Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 11.
V. 1. Es lag aber einer krank. Zu einer anderen Geschichte geht der Evangelist über. Er will ein besonders denkwürdiges Wunder erzählen. Außer dem, dass Christus in der Auferweckung des Lazarus eine hervorragende Probe göttlicher Kraft ablegte, hat er uns darin auch ein lebensvolles Bild unserer zukünftigen Auferstehung vor die Augen gestellt. Dies war sozusagen der Gipfelpunkt seiner Taten und ein hochwichtiger Anhang seines gesamten Wirkens. Schon nahte ja die Zeit seines Todes. Deswegen ist es nicht zu verwundern, dass er bei dieser Tat in hervorragendem Maße seine Herrlichkeit erstrahlen ließ. Er wollte, dass seine Jünger die Herrlichkeit ihres Meisters in lebhaftestem Andenken behielten. So drückte er gewissermaßen mit diesem Wunder auf alle vorhergegangenen sein Siegel. Christus hatte schon andere Toten auferweckt. Jetzt zeigt er seine Macht an einem bereits in Verwesung übergegangenen Leichnam. Die näheren Umstände, welche dazu beitragen, die Herrlichkeit Gottes bei diesem Wunder umso gewaltiger hervortreten zu lassen, sollen unten bei Besprechung der einzelnen Verse zur gebührenden Geltung kommen. Wenn Johannes von Lazarus sagt, er habe in dem Flecken Bethanien, in dem Maria und Martha wohnten, krank gelegen, so geht wohl daraus hervor, dass Lazarus unter den Christen nicht so bekannt war, wie die Schwestern. Jene frommen Jüngerinnen pflegten Christus gastlich aufzunehmen (Lk. 10, 38). Irrtümlicher Weise hat man die bethanische Maria mit der großen Sünderin verwechselt (Lk. 7, 37). Der Anlass dazu war die Salbung, die jede der beiden einmal vollzogen hat, und zwar die Sünderin in Jerusalem, Maria dagegen in Bethanien.
V. 2. Die den Herrn gesalbt hat. Dies ist nicht der Ton des Erzählers, sondern eines Mannes, der seine schon kundigen Leser daran erinnern will: dies ist die Maria, welche nachmals den Herrn salbte, und um deren willen das Murren unter den Jüngern sich erhob (Mt. 26, 7).
V. 3. Den du lieb hast, der liegt krank. Die Botschaft war kurz; doch konnte Jesus mit Leichtigkeit daraus erkennen, was die beiden Schwestern wünschten. In diese Klage kleiden sie die schüchterne Bitte ein, er möchte doch kommen und helfen. Sicherlich sind uns auch ausführlichere Bittgebete nicht verwehrt. Die Hauptsache bleibt aber, dass wir überhaupt unsere Sorgen, Nöte und Bekümmernis Gott aufs Herz legen, damit er uns ein Heilmittel schenke. So machen es die Schwestern bei Christo: vertraulich setzen sie ihm ihre Not auseinander und hoffen nun, dass er sie lindere. Bemerke wohl, was ihnen Mut macht, um Hilfe zu bitten: es ist die Liebe Christi. Wer recht betet, der stützt sich immer darauf. Wenn Gott liebt, dem hilft er ganz gewiss auch noch heute, denn Lieben und im Stiche lassen reimt sich nicht zueinander.
V. 4. Die Krankheit ist nicht zum Tode. Mit dieser Antwort wollte Jesus seine Jünger beschwichtigen. Sie sollten sich nicht darüber beunruhigen, wenn sie ihn ruhig dort bleiben sahen, während der Freund in der Ferne in Gefahr schwebte. Damit sie sich nicht um des Lazarus Leben ängstigen, sagt er, die Krankheit sei nicht zum Tode, und verheißt sogar, sie solle seinen Ruhm vermehren helfen. Wenn Lazarus nun aber doch starb, so hat Christus, weil er ihn ja kurz danach wieder ins Leben zurückrief, diesen Ausgang ins Auge gefasst und von der Krankheit gesagt, sie führe nicht zum Tode.
Zur Ehre Gottes, von der hier Jesus redet, geschieht ja im Grunde alles, - der Tod der Gottlosen so gut, wie die Rettung der Frommen. In diesem allgemeinen Sinne braucht Jesus hier aber diese Wendung nicht, sondern er hat zunächst an die Ehre Gottes gedacht, insofern sie aufs innigste mit seinem besonderen Amte in Verbindung steht. In den Wundern Christi stellt sich die Macht Gottes nicht in furchtbarer, sondern in wohltätiger und lieblicher Weise dar. Wenn Jesus also in Abrede stellt, dass eine Todesgefahr vorhanden sei, wo er seine und des Vaters Ehre offenbaren will, so ist zu beachten, wozu der Vater ihn gesandt hat: er soll retten, nicht verderben. Von großem Gewicht ist die Zusammenstellung: zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde. Wir ziehen daraus den Schluss: Gott will in der Person seines Sohnes solche Anerkennung finden, dass er alle Ehre, die er für sich beansprucht, dem Sohne erwiesen haben will (Vgl. 5, 23). Deshalb, wenn Mohammedaner und Israeliten behaupten, sie erwiesen Gott Verehrung, während sie gleichzeitig Christum schmähen, unternehmen sie es vielmehr, Gott von Gott loszureißen.
V. 5 u. 6. Jesus aber hatte Martha lieb. Wenn er zwei Tage lang sich noch jenseits des Jordans aufhält, als wäre ihm daran, ob Lazarus lebt oder stirbt, wenig gelegen, so scheint das schlecht zu seiner Liebe zu dem Kranken und seinen Schwestern zu stimmen. Wahre Liebe bringt die Menschen in Bewegung. So sollte man denn auch meinen, Jesus müsste sich alsbald nach Bethanien aufmachen. Aber sein Zögern gibt uns eine Lehre: Christus ist das getreue Abbild der göttlichen Gnade selbst; folglich sagt er uns durch sein Verhalten: Beurteilt nur nicht die Liebe Gottes nach den äußeren Umständen, in denen ihr euch augenblicklich befindet! Auch wo man ihn bittet, hilft er in vielen Fällen nicht gleich; er will dann uns noch mehr ins Gebet treiben, wie haben vielleicht noch nicht dringend genug gebetet, oder er will uns in der Geduld üben und uns an Ergebung und Gehorsam gewöhnen. Wenn gläubige Christen Gott um Hilfe anrufen, so müssen sie lernen, im Gebet nicht nachzulassen, auch wenn Gott nicht so rasch, wie es nötig scheint, mit seiner starken Hand ihnen beisteht. Oft wird er säumen; doch ist das niemals ein Zeichen dafür, dass er schläft oder die Seinigen vergisst. Jedenfalls ist daran festzuhalten: wen Gott einmal lieb hat, den will er auch erretten.
V. 7. Darnach spricht er usw. Jetzt endlich gibt Jesus zu erkennen, dass er sich um den Lazarus kümmert. Die Jünger mochten schon gedacht haben, dass er den Lazarus vergessen habe, oder dass ihm wenigstens sein Ergehen nicht besonders wichtig sei. Jetzt aber fordert er sie auf, über den Jordan nach Judäa zu ziehen.
V. 8. Meister, jenes Mal wollten die Juden dich steinigen. Die Jünger suchen den Herrn von der Reise abzuschrecken, vielleicht nicht so sehr seinet-, als ihretwegen. Jeder ist bange für sein Leben. Ihnen allen droht Gefahr. Natürlich schämen sie sich, es einzugestehen, dass sie sich gern dem Kreuze entziehen möchten. So geben sie denn vor, da sich das besser anhört, sie seien um das Leben ihres Meisters besorgt. Das Gleich wiederholt sich alle Tage! Man verlässt den Weg der Pflicht nur aus Angst vor dem Kreuz und schützt allerlei Gründe für seine Pflichtvergessenheit vor, damit es nur niemand merken soll, wie weich man gegen sich ist. Dann sieht es wenigstens so aus, als sei man wohl berechtigt, einmal Gott den schuldigen Gehorsam zu versagen.
