig, und holest mich wieder aus der Tiefe der Erde herauf. 21 Du machest mich sehr groß und tröstest mich wieder. 22 So danke ich auch dir mit Psalterspiel für deine Treue, mein Gott; ich lobsinge dir auf der Harfe, du Heiliger in Israel. 23 Meine Lippen und meine Seele, die du erlöset hast, sind fröhlich und lobsingen dir. 24 Auch dichtet meine Zunge täglich von deiner Gerechtigkeit. Denn schämen müssen sich und zu Schanden werden, die mein Unglück suchen.
V. 20. Denn du lässest mich erfahren usw. David setzt es gleicher weise auf Gottes Rechnung, dass er befreit wurde, wie dass sein Rat und Wille ihm all dies schwere Übel auferlegte. Seine Absicht ist, durch diese Gegenüberstellung Gottes Gnade in helles Licht zu setzen. Hätte er stets gleichmäßige Tage des Glücks genießen dürfen, so wäre dies schon Grund genug zur Danksagung gewesen: aber er hätte nichts davon erfahren, was es heißt, durch Gottes unglaubliche Macht aus dem Rachen des Todes gerissen zu werden. Denn bis zu dieser Tiefe muss man hinabsteigen, damit Gott als Erlöser erscheine. Da wir ohne Empfindung und Verstand geboren werden, so kann der erste Anfang unseres Lebens uns nicht deutlich machen, dass Gott sein Urheber ist. Aber wenn er uns in verzweifelter Lage zu Hilfe kommt, so wird diese unsre Auferstehung uns zum herrlichen Spiegel seiner Gnade. Darum muss es noch zum höheren Ruhme der Wohltat Gottes dienen, dass David in einen tiefen Abgrund versunken war, als des Herrn Hand ihn zum Lichte emporzog. Und er rühmt nicht nur, dass er durch Gottes Wirken gerettet ward, sondern fährt sogar fort (V. 21): Du machest mich sehr groß. Der Satz und tröstest mich wieder – könnte buchstäblich übersetzt werden: „und wendest dich und tröstest mich.“ So sehen wir deutlich, dass alles auf Gottes Vorsehung zurückgeht und nichts durch Zufall geschah: Gott wendete sich ab und wendete seine Gnade dem David wiederum zu, sodass sein Geschick sich eben danach wandelte.
V. 22. So danke ich auch dir. Jetzt bricht David in einen dankbaren Lobgesang aus: denn er versteht, dass der Herr den Seinen eben darum so freundlich hilft, damit sie seine Güte rühmen. Dass er mit Psalterspiel und auf der Harfe singen will, ist eine Anspielung an den damals geläufigen Gottesdienst mit seinem Schattenwerk, wie es zur Erziehung des Volkes unter dem Gesetz diente. Wir sollen dergleichen in unserm öffentlichen Gottesdienst nicht haben. Für privaten Bedarf sind musikalische Instrumente unverwehrt: aus den Gotteshäusern verbannt sie aber ein klarer Spruch des heiligen Geistes; denn Paulus will (1. Kor. 14, 13), dass man nur mit verständlicher Sprache danksage oder bete. Dass David sich durch Gottes Treue gerettet weiß, ist ein Ausdruck dafür, dass er den Lohn für seine Hoffnung empfing. Gottes Verheißungen und seine Treue, sie zu erfüllen, sind unzertrennlich mit einander verbunden. Wenn wir aber nicht an Gottes Wort uns klammern, so werden alle seine Wohltaten uns unverständlich sein. Nur wenn sein Wort voranleuchtet, empfangen wir den rechten Anreiz zum Gebet wie zur Danksagung. Im nächsten Vers spricht David noch deutlicher aus, dass sein Dank gegen Gott weder heuchlerisch noch oberflächlich sein soll, sondern dass er mit ernstlichem Eifer diese Pflicht der Frömmigkeit erfüllen will. Seine Ausdrucksweise zeigt also, dass er keine größere Freude kennt, als dem Herrn zu lobsingen. Welch unheilige Freude ist es, wenn man Gottes vergisst und sich zum guten Fortgang seiner Sachen nur Glückwünsche sagt! In dieser Gedankenrichtung bewegt sich auch der letzte Vers: keine Freude ist wirklich süß und erstrebenswert, wenn sich nicht das Lob Gottes mit ihr verbindet; und das ist die fröhlichste Frucht aller Freude, dass man seinen Erlöser mit Lobgesängen preist.
Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter