Vinet, Alexandre - Ein Kennzeichen des Christentums.

Vinet, Alexandre - Ein Kennzeichen des Christentums.

Offenb. St. Joh. XIV, 6.
Und ich sah einen Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewig Evangelium, zu verkündigen denen, die auf Erden sitzen und wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern, und Sprachen und Völkern.

Unter den Ungläubigen, welche mit der größten Hartnäckigkeit den Schlussfolgerungen der Verteidiger der christlichen Lehre widerstehen, gibt es ohne Zweifel wenige, welche nicht zu erklären bereit wären, dass ein sichtbares Zeichen, ein authentisches Wunder sie nicht unnachgiebig finden würde. Zeigt uns, werden sie Euch sagen, was St. Johannis sagt, gesehen zu haben: „Einen Engel, der durch den Himmel fliegt, ein ewig Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden sitzen und wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern, und Sprachen und Völkern,“ und wir werden uns bekehren. Das heißt mehr versprechen, als in der Macht des Menschen steht; die Wunder bekehren nicht; ihr Anblick kann den Verstand überzeugen; das Herz bedarf jenes Machtbeweises, welcher allein dem Geiste Gottes angehört. Aber dennoch, wenn ganz festgestellte, ganz augenscheinliche Wunder im Stande sind, auf den Geist einen Eindruck hervorzubringen, welcher ihn geneigt macht, die Botschaft des Himmels zu empfangen, so sollten die Ungläubigen doch nicht mehr nach der Vision von St. Johannis verlangen, sie haben etwas, was noch besser ist; diese Vision ist ein Bild, wovon sie die Wirklichkeit haben; eben so gut und, in gewisser Art, besser wie St. Johannes können sie diesen Engel sehen, „welcher durch den Himmel fliegt, ein ewig Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden sitzen und wohnen.“ Ich meine, dass sie in dem Christentum ein Gepräge von Dauer und von Allgemeinheit erkennen können, welches wenigstens eben so schlagend für die Vernunft ist, als es der Anblick eines durch den Himmelsraum fliegenden Engels für die Augen und für die Phantasie sein könnte. Wenn sie ein Wunder verlangen, hier ist eins; denn was wollen sie mit dem Namen eines Wunders bezeichnen, wenn sie diesen Namen einem Faktum verweigern, welches einzig in seiner Art, unbegreiflich in seiner Entstehung, aller Wahrscheinlichkeit zuwider, jeder Folgerung unzugänglich ist, und welches, bevor man es verwirklicht gesehen, Jedermann für unmöglich gehalten haben würde?

Mögen Sie geneigt sein, uns eine Aufmerksamkeit zu schenken, wie sie der Gegenstand erfordert; dann hoffen wir, dass die Tatsache, welche wir Ihnen vorführen, Eindruck genug auf Sie machen wird, um Sie zu weitern Forschungen und zu einer ernstlichen Untersuchung des Evangeliums anzuregen.

Die Frage, welche wir Ihnen und uns vorlegen, ist diese: Liegt es in der Natur der Dinge, dass eine Lehre, deren hauptsächliche Ideen durch die Vernunft nicht bewiesen, noch weniger durch dieselbe entdeckt werden können, dass eine solche Lehre zu allen Zeiten lebe, und bei allen Nationen Eingang finde, und nicht allein das, aber dass eine solche Lehre zu diesen Zeiten und bei diesen Nationen das belebende Prinzip der Moral, und das befördernde Element der Fortschritte des menschlichen Geistes werde?

Antwortet, wenn es Euch gefällt; aber bedenkt wohl, dass die Beispiele, welche Ihr anführen wollt, keiner der in meiner Frage aufgeführten Bedingungen entbehren dürfen. Es handelt sich um eine Lehre, deren Ideen durch die reine Vernunft weder bewiesen, noch entdeckt werden können. Es handelt sich um eine Lehre, welche geeignet sei, alle Zeiten und alle Nationen zu umfassen. Es handelt sich um eine Lehre, die das leitende Prinzip in dem Leben derer setzt, welche sie annehmen. Es handelt sich um eine Lehre, welche dem Gesetze des Fortschritts, des moralischen Geistes und dem ansteigenden Gange der Zivilisation förderlich sei. Vier Bedingungen, von welchen jede wesentlich ist.

Ich kenne wohl eine Lehre, welche allen Zeiten und allen Nationen gemein ist: es ist die von dem Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, zweier Dogmen, welche unzertrennlich sind, und die vereint das bilden, was man natürliche Religion genannt hat. Sie ist in der Tat natürlich, insofern die Natur überall der menschlichen Seele die Elemente derselben gelehrt zu haben scheint. Sie ist überall eines der ersten Produkte der Vernunft des Menschen, und eines der ersten Ergebnisse seiner intellektuellen Tätigkeit. Sie ist der Schluss einer so einfachen und so schnellen Gedankenfolge, dass die Gedankenfolge, so zu sagen, verschwindet, und dass die Seele diese Wahrheiten durch unmittelbare Anschauung gewonnen zu haben scheint. Sie ist universal, wenn man will, weil sie natürlich ist, und es ist eine positive Religion, von der wir diesen Charakter der Universalität verlangen. Aber, sobald die natürliche Religion bestimmte Formen anzunehmen meint, hört die Einstimmigkeit auf, keine menschliche Kraft würde sie bewerkstelligen können. Sobald die natürliche Religion sich zu einer positiven Religion macht, kann sie nicht mehr die Religion des Menschengeschlechtes sein.