V. 9 u. 10. Sind nicht des Tages zwölf Stunden? usw. Macht jemand in finsterer Nacht eine Reise, so ist es gar nicht wunderbar, wenn er sich immer wieder stößt oder einen verkehrten Weg einschlägt oder ausgleitet. Solche Gefahren sind bei Tage nicht vorhanden. Da zeigen die Sonnenstrahlen den Weg. Dieselben Dienste wie das Tageslicht leistet uns die Berufung Gottes; wer ihr folgt, irrt nicht vom rechten Wege ab und stößt sich nicht. Unternimmst du nichts, als was das Wort Gottes dich tun heißt, so hast du einen, der dich vom Himmel her führt und leitet. Dann kannst du getrost deine Straße ziehen (Ps. 91, 11 f.). Christus zog im Vertrauen auf des Vaters Führung mutig nach Judäa. Er hatte keine Furcht vor den Steinwürfen seiner Feinde. Er wusste: alles Irren ist ausgeschlossen, wo Gott, der Sonne vergleichbar, uns den Weg hell erleuchtet. Daraus lernen wir, dass das ganze Leben des Menschen, so oft und so lange er sein Vertrauen nicht auf Gottes Berufung, sondern auf seine eigenen Pläne setzt, nicht anders ist, als ein Laufen im Zickzack und in der Irre. Auch die, welche sich wunder wie klug vorkommen, aber Gott nicht um Rat fragen und sich von seinem Geiste nicht in allem, was sie vornehmen, leiten lassen, sind nur arme Blinde, die im Dunkeln tappen. Nur dann sind wir auf dem richtigen Wege, wenn wir sorgsam auf die Stimme Gottes achten und nur dahin unseren Fuß setzen, wo er uns vorangeht. Wer sich das zur festen Lebensregel gemacht hat, der hat auch guten Mut: Glück und Segen wird ihm zu teil werden; denn es ist unmöglich, dass da kein guter Erfolg sein sollte, wo Gott die Leitung in der Hand hat. Das ist eine Erkenntnis, die uns außerordentlich nottut: denn kaum heben die Gläubigen den Fuß, um Gott zu folgen, so beschafft Satan alsbald tausend Hindernisse, weist hin auf mancherlei drohendes Unglück und versucht bald so, bald so uns den Weg zu versperren.
Des ungeachtet gilt es, beherzt weiter zu gehen, sobald der Herr uns dazu auffordert: Er leuchtet uns ja auf dem Wege voran, - mag immerhin der Tod in mancherlei Gestalt uns unterwegs belauern. Gott heißt uns ja auch niemals vorwärts dringen, ohne uns durch seine Verheißung fröhliche Gewissheit zu schenken, dass alles, was wir in seinem Auftrage angreifen, uns glücklich gelingen muss. Dies ist der Wagen Gottes, in welchem wir uns bergen dürfen, um niemals müde zu werden. Und mögen auch Hindernisse kommen, so groß, dass man mit einem Wagen nicht hindurchfahren könnte, - da wandelt sich Gottes Verheißung in ein Paar starker Schwingen für uns, die uns über alle Hindernisse hinweg bis ans Ziel tragen. Nicht, als ob die Gläubigen niemals mit Widerwärtigkeiten zu tun hätten: aber selbst das Unglück ist ihnen nur ein Mittel zur Seligkeit. Kurz, die Augen Gottes wachen treulich über allen denen, welche sich von seinem Wink regieren lassen. Wir folgern daraus noch, dass die Menschen, welche mit Beiseitesetzung und Verachtung des Wortes Gottes frech tun, was ihnen einfällt und was sie gelüstet, ein völlig verfehltes Leben führen. Alles, was sie vornehmen, steht unter dem Fluche Gottes, und jederzeit schwebt über ihrer Vermessenheit und ihrer blinden Sinnenlust die göttliche Rache. –
Den Tag teilt Christus hier, indem er sich der althergebrachten Gewohnheit anschließt, in zwölf Stunden ein; die Juden zählten, ohne die längeren Tage des Sommers und die längeren Nächte des Winters in Rechnung zu ziehen, jahraus jahrein zwölf Tages- und ebenso viel Nachtstunden.
V. 11. Unser Freund schläft. Da Jesus soeben noch die Krankheit als eine Krankheit nicht zum Tode erklärte, will er jetzt nicht durch unvermittelte Enthüllung des Sachverhaltes die Jünger zu sehr erschrecken. Deshalb legt er in seine Worte sowohl die Andeutung, dass der Tod eingetreten ist, als auch, dass die Auferstehung bevorsteht. Dass sie den Ausspruch Jesu buchstäblich nehmen, ist von ihnen recht ungeschickt. Wenn es auch eine bildliche Rede ist, so kommt sie doch so häufig auf den Blättern der alttestamentlichen Schriften vor, dass jedermann im Volke der Juden damit vertraut sein musste.
V. 12 u. 13. Schläft er, so wird es besser. Mit Berufung darauf, dass Lazarus durch die Wohltat des Schlafes schon ganz von selber wieder zurechtkommen werde, suchen sie Christo in versteckter Weise nochmals von der Reise abzuraten. Der Vergleich des Todes mit dem Schlafe, der sich in der Schrift, aber auch bei weltlichen Schriftstellern, sehr oft findet, ist offenbar dadurch in Aufnahme gekommen, dass im Schlafe der Leib des Menschen ohne Bewusstsein wie ein entseelter Leichnam daliegt, weshalb auch der Schlaf treffend ein Abbild des Todes genannt wird. Natürlich soll mit diesem Ausdrucke nur auf einen Schlafzustand des Leibes, aber nimmermehr, wie man recht verkehrt behauptet hat, auch auf einen Schlafzustand der Seele hingewiesen werden. Seine Macht führt Christus uns vor Augen, indem er sagt, er wolle hingehen, um den Lazarus aufzuwecken. Er zeigt sich als Gebieter des Todes dadurch, dass er von einem, dem er das Leben noch einmal schenkt, sagt, er wolle ihn aufwecken.
V. 14 u. 15. Da sagte es ihnen Jesus frei heraus. Wie groß ist doch die Güte Christi, mit der er die Einfalt seiner Jünger geduldig ertrug! Ohne Zweifel verschob er es noch einige Zeit, den Geist Gottes über sie auszugießen, damit, wenn sie zu Pfingsten in einem Augenblicke neue Menschen wurden, das Wunder umso handgreiflicher wäre.
Wenn er hier sagt (V. 15): Ich bin froh um euretwillen, so will er ihnen damit klar machen, sein Fernbleiben von Bethanien sei für sie nützlich gewesen, indem sie, wenn er dem Lazarus alsbald Hilfe gebracht hätte, seine Macht lange nicht so deutlich zu sehen bekommen hätten, wie sie sie jetzt sehen sollen. Je näher das, was Gott tut, dem gewohnten Laufe der Natur verwandt ist, desto unbedeutender erscheint es, und desto weniger haben die Menschen acht auf seine Herrlichkeit. Das zeigt ja die tägliche Erfahrung: hilft Gott sofort, so merken wir gar nicht, was wir seiner Hilfe verdanken. In der Auferweckung des Lazarus sollten die Jünger eine wahre Gottestat erkennen, - deswegen der Aufschub. Es sollte eine Wirkung erzielt werden, die nicht entfernt der Wirkung eines vom Arzte verordneten Heilmittels glich. Außerdem erinnere ich an das oben Gesagte: wenn Gott, dessen Güte ja in Christi Person vor uns steht, uns lange in großer Not stecken lässt, sollen wir gewiss sein, dass er eben dadurch für unser Heil sorgt. Wir seufzen dann wohl in Angst und Trübsal, der Herr aber ist froh darüber, dass es für uns gut so ist. In zwiefachem Lichte erstrahlt dann seine Menschenfreundlichkeit: er verzeiht unsere Fehler, und er findet Mittel und Wege, sie uns abzugewöhnen.
Auf dass ihr glaubt. Damit will Jesus seinen Jüngern nicht allen Glauben absprechen, als müssten sie darin überhaupt erst den Anfang machen, - er denkt nur an die Stärkung ihres bisher noch geringen und schwachen Glaubens. Nebenher gibt Jesus zu verstehen, dass sie freilich nicht glauben würden, wenn Gott seine Macht nicht handgreiflich offenbarte.
V. 16 u. 17. Da sprach Thomas. Bis dahin versuchten die Jünger, Jesum zurückzuhalten. Jetzt ist Thomas bereit, mit ihm zu gehen, aber ohne Glauben. Wenigstens findet er in der Verheißung Christi keine Ermutigung, sodass er froh und still ihm folgen könnte. Denn so redet die Verzweiflung: Lasst uns mitziehen, dass wir mit ihm sterben, - während sie doch des Lebens hätten gewiss sein sollen. „Mit ihm sterben“ kann übrigens sowohl auf Jesus, als auf Lazarus deuten. Im letzteren Falle würde Thomas spottend sagen: Was wird es helfen, wenn wir nach Bethanien kommen? Der einzige Freundschaftsdienst, den wir dem toten Lazarus werden erzeigen können, würde der sein, dass wir uns zu ihm ins Grab legen ließen!
Die andere Auslegung spricht indes noch mehr an: Thomas weigert sich nicht des Todes mit Christo. Sein Entschluss stammt jedoch, wie bereits gesagt, aus unüberlegtem Eifer, während er sich doch an der von Christo gegebenen Verheißung hätte stärken sollen.
