Anselm von Canterbury – Buch der Betrachtungen - Sechste Betrachtung. Zur Geistesstärkung, dass wir nicht verzweifeln: weil, wenn wir wahre Buße tun, wir ohne Zweifel wahres Mitleiden mit unsern Sünden finden werden.
Werfe ich einen Blick auf meine begangenen Sünden zurück, und begreife ich die Strafen und Qualen, die ich für sie zu leiden schuldig bin, so habe ich keine kleine Furcht. Sehr geängstigt also und in großer Furcht über mein Verderben, suche ich nach, ob ich nicht etwa irgend einen Trost irgend wo finden möchte. Aber ach ich Unglücklicher, ich finde keinen; weil ich darüber in Gewissheit lebe, nicht allein meinen Schöpfer, sondern ihn sowohl, als auch alle seine Geschöpfe beleidigt zu haben. Also verdammt mich mein Schöpfer, da er samt allen seinen Geschöpfen durch meine Sünden schwer beleidigt ist: mein Gewissen, seiner bösen Werke gewiss, klagt mich von allen Seiten an. Und so finde ich keinen Trost und wie ich meine, finde ich ihn nicht leicht irgend wo. Was will ich also machen? wohin soll ich mich wenden in dieser Verlassenheit, in dieser Verwicklung in die Bosheiten meiner Sünden? Will ich zu dem, der mich recht erschaffen hat, zurückkehren und flehe ich seine unaussprechliche Liebe an, er möchte mit mir Mitleiden haben; so fürchte ich nicht wenig, ihn für so große Unbesonnenheit noch mehr zum Zorne über mich zu reizen, und er möchte dafür sich noch schwerer an meinen Vergehungen rächen, wodurch ich seine Milde in Härte zu verwandeln mich nicht scheute. Was nun? Soll ich wie ein Verzweifelter ratlos, hilflos bleiben? Noch lässt mich mein Schöpfer leben: noch lässt er nicht nach, mir das, was zur Erhaltung dieses Lebens nötig ist, mitzuteilen. Und wie ich aus der Erfahrung selbst weiß, können meine Sünden seine Güte nicht bezwingen, dass er jetzt schon mich, wie ich es bereits verdient habe, bestürzt machen und gänzlich zu Grunde richten möchte. Es ist also ganz gewiss, dass er liebevoll gegen mich ist, da er mir so große Güter erteilt und an meinen Übeltaten sich noch nicht zu rächen sucht.
Ich habe gehört, und nach dem Zeugnis Erfahrener ist es wahr, was ich gehört habe, dass die Quelle der Barmherzigkeit selbst, die seit dem Beginn der Welt zu fließen anfing, noch fließt. Er war aber (wie man sagt) voll Barmherzigkeit und Liebe gegen unsern Stammvater Adam, als er jene Sünde mit der verbotenen Frucht beging, dass er ihn nicht sogleich, wie er es verdient hatte, mit ewiger Verdammnis bestrafte; sondern er wartete geduldig auf dessen Besserung und stand ihm barmherzig bei, um sich mit dem, den er beleidigt hatte, wieder auszusöhnen. Zu dem Ende aber sandte er ihm sowie allen seinen Nachkommen zum Öfteren seine Engel mit der Ermahnung zur Rückkehr zur Buße für ihre Bosheiten; weil er sie gerne wieder annehmen würde, täten sie von ganzem Herzen Buße über ihre Sünden. Sie aber verhärteten sich noch mehr in ihren Sünden und verachteten seine Gebote, und häuften so Sünden auf Sünden und wurden wie unsinnig und abscheulich in ihren Bosheiten, obgleich sie wegen der Ähnlichkeit mit Gott in Ehre erschaffen worden. waren, und fingen daher an, dem Benehmen der Tiere naturwidrig nachzuahmen. Überdies sandte er Patriarchen, er sandte Propheten, aber auch so wollten sie ihre krummen und verkehrten Wege nicht verlassen, sondern sie töteten einige von denen, die ihnen Heilsermahnungen gaben; andere quälten sie mit mannigfaltigen und unerhörten Qualen. Jedoch züchtigte er sie zuweilen, nicht um wie ein barmherziger Vater, gereizt von ihren bösen Werken sich an der Schmach zu rächen, die sie ihm antaten; sondern damit sie sich bessern und zur Barmherzigkeit dessen zurückkehren möchten, der keineswegs das Verderben derer will, die er durch seine Güte erschaffen hat. Da sie aber weder auf seine öftere Heimsuchungen noch auf seine Ermahnungen und Strafe umkehrten, so konnte die Quelle der Liebe nicht mehr länger an sich halten, sondern aus dem Schoß des Vaters herabsteigend nach Annahme wahrer Menschheit, nach Annahme der Sünder-Ähnlichkeit fing er an, sie lieblich zu mahnen, dass sie wenigstens jetzt Buße über ihre Sünden tun und ihn als Sohn Gottes erkennen möchten. Denn er war um ihres Heils willen gekommen, und darum sollten sie nicht verzweifeln, sondern mit aller Zuversicht des Glaubens leben, dass ihnen noch Vergebung für alle Sünden zu Teil werde, wenn sie nur davon ließen und Buße täten. Denn es gibt keine so schwere Sünde, die nicht durch Buße getilgt werden könnte, so dass sogar der Satan auch nicht mehr nur im Stande wäre, sich ihrer zu erinnern. Wie nun die Sünder die so große und süße Liebe ihres Schöpfers sahen, begannen auch sie in die Wette zur Quelle der Barmherzigkeit zu laufen, zur Quelle der Liebe und ihre Sünden darin abzuwaschen. Aber die Quelle der Liebe selbst fing an, mit den Sündern zu essen, fing an, ihnen die Geheimnisse heiligen Bekenntnisses zu erschließen, durch welches jede Sündenlast gehoben wird; denn in einem wahrhaften Bekenntnisse wird jede Sündenmakel getilgt.
Als hierauf die Zeit nahte, in der er um der Sündenerlösung willen leiden sollte, kreuzigten ihn die Juden, deren Stammverwandter er dem Fleische nach ist, aus Neid, und zwar dafür, dass er liebevoll und barmherzig war. Er jedoch war auch selbst im Tode wohl eingedenk seiner Liebe, und bat daher für seine Mörder seinen Vater, er möchte ihnen diese Sünde vergeben. Denn sie wissen nicht, sagte er, was sie tun (Luk. 23, 24.). Die freundlichste Liebe des Herrn entschuldigt sie, der den Tod des Sünders nicht will, sondern dass er sich bekehre und lebe. Wessen Herz sollte nun so hart und so steinern sein (Ezch. 33,11.), dass die so große Sanftmut unseres Schöpfers es nicht erweichen könnte? Obwohl ihn sein Geschöpf, das er nach seinem Bild und seiner Ähnlichkeit aus Nichts erschuf, mit Vielem entehrte, rächte er sich nicht, sondern trog aller Entehrung und Erbitterung durch ihre bösen Werke ertrug er es geduldig und mahnte freundlich, sie sollten ohne Zaudern zu ihm zurückkehren. Wie es also durch den Propheten gesagt ist, will unser liebevoller und freundlicher Herr Jesus Christus den Tod des Sünders nicht, sondern dass er seine böse Wege verlasse (Ezch. 18,23.), und so Buße über seine Bosheiten tuend bei seinem Schöpfer wieder zu Gnaden komme. Wie barmherzig er auch gegen eine sündige Seele sei, sagt er durch einen andern Propheten, indem er sie mahnt, auch nach der Sünde zu ihm zurückzukehren, und sie werde Barmherzigkeit finden. Er sagt: Du aber hast Hurerei mit vielen Liebhabern getrieben (Jerm. 31,1.), das heißt, du, die du in der Taufe mir Treue gelobt hattest, besudeltest und beflecktest deine Keuschheit mit vielen Liebhabern: tu jedoch Buße und kehre zu mir zurück; so will ich dich aufnehmen. Es verzweifle also kein Sünder, wenn eine, die mit vielen Liebhabern gehurt hat, Annahme findet, weil Jesus Christus, die Quelle der Liebe und Barmherzigkeit, von keinen Bosheiten erschöpft, von keinem Verbrechen besudelt wird, sondern stets rein und überfließend von freundlicher Gnade, alle Kranken und Sünder, die zu ihm zurückkehren, annimmt und von ihnen alle Sündenmakeln, mit denen sie befleckt sein mögen, abwäscht. Und damit alle Sünder und Boshaften der Vergebung ihrer Sünden gewiss seien, wenn sie darauf bedacht sind, eben diese ihre Sünden zu lassen und Buße zu tun; so ließ die Quelle der Liebe selbst um der Liebe willen, die er zu ihnen hatte, das nämliche Fleisch, das er ihnen zu lieb annahm, wie ich etwas weiter oben auseinandergesetzt habe, kreuzigen, damit die, die im Sündentod waren und nicht anders ins Leben zurückkehren konnten, als durch den Erlösungspreis seines Todes, keineswegs verzweifeln möchten, indem sie den Preis sehen, der für ihre Sünden gegeben worden ist.
Wenn ich die so große Liebe meines Herrn Jesu Christi sehe, und wie so viele Sünder und Übeltäter zur Quelle der Liebe laufen, keiner davon ausgeschlossen wird, und Jedermann Aufnahme findet: soll ich allein verzweifeln, die Quelle der Liebe selbst, die Andere abgewaschen hat, möchte meine Sünden nicht abwaschen können? Ich weiß, gewiss weiß ich, und glaube in Wahrheit, dass der, der Andere abwusch, auch mich abwaschen kann, und mir, wenn er will, alle meine Sünden erlassen kann, weil er der Mächtigste ist. Aber zwischen einem Sünder und einem Sünder ist ein großer Unterschied, das heißt zwischen jenem, der mehr sündigt, und dem der weniger sündigt. Indem ich also erwäge, wie sehr ich gesündigt habe, und durch wie große Übeltaten meine unglückliche Seele befleckt worden ist, so sehe ich ein, dass ich nicht allein andern Sündern gleich, sondern ein größerer Sünder als irgend einer, ein größerer als alle Sünder bin. Denn Mehrere haben gesündigt, und dann damit aufgehört: wenn auch Einige öfters gesündigt haben, so machten sie doch ihren Bosheiten einmal ein Ende. Wieder Andere, obgleich sie viel Böses getan haben, unterließen sie es auch nicht, viel Gutes zu tun, und dadurch verdienten sie teils die gänzliche Vergebung ihres Bösen selbst; teils den Gewinn, eine erträglichere Höllenstrafe selbst zu bekommen. Ich Unglücklicher aber, der unglücklichste aller Unglücklichen und der größte aller Sünder, sah ein und wusste, in welch großes Verderben die Sünde und die Freude an der Sünde mich ziehen würde, und ließ doch niemals mit Sünden und Übeltaten nach; sondern ich fügte Sünden auf Sünden, und ich Unglücklicher stürzte mich so gänzlich mit völlig freiem Willen in das Verderben der Sünde; und duldete mich nicht die unermessliche Güte des Herrn auch noch, so hätte ich schon längst von der Hölle selbst verschlungen werden müssen. Ich nun, der so gelebt, so großes Böse verübt, mich in so große Übeltaten verwickelt habe, wie werde ich es wagen, mit andern Sündern, die so großes Böse nicht getan haben, zur Quelle der Barmherzigkeit zu laufen; um meiner abscheulichen Vergehungen willen möchte sie wohl nicht mich wie andere Sünder, deren Abscheulichkeit erträglicher ist, abwaschen? Komm also, Herr Jesus Christus, komm zu Hilfe deinem Geschöpfe, obgleich es ganz verschüttet ist von einer Sündenmenge; siehe, es ist ja doch von dir erschaffen worden, komm zu Hilfe, dass es nicht verzweifelt; denn wie wir glauben, kann dich kein Unmaß von Verbrechen überwinden, mag nur der Sünder an deiner Barmherzigkeit nicht verzweifeln.