V. 18. Bethanien war nahe bei Jerusalem. Emsig sucht der Evangelist herbei, was zur Erhärtung des wirklichen Tatbestandes dient. Er berichtet genau, wie nahe der Flecken Bethanien bei Jerusalem lag. So begreift man leicht, woher die vielen Freunde kamen, welche die Schwestern trösten wollten, - lauter Zeugen des Wunders, ohne dass sie es wussten, eigens dazu von Gott nach Bethanien geführt. So blieb die Auferweckung des Lazarus nicht unbekannt; vieler Augen sahen sie, nicht nur die nächsten Angehörigen. Wunderbar fügt sich alles: ein leuchtender Beweis göttlicher Kraft wird gegeben an einem bekannten Orte, vor vielen herbeigeströmten Menschen, dicht vor den Toren der Stadt Jerusalem, wie auf öffentlicher Schaubühne. Wenn dann auch dies Wunder nichts hilft, sondern es gar bald so aussieht, als hätte nie jemand der Auferstehung des Lazarus zugeschaut, so ist dies arge Geschlecht damit seiner schier unglaublichen Undankbarkeit überführt. Die Gesinnung der Juden war gegen Jesum eine so schlechte, dass sie absichtlich die Augen schlossen, um nur ja das nicht sehen zu müssen, was sich vor ihren Augen zutrug. Es liegt ein Widerspruch darin: sie sind wahrhaft versessen auf Wunder; wenn aber solche geschehen, zeigen sie sich völlig stumpf und gleichgültig dagegen. Und doch ist es immer so gewesen und ist noch so. Jerusalem und Bethanien lagen nach der gemachten Angabe nicht einmal ganz zweitausend Schritt voneinander. Ein Stadium (zu deutsch ein Feld Weges) besteht nämlich aus sechshundert Fuß oder hundertfünfundzwanzig Schritten1).
V. 19. Sie zu trösten über ihren Bruder. Das war die Absicht der Menschen; die Absicht Gottes, wie gesagt, war eine andere. Übrigens geht aus dem zahlreichen Besuch hervor, dass das Haus des Lazarus und seiner Schwestern hoch in Ansehen und Ehren stand. Naturgemäß versetzt der Tod der Angehörigen die Menschen in tiefe Betrübnis. Deswegen erfüllen diese Besucher ihre Pflicht, gegen die sich nichts einwenden lässt. Sind mit solchen Beileidsbezeugungen Übelstände verbunden, die sich ja auch auf anderen Gebieten, denen niemand ihre Berechtigung abspricht, einschleichen, so sind dieselben hässlichen Flecken auf einer Sache, die an und für sich keinen Vorwurf verdient.
V. 20. Als Martha nun hörte. Martha geht vor die Häuser ihres Dorfes hinaus, nicht nur, um vielleicht Jesu ihre Verehrung zu bezeugen, sondern um ihn nicht allzu öffentlich zu empfangen. – War doch die Erinnerung an die letzte Lebensgefahr, der er entgangen war, noch ganz frisch (10, 39). Die Wut der Feinde hatte sich durchaus noch nicht gelegt, sondern war durch Jesu Rückzug höchstens etwas abgekühlt, konnte aber auf die Kunde von seiner Rückkehr wieder umso heftiger hervorbrechen.
V. 21 u. 22. Herr, wärest du hier gewesen. Martha beginnt mit einer Klage. Indes deutet sie auf diese Weise nur ehrfurchtsvoll an, was sie eigentlich sagen will; sie will dem Herrn zu verstehen geben: Wärest du zugegen gewesen, so hättest du meinen Bruder vor dem Tode bewahren können; und auch jetzt kannst du ihn noch retten, denn Gott wird dir nichts abschlagen! Indem sie so sagt, folgt sie mehr dem Gefühl ihres Herzens, als dass sie sich von lebendigem Glauben leiten ließe.
Zum Teil freilich, das gestehe ich zu, sind ihre Worte aus dem Glauben hervorgegangen; doch sind sie mit verkehrten Gedanken durchsetzt. Sie geht entschieden zu weit. Oder hatte sie eine bestimmte Zusage von Christo darüber empfangen, dass ihr Bruder nicht leiblich sterben könne, wenn er nur zugegen sei? Doch gewiss nicht! So müssen wir denn sagen: sie ist sehr nachgiebig gegen ihre Herzenswünsche, lässt es aber an der völligen Unterordnung gegen Jesum fehlen.
Ein Beweis ihres Glaubens ist es, dass sie Christo die Macht und die vollkommene Güte zutraut. Dass sie sich aber größere Hoffnungen einredet, als sie mit klaren Worten Christi begründen kann, das kommt nicht aus dem Glauben. Zwischen dem Worte Gottes und dem Glauben muss stets der genaueste Zusammenhang bestehen, - sonst macht sich der Mensch selber etwas zurecht, was über das Wort Gottes hinausgeht. Außerdem legte Martha einen zu großen Wert auf die körperliche Gegenwart Christi. So leuchtet denn ihr Glaube nicht in vollem Glanze. Eigenwilligkeit, ja sogar etwas Aberglauben sind ihm beigemischt. Immerhin zeigen sich Funken wahren Glaubens.
V. 23. Dein Bruder soll auferstehen. Ein Wort Christi von wunderbarer Freundlichkeit! Er verzeiht der Martha ihre Verkehrtheiten und gibt ihr eine Verheißung, die über das, was sie sich erbitten gewagt hatte, noch hinausging.
V. 24. Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird. In diesem Worte zeigt Martha nun wieder eine zu ängstliche Zurückhaltung, die Christi Wort nicht in seiner ganzen Größe zu erfassen vermag. Vorher hat sie zu viel gehofft, - jetzt verfällt sie in den entgegengesetzten Fehler und hofft zu wenig. Christus bietet seine Hand dar; sie aber weiß nicht recht, ob sie einschlagen soll. Vor beidem haben wir uns zu hüten. Wir dürfen nicht abgehen von Gottes Wort und bald hier bald dort uns leere Hoffnungen erwecken lassen, - das ist doch nur Wind; und wir dürfen nicht, wenn der Herr seinen Mund auftut, unser Herz verschlossen halten oder es doch nur ein klein wenig öffnen. Übrigens wollte Martha wohl mit ihrer Antwort dem Herrn eine deutlichere Erklärung ablocken. Sie will sagen: Wenn du an die Auferstehung am jüngsten Tage denkst, dann sagst du mir nichts Neues; daran habe ich keinen Zweifel, das ist mein Trost. Aber du meinst vielleicht etwas weit Größeres, was ich bisher nur ahnen kann.
V. 25. Ich bin die Auferstehung und das Leben. Die im ersten Satze gegebene Erklärung, dass er die Auferstehung und das Leben ist, erläutert Jesus eins ums andere in den darauf folgenden Worten. Der Grund dafür, dass er sich zuerst die Auferstehung nennt, liegt darin, dass vor dem neuen Lebenszustande die Wiederherstellung des Lebens hergehen muss. Das ganze Menschengeschlecht ist im Tode versunken; deshalb kann niemand des Lebens teilhaftig sein, der nicht zuerst vom Tode auferstanden ist. So lehrt denn Christus hier: Ich bin der neue Lebensanfang! Er fügt dann hinzu: aber auch die ganze weitere Dauer des neuen Lebens ist das Werk meiner Gnade. –
Dass Jesus vom geistlichen Leben redet, zeigt klar die unmittelbar hiernach gegebene Erläuterung: Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Weshalb ist er also die Auferstehung? Weil er die Kinder Adams, welche durch die Sünde Gott entfremdet waren, durch seinen Geist neu belebt. Darüber ist bereits zu 5, 21. 24 ausführlicher gehandelt.
Die beste Auslegung zu unserer Stelle gibt Paulus Eph. 2, 5 und 5, 8. Es ist deshalb törichtes Geschwätz, wenn gesagt wird, die Menschen bereiteten sich selber auf die Annahme der göttlichen Gnade vor; man könnte gerade so gut behaupten, die Toten seien imstande, aus eigener Kraft zu gehen. Erst der, welcher an Christum glaubt, hat neues Leben. Der Glaube ist die geistliche Auferstehung der Seele. Es ist ein herrliches Lob, das hier dem Glauben gespendet wird: durch ihn ergießt der Herr sein Leben in uns und befreit uns vom Tode.
V. 26. Und wer da lebt und glaubt an mich. Das ist die Auslegung des zweiten Wortes: Jesus ist nicht bloß die Auferstehung, sondern auch „das Leben“, insofern er das einmal geschenkte Leben nicht wieder dem Tode verfallen lässt, sondern bis in Ewigkeit hütet. Was sollte es mit uns schwachen Menschen wohl geben, wenn wir uns selbst überlassen würden nach dem erstmaligen Empfang des neuen Lebens? Die ganze weitere Entwicklung dieses Lebens muss ihre Kraft aus Christo nehmen. Was er angefangen hat, kann nur er vollenden. Von den Gläubigen aber heißt es deshalb, dass sie niemals sterben, weil ihren Seelen, die aus unvergänglichem Samen wiedergeboren sind, der Geist Christi innewohnt. Dieser führt ihnen fortwährend neue Lebenskräfte zu. Denn wenn auch der Leib dem Sterben unterliegt, so ist der Geist doch Leben um der Gerechtigkeit willen (Röm. 8, 10). Und wenn auch der äußere Mensch täglich bei ihnen mehr verfällt, so bedeutet das doch keinen Verlust wahren Lebens, - es unterstützt vielmehr seine Fortschritte, weil der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert wird (2. Kor. 4, 16). Der Tod selbst wird den Gläubigen eine Art Befreier von der Knechtschaft des Todes.
Glaubst du das? Zuerst sieht es aus, als spräche Christus deswegen vom geistlichen Leben, weil er die Martha von ihrem augenblicklichen Wunsche abbringen wollte. Sie verlangte darnach, dass der Bruder wieder lebendig würde. Christus betont, dass er ein weit besseres, als das leibliche Leben schenken kann; er macht mit himmlischer Kraft die Seelen der Gläubigen lebendig. Doch zweifle ich nicht daran, dass er mehr als das im Auge hat. Einmal will er hinweisen auf das geistliche Leben, welches er allen, die ihm gehören, schenkt, dann aber beabsichtigt er auch, dass Martha auf Grund dieser allgemeineren Betätigung seiner Kraft Mut fasse, zu glauben, dass er auch imstande ist, den Lazarus aufzuerwecken.
V. 27. Ich glaube, dass du bist Christus. Um zu beweisen, dass sie glaubt, Jesus sei Auferstehung und Leben, gibt Martha zur Antwort, sie glaube, dass er der Messias und der Sohn Gottes sei. In dieser Erkenntnis liegt ja alles andere inbegriffen: man muss bei dem Titel des Messias immer im Sinne behalten, wozu derselbe verheißen war, und welcher Art nach der Aussage der Propheten sein Amt sein sollte. Martha bekennt, dass er der sei, der kommen sollte: ihr Glaube stützt sich also auf die Weissagungen der Gottesmänner. Dieselben besagen, dass der Messias alles von Grund aus neu machen wird, und dass er der Bringer des wahren Glückes sein soll, kurz, dass seine Sendung zu dem Endzwecke geschieht, dass er das wahre und vollkommene Gottesreich aufrichte und ordne.
V. 28 bis 30. Und rief ihre Schwester. Wahrscheinlich hat Martha den Herrn gebeten, vor dem Dorfe sich zu verweilen. Sie wollte nicht, dass er unter die vielen Menschen käme. Sie fürchtete, es sei für ihn gefährlich: war er doch eben erst dem sicheren Tode entronnen. Die Kunde von seiner Anwesenheit sollte nicht auskommen: deshalb meldet sie es heimlich der Schwester: Der Meister ist da. Dieser Titel lässt ersehen, als was diese frommen Frauen Christum behandelt haben. So ganz viel hatten sie ja noch nicht bei ihm gelernt. Dennoch ist es etwas Großes, dass sie ihm so völlig als seine Schülerinnen ergeben sind. Ein Zeugnis der hohen Verehrung, die sie ihm zollte, war, dass Maria sofort aufstand, um ihm entgegen zu gehen.
V. 31. Die Juden, die bei ihr im Hause waren. Obgleich Martha mit Christi Erlaubnis nach Hause zurückgekehrt war, um Maria heimlich aus der Gästeschar herauszuholen, plante Christus doch etwas anderes, als sie; er wollte gerade die Juden dabei haben. Sie sollten Augenzeugen seines Wunders sein. Daran dachten sie freilich nicht entfernt. Aber es kommt ja gar nicht selten vor, dass die Menschen, sozusagen mitten durch die Finsternis, dahin, wo sie gar nicht hinwollten, von Gottes verborgener Weltregierung geführt werden. Die Juden meinen, Maria wolle zum Grabe hingehen, um, wie es viele tun, von neuem zu klagen und zu weinen. Wie oft sucht der Bekümmerte immer neue Reizmittel seines Kummers! Es ist das eine wahre Krankheit! So macht es der Witwer, dem die Gattin, so machen es die Eltern, denen die Kinder gestorben sind, und umgekehrt. Mag nun die Gattin, Vater oder Mutter, Verwandter oder Freund gestorben sein, man sucht auf alle Weise seinen Schmerz um den Verlust zu vergrößern. Um das zu erreichen, handhabt man dann allerlei Kunstgriffe. Die Gedanken sind schon sowieso nicht auf der rechten Bahn: trotzdem werden sie aufgestachelt und aufgewühlt, damit sie sich recht heftig und mit grimmigem Ansturm gegen Gott empören sollen. Die Aufgabe der Gäste wäre es gewesen, die Maria daheim festzuhalten, und nicht zu dulden, dass sie im Anblicke des Grabes der Trauer neue Nahrung zuführte. Aber ein so kräftiges Heilmittel wagen sie nicht anzuwenden. Im Gegenteil, sie geben ihr das Geleit, um den maßlosen Schmerz zu besänftigen. Der Trost einer solchen Art von Freunden verfängt freilich nicht. Sie sind nicht wahre Freunde, sondern nachgiebige Schwächlinge.
V. 32. Fiel sie zu seinen Füßen. An diesem Fußfallen erkennen wir, dass man den Herrn Jesus im bethanischen Hause doch ganz anders verehrte, als einen gewöhnlichen Menschen. Allerdings pflegte man sich auch vor hochstehenden Männern und Königen zu Boden zu werfen, - Christus aber hatte, äußerlich betrachtet, keinen Prunk oder königliches Gebaren an sich. So hat Maria es wohl anders gemeint, da sie zu seinen Füßen niederfiel. Sie hätte das nicht getan, wenn sie ihn nicht mit voller Überzeugung für Gottes Sohn gehalten hätte.
Herr, wärest du hier gewesen usw. An dieser anscheinend gegen Christum ganz ehrerbietigen Rede ist doch mancherlei auszusetzen (vgl. auch zu V. 21). Die Macht Christi erstreckt sich über Himmel und Erde, hätte also nicht auf den Bezirk in seiner nächsten leiblichen Gegenwart beschränkt werden dürfen.
V. 33 bis 35. Ergrimmte er im Geist. Hätten ihn die Tränen all dieser Menschen nicht zu tiefen Mitleiden bewegt, so würde er selber trockenen Auges dabei gestanden haben. Aber er stellt sich den Weinenden gleich und offenbart in seinen Tränen sein herzliches Mitgefühl. Was ihn zu Tränen rührte, sagt der Evangelist: er sah Maria und ihre Begleiter weinen. Indes hat Jesus zweifellos noch um etwas mehr geweint, und zwar um den ganzen Jammer der Menschheit. Er hatte ja stets im Sinne, was für einen Auftrag ihm der Vater gegeben hatte, nämlich, dass er uns von allem Übel erlöse. Diesen seinen Auftrag hat er wirklich ausgerichtet; er hat aber auch an dieser Stelle zeigen wollen, mit welch ernster innerer Anteilnahme er ihn ausgerichtet hat. Unmittelbar vor der Auferweckung des Lazarus, kurz ehe er sein Heilmittel anwendete, seine Hilfe brachte, bezeugt Jesus durch das Ergrimmen im Geiste, durch das tiefe Schmerzgefühl und seine Tränen, dass ihm all unser Leid so sehr am Herzen liegt, als hätte er es alles selbst zu erdulden.
Aber wie kann von dem Gottessohn eine solche Betrübnis und ein solches Ergrimmen im Geiste ausgesagt werden? Es gibt Leute, die ihn in starrer Unbeweglichkeit über solche Gefühle erhaben wähnen. Das stimmt jedoch nicht mit dem Gesamtbilde von Christo, das uns die Schrift zeichnet, nach welchem wir vielmehr sagen müssen: der Sohn Gottes hat bei seinem Menschwerden freiwillig auch unsere menschlichen Gefühle angenommen; er wollte sich in keinem Stück, ausgenommen die Sünde, von uns unterscheiden. So geht der Hoheit Christi nichts verloren, - er hat sich doch freiwillig so weit herabgelassen, dass er auch in den Regungen der Seele uns gleich ward. Alle unsere Schwachheiten hat er selber durchgemacht; deshalb ist er voll verzeihender, helfender Liebe gegen uns, wenn wir schwach sind. Aber da wird gesagt: die Gedanken, Gefühle und Leidenschaften der Menschen sind voller Sünde; es ist unmöglich, dass der Sohn Gottes uns in ihnen gleich geworden ist.
Ich antworte: selbstverständlich besteht ein weiter Abstand zwischen ihm und uns. Unser Gefühlsleben ist deswegen sündlich, weil die Zucht darin fehlt, und jegliches Maß überschritten wird. An dem Gefühlsleben Christi dagegen ist kein Sündenfleckchen, da es ganz im Gehorsam gegen den Vater steht und das rechte Maß innehält. Bei unserer Trauer oder Freude handelt es sich immer um ein Zuwenig oder um ein Zuviel. Viele wissen sich in Freud und Leid gar nicht zu bändigen. Ja, töricht, wie wir sind, genügt ein wahres Nichts, um uns Kummer und Schmerz zu bringen; wir haben eben gar zu sehr an der Welt.