Lass mich also, Herr Jesus Christus, lass mich also deine unaussprechliche Liebe sehen, und erzählen, wie freundlich und gut du gegen die Sünder und Elenden bist. Eben das sagte ich etwas weiter oben: aber es macht mir viel Vergnügen, so oft sich eine passende Gelegenheit bietet, mich daran zu erinnern, wie groß die Gnade deiner Freundlichkeit gegen uns Sünder ist. Denn um der Liebe und Erlösung der Sünder willen, nicht bloß jener, die mehr oder weniger sündigen, sondern auch jener, die kein Maß im Sündigen halten, stiegst du, wenn sie nur Buße tun mögen, aus dem Schoß des Vaters herab und gingst in den Leib der Jungfrau ein, nahmst wahres Fleisch von ihr an, hieltst dich auf der Welt auf und riefst alle Sünder zur Buße; zuletzt ließt du dir noch das Kreuzholz ihnen zu lieb gefallen, und so - dem Fleisch nach gestorben - gabst du ihnen das Leben, das sie mit Recht um ihrer Sünden willen verloren hatten, zurück. Wenn ich daher auf die bösen Werke, die ich vollbracht habe, zurückblicke, so bin ich meines Verderbens gewiss, wenn du mich nach dem, was ich verdient habe, richten willst: blicke ich aber auf deinen Tod hin, den du für die Erlösung der Sünder gelitten hast, so verzweifle ich nicht an deiner Barmherzigkeit. Jener Räuber aber, der für seine Verbrechen mit dir gekreuzigt worden ist, war bis zu seinem Lebensende immer in Sünden; dennoch aber fand er Barmherzigkeit selbst in seiner Todesstunde, weil er sein Böses bekannt und seine Schuld laut bekannt hat, und war bei dir noch am nämlichen Tag im Paradies. Indem ich nun sehe, wie du für die Erlösung der Sünder gestorben, deine Hände und Füße mit Nägeln angeheftet, deine Seite mit einer Soldatenlanze geöffnet worden, eine Welle von Blut und Wasser eben aus deiner Seite lief, soll ich da verzweifeln? Eines nur ist es, was du willst, ohne das kein Sünder gerettet werden kann: dass wir nämlich für unser Böses Buße tun und dafür sorgen, uns möglichst zu bessern. Tun wir das, so sind wir beruhigt; denn wenn uns der letzte Tag bei solchem Tun trifft (wir haben ja auch das Beispiel des Räubers, der noch in der letzten Stunde sich solche Rettung erwarb), so sind wir im Stande, im Vertrauen auf die unaussprechliche Liebe unseres Herrn Jesu Christi die Anklage des Feindes wenig oder ganz und gar nicht zu fürchten. Indem wir also vor unsern Augen haben den Preis unserer Erlösung, nämlich den Tod und das Blut unseres Erlösers, welches zur Vergebung für unsere Sünden vergossen worden ist; indem wir das Beispiel des Räubers und Vieler haben, die in viele und große Sünden verwickelt waren, welche Jesus Christus, die Quelle der Liebe selbst, barmherzig losgesprochen hat, wollen wir nicht verzweifeln, sondern beruhigt über die Vergebung der Sünden zur Quelle der Liebe selbst laufen, in der wir schon so viele und so große Sünder abgewaschen sehen und erkennen: und wir wollen darüber gewiss sein, dass auch wir ebenso von dem nämlichen Quelle abgewaschen werden werden, wenn wir uns nur unserer Bosheiten und Sünden enthalten und nach Kräften darum bekümmert sind, hinfort Gutes zu wirken. Uns aber des Bösen enthalten und Gutes tun, das können wir mit unserer Kraft ohne seinen Beistand nicht vollbringen. Flehen wir also seine unaussprechliche Barmherzigkeit an, der es am Herzen lag, uns zu erschaffen, als wir nicht waren, er möchte uns verleihen, in diesem Leben, bevor wir es verlassen, unsere Sünden gut zu machen, und so durch beständige Züchtigungen uns davon zu reinigen, dass wir an seinem Ende, in geradem Laufe, ohne Aufenthalt, zu ihm zu gelangen vermögen, um bei ihm zu sein in beständiger Klarheit in Verbindung mit den Engelchören und allen Heiligen, die bereits in ihrem ewig freudvollen Genuss sind.