Bei Christi nichts dergleichen! Was er auch empfinden mag, - nirgends eine Überschreitung des rechten Maßes, nirgends eine verkehrte Ursache, - in allem waltet Vernunft und Besonnenheit. Wollen wir uns seinen Seelenzustand verständlicher machen, so verlohnt es sich der Mühe, über den Unterschied zwischen der ersten Menschennatur, wie sie aus Gottes Schöpferhand hervorging, und unserer entarteten, von der Sünde verderbten Natur nachzudenken. Als Gott den Menschen schuf, gab er ihm ein Gefühlsleben, das seinen Geboten gehorsam und der Vernunft untertan war. Seine rebellische, ungebärdige Art hat es erst nachträglich angenommen. Christus hat wohl das menschliche Gefühlsleben angenommen, aber nicht in der späteren Form der Verwirrung, sondern in seinem ursprünglichen Gleichgewicht. Wenn nun Christus sich hier betrübt und in hohe Erregung kommt, so hat er sich dabei doch innerhalb der Schranken des Willens Gottes gehalten. Zwischen seinem und unserem Innenleben besteht ein Unterschied so groß, wie zwischen klarem Wasser, in dem kein Schlamm ist, und das still und eben dahinfließt, und er tobenden Brandung, die allerlei Schmutz ausschäumt. Dass ein Christi die eiserne Härte der Stoiker nicht nachahmen darf, dafür genügen als Beweis hier die Tränen Christi. Er ist unser unvergleichliches Musterbild. Ihm gilt es zu folgen; er muss auch in unser durch die Sünde in Verwirrung geratenes Seelenleben Ordnung bringen.
Unempfindlich wie der Fels dürfen wir nicht sein; doch gilt es Maß halten in der Trauer und sich ihr nicht hingeben, wie die Ungläubigen, die keine Hoffnung haben (1. Thess. 4, 13). Der Grund, dessentwillen Christus sich unser Seelenleben zu eigen machte, war ja: wir sollten in seiner Kraft alles Sündliche in uns überwinden.
V. 36 u. 37. Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt. Von einem zwiefachen Urteil der Umstehenden über Christum gibt uns Johannes hier Nachricht. Die ersteren, welche auf seine Liebe zu Lazarus hinweisen, halten ihn zwar auch nur für einen Menschen und geben ihm noch nicht seine ganze Ehre, sprechen aber doch in richtigerem und bescheidenerem Tone, als die anderen, die ihn höhnisch bekritteln, weil er den Lazarus nicht aus Todesnöten gerettet habe. Sie geben allerdings zu, dass Jesus Wunder zu tun imstande ist, während die anderen davon schweigen; aber sie können es nicht unterlassen, ihm dabei einen Vorwurf zu machen. Es ist daran deutlich zu sehen, dass sie recht gut über die bisherigen Wunder Christi unterrichtet waren, - umso abscheulicher ist ihr Undank; gleich sind sie mit Schelten bei der Hand, wenn Christus hier einmal kein Wunder getan hat. Genau dieselbe Undankbarkeit hat Gott von den Menschen von jeher erfahren und erfährt sie noch heute. Wenn er nicht jeden unserer Wünsche befriedigt, alsbald gegen wir zu stürmischen Vorwürfen über: Er hat ja bisher geholfen; weshalb tut er es denn auf einmal nicht mehr? Krankhaft ist es, dass wir blind darauf los wünschen, was uns nicht gut ist, und dabei uns bestreben, Gott gegen die verkehrten Wünsche unseres Fleisches willfährig zu machen. Krankhaft ist es auch, dass wir so zudringliche Bittsteller sind und, ehe die rechte Zeit da ist, glühend von Ungeduld Gott etwas abzuzwingen suchen.
V. 38. Da ergrimmte Jesus abermals. Christus ging zum Grabe des Lazarus nicht als ein müßiger Betrachter, sondern als ein Streiter, der sich zum Kampfe rüstet. Deshalb nimmt uns dies zweite Ergrimmen nicht Wunder. Die entsetzliche Gewaltherrschaft des Todes, den er hier besiegen musste, steht ihm vor Augen. Es gibt Ausleger, welche dies Ergrimmen als aus dem Unwillen über den Unglauben der Juden entsprungen ansehen. Ich meine, dass die gegebene Auslegung der Sachlage gerechter wird; nicht auf einzelne Menschen, sondern auf die Sache selbst schaut Jesus hin. –
Die Einzelheiten des folgenden Berichts setzen Christi Wundermacht bei der Auferweckung des Lazarus in ein umso helleres Licht: vier Tage sind es schon, und das Grab ist mit einem Stein verschlossen, den Christus vor aller Augen abheben lässt.
V. 39. Herr, er stinkt schon. Diese Äußerung ist ein Zeichen von Misstrauen: Martha verspricht sich weniger von Christi Macht, als sie gesollt hätte. Die Wurzel des Übels besteht darin, dass sie mit dem Maßstabe ihres kleinen Menschenverstandes die unermessene, unbegreifliche Macht Gottes messen will. Fäulnis und Verwesungsgeruch ist unvereinbar mit einem gesunden, frischen Menschenleibe. Deshalb meint sie: es ist zu spät! Lassen wir solche unschickliche Gedanken ihr Spiel treiben in unserer Seele, so hemmen wir damit gewissermaßen den Arm Gottes bei der Ausführung seiner Arbeit. Wäre Martha mit ihrer Stimme hier durchgedrungen, so wäre Lazarus nie wieder aus dem Grabe hervorgekommen. Sie redet sich selber alle Hoffnung aus und stellt sich sogar Christo in den Weg: Mach dir keine Mühe! Wirklich? Ach nein, im Grunde denkt sie ja ganz anders. Sie ist in ihrem unsicheren Schwanken das rechte Bild der Glaubensschwäche, deren Wesen darin besteht, dass der Mensch sozusagen auseinandergerissen wird: einmal will er hierhin, dann wieder dorthin. Er liegt mit sich selber im Kampfe. Die eine Hand streckt er aus, um Gott um Hilfe zu bitten; mit der anderen Hand wehrt er die angebotene Hilfe Gottes ab.
Martha hatte ja nicht gelogen, als sie (V. 22) sagte: „Ich weiß auch noch, dass, was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.“ Aber ein solcher Glaube hilft nicht viel, wenn er so verworren und unklar ist, dass er versagt, wo es gilt, ihn anzuwenden. An Martha sehen wir ganz auffallend, wie vielerlei Mängel der Glaube auch bei den besten Christen hat. Sie war die erste gewesen, die Christo entgegen ging, - ein unleugbares Zeichen wahrer Frömmigkeit; und dennoch kann sie es nicht lassen, ihm Hindernisse in den Weg zu legen. Lasst uns doch lernen, damit Gottes Gnade jederzeit einen Zugang in unser Herz finde, Gott eine weit größere Macht zuzugestehen, als unser Begriffsvermögen fassen kann! Und ist unser Glaube so schwach, dass er sich auf eine einzige Zusage nicht Gottes verlassen mag, so lasst uns dann wenigstens, gleich der Martha, eine zweite oder gar dritte Zusage, die er uns gibt, in lebendigem Glauben mutig erfassen!
V. 40. Hab ich dir nicht gesagt. Damit macht Jesus der Martha ihr schwachmütiges Misstrauen zum Vorwurf: Weshalb schöpfst du nicht zuversichtliche Hoffnung aus der dir gegebenen Verheißung? Übrigens geht aus dieser Stelle hervor, dass Jesus zu Martha noch etwas mehr gesagt hat, als Johannes mit Worten aufzeichnete. Immerhin liegt das, was Jesus hier meint, schon in dem Worte beschlossen (V. 25): Ich bin die Auferstehung und das Leben. Christus verurteilt es an Martha, dass sie nicht irgendeine Gottestat erwartet.
So du glauben würdest. So sagt der Herr, nicht nur, weil der Glaube die Augen öffnet, dass wir die Herrlichkeit Gottes, die strahlend vor uns steht, in dem, was er tut, zu sehen imstande sind, sondern weil unser Glaube der Macht und Güte Gottes den Weg bereitet, dass er sich an uns offenbaren kann, wie es Ps. 81, 11 heißt: „Tue deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen.“ Wie auch anderseits der Unglaube Gott den Zugang verwehrt und sozusagen seine Hand, die er so gerne gibt, fest zuschließt, weswegen es Mt. 13, 58 heißt: „Jesus tat daselbst nicht viele Zeichen um ihres Unglaubens willen.“ Nicht, als wäre Gottes Macht an der Menschen Willen gebunden, aber dadurch, dass sie ihr, soweit sie das vermögen, durch ihre Bosheit den Weg versperren, machen sich die Menschen einer Offenbarung der göttlichen Macht unwürdig. Oft geschieht es zwar, dass Gott solche Hemmnisse beseitigt; so oft er aber seine Hand zurückzieht und den Ungläubigen die Hilfe versagt, tut er es, weil sie ihn sich nicht nahe kommen lassen wollen, sondern sich lieber in die engen Schranken ihres Unglaubens einschließen.
Du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen. Sehr bemerkenswerter Weise wird das Wunder als „Herrlichkeit Gottes“ bezeichnet. Gott zeigt ja darin seine Hand und verherrlicht dadurch seinen Namen. Auf dies Wort Christi lässt Martha es geschehen, dass der Stein abgewälzt wird. Ohne sich an etwas Sichtbares halten zu können, hält sie sich an das Wort des Gottessohnes. Sein Geheiß wird befolgt, und nun verlässt sie sich mit Freuden auf seine Anordnungen.
V. 41. Jesus aber hob seine Augen empor. Darin prägte sich die vollkommene Bereitschaft seiner Seele zum Gebet aus. Will jemand Gott anrufen, wie es sich gebührt, so muss er mit ihm in Verbindung stehen; das ist aber unmöglich, solange er nicht über die Erde sich emporhebt und in den Himmel selber hineindringt. Das geschieht nicht durch den bloßen Augenaufschlag. Es gibt heuchlerische Beter, welche, tief im Schmutze fleischlichen Lebens versunken, mit ihrem Augenverdrehen den Himmel zu sich herabzuziehen scheinen. Was bei ihnen nur leerer Schein ist, das muss bei Gotteskindern volle Wahrheit werden. Doch darf man, wenn man zum Himmel aufschaut, sich nicht vorstellen, Gott sei droben eingeschlossen; Gott ist überall und erfüllt Himmel und Erde. Solange wir nicht durch das Zeugnis der Schrift erleuchtet sind, haben wir stets unrichtige Vorstellungen von Gott und ziehen ihn ins Niedrige, Irdische herab. Deshalb eben gilt es, sich über die Welt hinaufzuschwingen und Gott im Himmel zu suchen, wo sein Sitz ist (Jes. 66, 1). Was nun die äußere Form angeht, so ist freilich das Aufschlagen der Augen keine durchaus unerlässliche Gebetsgebärde. Der Zöllner schaute zu Boden, und doch ging seine Bitte in den Himmel hinein; das macht der Glaube. Indes ist das Hinaufsehen ein Hilfsmittel, das die menschliche Seele unterstützen kann im Suchen nach Gott. Ist das Gebet ein recht inbrünstiges, so braucht es gar keiner besonderen Überlegung: soll ich die Augen zu Boden oder gen Himmel richten? – sondern der Leib folgt einfach der Stimmung des Herzens. Ganz ohne Zweifel zog es Christum, wenn er die Augen gen Himmel richtete, mit unwiderstehlicher Gewalt dort hinauf. Nimm hinzu, dass er, da er ja selbst ganz und gar bei dem Vater weilte, ebenso auch andere zu ihm hinführen wollte.
Ich danke dir. Jesus fängt gleich mit der Danksagung an. Eine Bitte hat er nicht ausgesprochen, - wenigstens weiß der Evangelist von ausdrücklich bittenden Worten nichts zu melden. Ohne Zweifel haben wir aber als Voraussetzung der Erhörung einen stillen Gebetswunsch anzunehmen. Wahrscheinlich hat Jesus mit jenem zweimaligen Ergrimmen ein Gebet verbunden, da er sich doch unmöglich in einer leeren innerlichen Aufregung befunden haben kann, wie man sie allerdings bei Menschen ohne geistliches Leben recht oft findet. Jetzt, da ihm das Leben des Lazarus geschenkt ist, bringt er dem Vater seinen Dank dar. Wenn er damit das Wunder auf Rechnung des Vaters setzt, es also nicht sich selber zuschreibt, so bekennt er damit, dass er selbst nur der Diener des Vaters sein will. Jesus passt sich stets dem Verständnis der Menschen an; deshalb betont er einmal offen seine Gottheit und schreibt sich alles zu, was nur Gott zukommt, - ein anderes Mal wieder begnügt er sich damit, seine wahre Menschheit hervorzukehren. In dem letzteren Falle spricht er dem Vater allein die ganze Ehre der Gottheit zu. Hier kommt beides zu seinem Rechte, sowohl die Gottheit, als die Menschheit Christi: denn der Evangelist berichtet sowohl, dass der Vater auf den Sohn hört, als auch dass der Sohn danksagt. Es ist für uns ein Ding der Unmöglichkeit, die göttliche Hoheit Christi in ihrer himmlischen Erhabenheit zu begreifen. Deshalb kommt uns Gott zu Hilfe und lässt seine Macht in der fleischlichen Niedrigkeit Christi sich offenbaren. Dadurch soll unser ungeübtes, schwerfälliges Begriffsvermögen Schritt vor Schritt emporgehoben werden, bis wir zu einem verständnisvollen Blicke in dies heilige Geheimnis befähigt sind.
V. 42. Ich weiß, dass du mich allezeit hörst. Diese Worte wollen dem Missverständnis begegnen, als wäre der Sohn zuweilen auch von des Vaters Gnade verlassen, sodass er nicht in jedem beliebigen Augenblick ein Wunder tun könnte. Er und der Vater sind so völlig eines Sinnes, dass ihm niemals eine Bitte würde abgeschlagen werden; ja eine besondere Bitte hätte gar nicht notgetan, da Christus ja doch nur das ausführt, was er als einen Auftrag des Vaters erkennt. Nur um es den Anwesenden recht klar zu bezeugen, dass es sich hier um ein in vollem Sinne göttliches Tun handelt, hat er den Namen des Vaters angerufen. Sollte aber jemand aus Christi allumfassender Vollmacht den Gedanken fassen, dass er dann doch alle Toten auferwecken sollte, so möge er bedenken, dass Gottes Rat nur insoweit Wunder geschehen lässt, als sie zur Bekräftigung des Evangeliums nötig sind.
V. 43. Rief er mit lauter Stimme. Jesus berührt den Lazarus gar nicht mit seiner Hand. Er ruft ihn nur laut an. Umso schöner tritt seine göttliche Macht zutage. Zugleich gibt er einen gewaltigen Beweis von der geheimnisvoll-wunderbaren Kraft, die sein Wort in sich birgt. Was ist hiernach das Mittel, durch welches Christus den Toten das Leben wiedergibt? Das Wort! In einem anschaulichen Bilde steht in der Gestalt des auferweckten Lazarus die Kraft des Geistes und der Gnade vor uns, die wir in unserer Glaubenserfahrung jeden Tag verspüren, wenn Christus sich uns in seinem Worte als Lebensspender erweist.
V. 44. Gebunden mit Grabtüchern. Sorgsam zählt der Evangelist das Schweißtuch und die Grabtücher auf. So sehen wir es ordentlich vor uns, wie Lazarus aus dem Grabe hervorgeht, - genau so, wie er hineingelegt worden war. Die Juden haben bis heute die Sitte beibehalten, dass sie den Leichnam ihrer Toten in große Linnen einhüllen und das Haupt in ein besonderes Tuch einwickeln.
Löset ihn auf. Das Gotteswerk, dessen staunende Zuschauer sie gewesen waren, sollten die Juden nun auch noch mit ihren eigenen Händen betasten. Es wäre ja für Christus ein Leichtes gewesen, dem Lazarus zu befehlen, dass er die Grabtücher, mit denen er an allen Gliedern verschnürt war, abschütteln solle, oder dass sie von selbst von ihm abfielen, - aber die Hände der Umstehenden will er ausdrücklich zu seinen Zeugen machen. Den ungläubigen Juden soll auch der letzte Zweifel genommen werden.
V. 45 u. 46. Viel nun der Juden usw. Christus wollte auch eine Frucht seines Wunders sehen: er hat doch manche dadurch zum Glauben geführt. Wunder sollen ja entweder zum Glauben zubereiten oder im Glauben stärken, - hier trifft das Erstere zu. Denn der Evangelist meint ohne Zweifel, dass der überwältigende Eindruck von Christi göttlicher Wundermacht jene Leute zu Jüngern gemacht habe: denn das bloße Wunder kann freilich keinen Glauben hervorrufen. Dass jene Leute glaubten, besagt hier übrigens nur, dass sie sich für Christi Lehre empfänglich erwiesen. Die anderen Augenzeugen dagegen (V. 46), welche hingehen, um Christi neueste Tat seinen Feinden zu hinterbringen, stehen als Beispiele abscheulichen Undankes oder vielmehr des schauerlichsten Fanatismus vor uns. Wie blind, ja wie wahnsinnig sind doch solche gottlosen Menschen! Man sollte denken, beim Anblick des auferstandenen Lazarus müsste auch ein steinernes Herz weich werden. Aber Gott mag tun, was er will, - den süßesten Honig seiner Liebe wandelt die Gottlosigkeit in Gift und Galle.
Sollen die Menschen von den Wundertaten Gottes einen Nutzen ziehen, so müssen sie sich zuvor das Herz haben reinigen lassen. Wer Gott nicht fürchtet und ehrt, der würde doch dabei bleiben, mit hartnäckiger Undankbarkeit die heilsame Lehre verächtlich zurückzuweisen, und sähe er es gleich mit an, wie der Himmel und die Erde durcheinander gemengt würden.
Wenn die Angeber zu den Pharisäern gehen, so geschieht das, weil diese in ihrer Heuchelei besonders grimmige Bekämpfer des Evangeliums waren. Auch nachher, wo es heißt, es sei eine Versammlung einberufen worden, werden sie wieder namentlich aufgeführt. Sie waren ein Bestandteil der Priesterschaft, und doch werden sie besonders erwähnt, weil sie erst die Wut des gesamten Rates zu hellen Flammen angefacht haben.
V. 47. Da versammelten die Hohenpriester usw. Wahrhaft erschreckend ist es, wie blind die Hohenpriester sind. Es ist, als wären sie so stumpfsinnig wie das unvernünftige Vieh. Es wäre doch mindestens zu erwarten gewesen, dass sie nach dem herrlichen Beweis göttlicher Macht, den Jesus hatte sehen lassen, ein klein wenig von Schauern der Ehrfurcht ergriffen worden wären. Aber mit klarem Bewusstsein und voller Absichtlichkeit treten sie zusammen, um die Herrlichkeit Gottes zu verschütten und zu vergraben, nachdem sie mit Staunen sie haben anschauen müssen.
Allerdings sagen sie nicht mit runden Worten: Wir wollen Gott den Krieg erklären! – aber, da sie Christo nicht den Garaus machen können, ohne gegen Gottes Wunderkraft vorzugehen, erklären sie mit frevelhafter Keckheit offen und unbedenklich den Wundern Jesu den Krieg. Der Unglaube bläht sich ja stets in Hochmut und Gottesverachtung auf. Und doch hütet er sich, blindlings, dem rasenden Stiere gleich, auf Gott selber loszugehen. Übrigens, wenn Menschen lange Gott widerstrebt haben, endet es immer damit, dass sie schließlich alle Scheu vor der Gottheit ablegen und, den Riesen der griechischen Dichtung ähnlich, sich unterfangen, den Himmel zu stürmen. Gestehen sie es doch hier offen ein: Wir leugnen es nicht! Er tut wirklich viele Wunder! Und wer gab ihm allein die Kraft dazu? Hier ist keine Ausrede mehr möglich! Sie gürten das Schwert um, in der Absicht, die Kraft Gottes, die sich in Christi Wundern strahlend zeigt, zu Boden zu werfen. Gott aber lässt sich nicht spotten. Wenn er auch vorerst zu verziehen scheint, so lacht er doch über ihre alberne Anmaßung. Die Zeit, da er sein Zorngericht hält, bleibt nicht aus (Ps. 2, 12).
Was tun wir? Mit diesen Worten klagen die Pharisäer sich an, sie seien bisher zu untätig gewesen. Sie meinen: nur unser Zaudern ist daran schuld, dass dieser Mensch sich noch frei bewegt. Wir hätten schneller zufahren und ihm das Wundertun austreiben sollen! Soweit geht ja das Selbstvertrauen der Gottlosen. Es gibt nichts, was sie nicht zu können meinen, - als stünde es in ihrer Macht, zu tun, was ihnen beliebt, und als hätten sie den Erfolg ihres Tuns ganz nach Wunsch und Willen in der Hand. Ja, recht betrachtet, stellen sie hier ihre menschliche Geschäftigkeit und die Macht Gottes einander gegenüber, - als könnten sie, wenn sie sich nur recht anstrengten, schon mit Gott fertig werden.
V. 48. Lassen wir ihn also, usw. Was meinen sie eigentlich zu erreichen, wenn sie Christum nicht mehr gewähren lassen? Wie gesagt, zweifeln sie nicht daran, dass es in ihrer freien Verfügung steht, Christo den Weg zu verbieten. Er darf nicht mehr weitermachen, wenn sie sich nur ernstlich ihm entgegenstellen. Wäre Christus ein beliebiger Betrüger gewesen, so hätten sie allerdings die Pflicht gehabt, ihm sein Treiben zu untersagen, damit er nicht Schafe von der Herde des Herrn verführe. Sie bekennen ja aber, dass sie um seine zahlreichen Wundertaten recht gut Bescheid wissen. Damit geben sie zu, dass sie sich nicht im Mindesten um Gott kümmern. Sie haben nur selbstzufriedene, hochmütige Verachtung gegen die Wundermacht Gottes.
So kommen dann die Römer. Das Verbrechen wird mit der schönen Farbe des Eifers für das gemeine Wohl übermalt. Was die Obersten vor allem ängstigte, war der Gedanke: die Herrschaft wird uns entrissen! Dabei geben sie jedoch vor, sie seien besorgt um den Tempel, den Gottesdienst, ja um den guten Namen und die gesamte Lage ihres Volkes. Wozu denn solches Vorgeben? Es sieht doch so aus, als brauchten sie hier gar niemanden durch Heranziehung solcher Vorwände Sand in die Augen zu streuen. Sie predigen ja nicht dem Volke, sondern sind unter sich und schmieden ihre Pläne. Jeder von ihnen weiß: Wir sind alle eines Sinnes in diesem treulosen Spiele! Weshalb sagen sie denn da nicht frei und ungeschminkt heraus, was sie im Herzensgrunde denken? Gottlos sind sie, - aber, mag die Gottlosigkeit auch faustdick sein, sodass man sie mit Händen greifen kann, sie paart sich in der Regel mit Frommtuerei. So abscheulich sie ist, - sie liebt es, sich schlau in allerlei liebliche Hüllen zu stecken; sie möchte gar zu gern aussehen wie die leibhaftige Tugend. So kam es den Obersten vor allen Dingen darauf an, Ernst, Überlegung und Weisheit äußerlich zur Schau zu tragen; sie wollten von den anderen noch für heilige Leute gehalten werden. Immerhin ist es glaublich, dass sie betrogene Betrüger waren und selbst an die schöne Maske glaubten, die sie dem Verbrechen der Verfolgung Christi gaben. Sie logen es sich so lange vor, dass sie ein heiliges Recht dazu hätten, Christum zu verfolgen, bis sie diese Lüge selber glaubten. Freilich hat das Gewissen immer wieder seine Stimme erhoben, aber es ist übertäubt worden. Mit aus der Luft gerissenen Behauptungen beschwichtigen sie die Anklagen des Gewissens und stellen sich, als wäre nichts Sündliches bei ihrem Tun. An Folgerichtigkeit der Gedanken fehlt es allerdings sehr. Anfänglich gestehen sie, dass Christus viele Zeichen tut. Nun auf einmal ist es ihnen bange vor den Römern. Weshalb bange? Wenn sie zu Christo halten, ist ja die ganze Allmacht Gottes, die sich in den Wundern Jesu offenbart, und damit der gewisse Sieg, auf ihrer Seite.
Die Römer. Hauptsächlich haben sie also die von den Römern her drohende Gefahr betont. Sie werden gesagt haben: Merken die Römer, dass in unserem Volksleben eine neue Bewegung auftaucht, so haben wir zu befürchten, dass sie mit ihren Truppen das Land überfluten, unser Volk ausrotten und den Tempel und die Anbetung Jehovahs vernichten. – Wie verkehrt ist doch ein solcher Ratschlag, der Gefahren aus dem Wege gehen möchte, die man eben nur um den Preis meiden kann, dass man den rechten Weg verlässt! Zuerst gilt es doch, zu fragen: Was befiehlt Gott? Was soll nach seinem Willen geschehen? Ist die Antwort auf diese Frage gefunden, so steht alles Weitere in Gottes Hand, sodass man ruhig und getrost dem Kommenden entgegensehen kann. Zu was für einem Entschluss kommen aber diese Leute, weil sie unangenehme Ereignisse verhindern möchten? Jesus muss aus dem Wege geräumt werden! Geschieht das nicht, so kommen die Römer. Ist er denn aber nicht von Gott geschickt worden? Wollen sie sich um den Preis der Verwerfung des Boten Gottes vom Schwerte der Römer loskaufen? Hier sehen wir, wie es bei Leuten zugeht, die nicht in Wahrheit und von ganzem Herzen Gott ehren. Was fragen sie nach Recht oder Nichtrecht? Sie fragen nur nach den möglichen Folgen. Und doch sollte nichts uns von dem gottgefälligen Wege abschrecken, lauerte dort auch der Tod in hundertfacher Gestalt! Ein Christ soll nicht ein flatterndes Fähnchen sein, das jedem Luftzuge nachgibt, sondern soll sich ganz allein von Gottes Willen treiben und bewegen lassen. Wer Unglück und Gefahren verachtet, oder doch die Furcht davor überwindet und Gott einfach Gehorsam leistet, dem wird es zuletzt wohlgehen. Gott segnet über Erwarten das treue Beharren im Gehorsam gegen sein Wort. Die Ungläubigen jedoch, weit entfernt, dass sie von ihren Sicherheitsmaßregeln Nutzen hätten, werden, je furchtsamer sie sind, in immer mehr Schlingen hineinverstrickt. Setzen wir aber auch den Fall, sie könnten erreichen, was sie zu erreichen hoffen, so wäre es doch ein höchst unwürdiger Handel: Gott beleidigen und die Welt versöhnen!
Und nehmen uns das Land, genau übersetzt, „die Stätte“, sodass sich nicht sicher sagen lässt, ob wirklich das Land, oder vielleicht der Tempel gemeint ist. Mit beiden wussten ja die Juden ihr Glück unlöslich verknüpft. War der Tempel zerstört, so hatte es ein Ende mit den Opfern, mit dem feierlichen Gottesdienst und der Anrufung des Namens Jehovahs. Lag ihnen etwas an ihrer Religion, so mussten sie um den Tempel Sorge tragen. Auch das war von hoher Bedeutung für den Zustand der Gemeinde, dass sie vor einer abermaligen Verbannung aus dem heiligen Lande behütet blieb. Die Erinnerung an die Überführung nach Babylon, als an eine besonders strenge Züchtigung, die dem Volke Gottes zuteilwurde, war noch lebendig. Diejenigen Sprüche im Gesetz, die es als einen Fluch Gottes bezeichnen, wenn Israel aus seinem Lande vertrieben wird, waren ja bei ihnen wie Sprichwörter in aller Munde. So machen sie denn den Schluss: Fort mit Christo! Sonst geht es der Gemeinde übel!
V. 49 u. 50. Einer aber unter ihnen, Kaiphas usw. Die Beratung hat nicht lange gewährt, da das Eingreifen des Kaiphas allem Hin- und Herreden ein Ende machte. Nur ein Mittel, das war seine Meinung, gibt es, uns zu retten: den Tod des Unschuldigen! Auf solch verbrecherische Bahn muss ein Mensch geraten, der ohne Gottesfurcht seine Pläne lieber auf seinen fleischlichen Verstand, als auf Gottes Wort baut. So stellt sich der Gedanke ein, dass ein Nutzen für uns aus einem Vorgehen erwachsen könne, welches uns doch vor dem Geber aller guten Gaben nicht erlaubt ist! Kaiphas hätte gerade so gut sagen können: Wollen wir unser Glück machen, so müssen wir den Zorn Gottes herausfordern! O, dass wir es doch lernten, niemals einen Unterschied zu machen zwischen dem, was nützlich und zwischen dem, was Gott wohlgefällig ist. Nur, wenn wir unter den zum Segen aufgehobenen Händen Gottes stehen, kann uns Glück und Freude erblühen. Der Segen Gottes ist nicht den Gottlosen oder den Empörern gegen das Regiment Gottes verheißen, die zu ihrem Tun die Unterstützung des Teufels sich erbitten müssen, sondern nur den Gläubigen, welche in Einfalt auf Gottes Wegen einhergehen. Und doch hat, trotz seiner Abscheulichkeit, der Rat des Kaiphas eine gewisse Berechtigung; der Nutzen des Volkes muss wirklich immer den Ausschlag geben. Wohlverstanden: der Nutzen! Der Nutzen eines Volkes wird jedoch nimmermehr durch frevelhaftes Töten eines Unschuldigen gefördert, - so wenig der Nutzen eines Menschenleibes gefördert wird, wenn man mit dem Schwerte den Kopf vom Rumpfe haut oder damit die Brust durchbohrt.
Der desselben Jahres Hoherpriester war. Er heißt nicht deshalb Hoherpriester des laufenden Jahres, weil die Amtsdauer ursprünglich eine einjährige gewesen wäre, vielmehr deshalb, weil das Hohepriestertum damals ein käufliches Amt geworden war, das gegen die gesetzliche Vorschrift bald dem, bald jenem übertragen wurde. Gottes Wille war, dass dies Ehrenamt nur durch den Tod seines Trägers Erledigung fand. In den Wirren der letzten Zeit war es jedoch dahin gekommen, dass die Römer nach Gutdünken dann und wann mit den Hohenpriestern wechselten.
Der Evangelist gibt nun der Meinung Ausdruck, dass Kaiphas (V. 51) nicht von sich selbst geredet habe, - nicht als hätte er wie ein schwärmerischer Wahrsager selbst nicht verstanden, was er sagte: aber seine Zunge, die einem ganz klaren eigenen Gedanken Ausdruck gab, wurde letzthin von Gott gelenkt und musste trotz aller eigenen Bosheit zugleich eine göttliche Wahrheit aussagen. Gott benutzte den Träger des hohenpriesterlichen Amtes, um von seinen Lippen eine Himmelsbotschaft ausgehen zu lassen; nun war dieser Ratsversammlung erst recht jede Entschuldigung genommen. Wenn auch nicht einer in der ganzen Versammlung sich in seinem Gewissen getroffen fühlte, so haben die Juden doch später gemerkt, dass es keinerlei Entschuldigung für solchen Schlaf ihres Gewissens gab. Ja, sie durften sich nicht einmal auf die Gottlosigkeit des Kaiphas berufen. Seine Zunge war trotzdem ein Werkzeug des heiligen Geistes. Gott gebrauchte sie als solches, indem er, ungeachtet der Unwürdigkeit des Trägers, das Priesteramt selbst, das er ja eingesetzt hat, dessen würdigte.
Und weshalb? Wenn von dieser Stelle aus ein solches Wort vernommen ward, so war zu erwarten, dass es mit Ehrfurcht angehört wurde und entscheidend ins Gewicht fiel. Genau so war es einst bei Bileam (4. Mo. 23, 8): Gott hatte ihm den Geist der Wahrsagung verliehen und setzte es durch, dass er auch sein Volk segnen musste. –
Wenn die Römischen übrigens mit dieser Stelle die Unfehlbarkeit der päpstlichen Aussprüche beweisen wollen, so ist dies nur lächerlich. Wer steht denn dafür, dass der Papst ein von Gott eingesetzter Hoherpriester ist, da doch mit Christi Erscheinung solch Priestertum dahinfiel! Zudem wird es sich hier auch nicht um eine ständige Ausrüstung des jüdischen Hohenpriesters mit dem Geiste der Weissagung handeln, sondern um einen außerordentlichen Fall, der sich nicht verallgemeinern lässt.
V. 51. Denn Jesus sollte sterben für das Volk usw. Die in diesen Sätzen gewählte Ausdrucksweise zeigt, dass unser Heil darin steht, dass Christus uns zu seinem Volke sammelt. Auf diese Weise verbindet er uns von neuem mit dem Vater, dem Quell alles Lebens. So lange bleibt die Menschheit zerrissen und gottentfremdet, bis sie, unter Christo, dem Haupte, vereinigt, zusammenwächst als eine Schar liebender Gotteskinder (vgl. Joh. 17, 11. 21; Eph. 1, 10). Wollen wir im Vollgenusse des Heiles Christi stehen, so muss aller Zwiespalt beseitigt werden, und wir müssen eins werden mit Gott, seinen Engeln und allen wahren Christen. Ursache und Unterpfand dieser Einheit ist der Tod Christi, in welchem er alle Last auf sich genommen hat. Alltäglich eröffnet wird uns aber der Eintritt in Christi Hürden durch das Evangelium.
V. 52. Und nicht für das Volk allein. Die in Christo geschehene Versöhnung erstreckt sich auch auf die Heiden. Aber wie kamen diejenigen zu dem schönen Namen der Kinder Gottes, welche, jammervoll hier- und dorthin zerstreut, sich auf ihren Irrwegen vielmehr als Feinde Gottes erwiesen? Antwort: Das liebende Gottesherz gedachte ihrer schon als Gotteskinder, als sie ihrem ganzen Betragen nach noch irrende, verlorene Schafe waren, ja das Gegenteil von Schafen: Wölfe und reißende Tiere.
Der Erwählung nach sieht Gott sie schon vor der Berufung als seine Kinder an; dass sie es sind, bringen sie erst, sobald sie glauben gelernt haben, sich selbst und anderen zum Bewusstsein.
V. 53. Wie sie ihn töteten. Der Evangelist berichtet wieder von einer Flucht Christi vor der Wut seiner Feinde. Beachten wir nur, dass er nicht geflohen ist, um dem Rufe des Vaters aus dem Wege zu gehen. Nichts anderes hatte er im Sinne, als sich freiwillig zum Tode zu stellen, sobald die vom Vater bestimmte Stunde da war. Der Ratschlag, dessen der Evangelist hier gedenkt, ging nicht sowohl auf Ermordung Christi, als zunächst darauf, wie sie seiner habhaft würden. Sein Tod war beschlossene Sache; nur das bedurfte noch der Erwägung, wie man diesen Beschluss zur Tat machen könnte.
V. 54. Genannt Ephrem. Entweder ist der Name dieser Stadt damals anders ausgesprochen worden, als in alter Zeit, oder es ist ein ganz neuer Name. Bekanntlich besteht ein bedeutender Unterschied in der Sprache Israels vor und nach der babylonischen Verbannung; gleichzeitig wandelte sich auch das Bild des heiligen Landes in geographischer Beziehung. So kann es uns nicht wundern, dass hier und da Ortschaften genannt werden, die in den alttestamentlichen Schriften nicht vorkommen. Jünger Christi heißen hier nicht alle, welche seine Lehre angenommen hatten, sondern nur die, welche auf seinen Wanderungen seine ständigen Begleiter waren.
V. 55 bis 57. Es gingen viele hinauf. Es bestand kein ausdrückliches Gebot darüber, dass man sich vor dem Passahopfer reinigen solle. Deswegen sagt der Evangelist nicht: alle, sondern nur: viele gingen hinauf. Unrein durfte niemand am Passahmahle teilnehmen. Damit nun infolge der Reinigungszeremonien keine Verzögerung des Mahles einzutreten brauchte, gingen die levitisch Unreinen schon vor Beginn des Festes nach Jerusalem hinauf. Durch Wiedergabe der unter diesen Festgästen hinüber- und herübergehenden Frage will der Evangelist zeigen, dass Jesus damals den allgemeinen Gesprächsstoff im Lande abgab. Nach ihm fragt ein jeder, der zum Tempel kommt, nicht bloß die Leute dieser oder jener Gegend. Die Frage ist anscheinend harmloser Natur, und doch ist sie ein Zeugnis für die Gewaltherrschaft der Priester; sie allein sind schuld daran, dass Jesus nicht offen auftritt.