Aber zum wenigsten, wird man sagen, wenn eine positive Religion nicht universal sein kann, so gewinnt sie vielleicht nach der Seite der Zeit, was sie nach der Seite des Raumes verliert.

Geben wir dies als Annahme zu; aber man muss gestehen, dass dies nur noch die Hälfte der Bedingung ist, welche wir gestellt haben; wir haben nicht bloß von allen Zeiten, sondern auch von allen Orten gesprochen; also wenn man uns eine positive Religion zeigte, welche in einem Winkel der Erde von Anfang der Welt bis auf unsere Zeiten herrschte, so hätten wir das Recht, dies Beispiel zu verwerfen. Nehmen wir es jedoch an, aus Nachgiebigkeit und in Ermangelung eines besseren. Es gibt Religionslehren, welche uralt sind; mit wenigen Veränderungen in den Details sind die Grund-Ideen derselben geblieben, und sie scheinen unveränderlich, wie die physische Konstitution des Volkes, welches sie bekennt, unzertrennlich von dem Boden, der sie trägt. Wenn die Universalität ihnen fehlt, so muss ihnen die Dauer, in gewissem Sinne, zugestanden werden. Aber sind sie, wie ich es verlangt habe, geeignet, als moralische Triebfeder zu dienen, sind sie der natürlichen und progressiven Entwickelung des menschlichen Geistes förderlich? Nein, die einen dieser Lehren haben keine Verbindung mit dem Leben, die andern schaden dem Herzen und den geselligen Beziehungen, und alle ketten den menschlichen Geist in starre Formen. Alle zeigen uns das Phänomen eines Volkes, welches, überrascht, könnte man sagen, durch eine plötzliche Erstarrung, in den vorgerücktesten Perioden seiner Existenz die Sitten, die Meinungen, die Tracht, die Einrichtungen, die Sprache, die ganze Art und Weise zu sein bewahrt, inmitten welcher diese moralische Katastrophe es ergriffen hat. Behauptet man aber im Gegenteil, dass es der Geist des Volkes ist, welcher den Glauben festgestellt hat, und dass seine Sitten seine Religion gemacht haben, dann ist diese Religion nicht die, welche wir verlangt haben, nämlich eine Lehre, welche fähig ist, auf das Leben einen Einfluss auszuüben, und den Lebenswandel zu bestimmen.

Indem wir die verschiedenen bekannten Religionen durchgehen, in welche sich die Völker geteilt haben, finden wir keine, welche all den von uns gestellten Bedingungen genüge. Der Mohammedanismus hat, außer dass er seine Fortschritte der Gewalt des Schwertes verdankt, den Mangel, die fortschreitende Bewegung des menschlichen Geistes nicht zu begünstigen; im Gegenteil, er unterdrückt sie. Er ist nicht geeignet, in alle Länder einzubringen, denn er hat als notwendiges Gefolge die Polygamie und den Despotismus, welche der Zivilisation zuwider sind. Die Religion von Hindustan hat den Mangel, nicht moralisch, der sozialen Kultur und der Freiheit nicht förderlich zu sein; es würde ihr überall ihr Boden und ihr Himmel mangeln, für welche allein sie gemacht ist. Der jüdischen Religion mangelt die Allgemeinheit dermaßen, dass sie dieselbe nicht will, dass sie dieselbe zurückstößt; es ist eine ganz nationale, ganz lokale Religion. Außerhalb Palästina ist sie eine Verbannte. Es mangelt allen andern Religionen alles, was denen mangelt, welche wir so eben genannt haben: die Universalität, die Dauer, die Moralität und die Sympathie für den Fortschritt.

Dies ist schon eine Antwort auf die Frage, welche wir gestellt haben; denn es ist nicht geschehen, dass eine positive Religion alle aufgezählten Bedingungen erfüllt habe; man kann mit einer Art von Sicherheit sagen, dass dies nicht in der Natur der Dinge liegt. Wenn die Sache möglich wäre, hätte sie da nicht stattgefunden? Wenn sie nicht stattgefunden hat, wird sie da jemals geschehen?

Aber zieht man die Natur der Dinge selbst zu Rate, unabhängig von den Nachweisungen der Geschichte, so wird man dieselbe Antwort erhalten. Kein Mensch kann der Menschheit eine Religion geben. Handelt es sich um die natürliche Religion? es ist die Natur, welche sie gibt; und ein Mensch kann höchstens die Dogmen derselben in Formen bringen, die Vorschriften derselben ordnen und aufzeichnen; er gibt der Menschheit nur wieder, was er von der Menschheit empfangen hat. Handelt es sich um eine positive Religion, ich meine eine Religion, deren Dogmen die menschliche Vernunft nicht von selbst entdeckt hätte? ich frage, was für ein Herz, welche Einbildungskraft, welche Vernunft, was für eine Ausdehnung des Genies, welche wunderbare Divinationsgabe setzt man bei einem Menschen voraus, um anzunehmen, dass diese Dogmen seiner Empfindung, diese Dogmen, welche die Natur nicht gelehrt hat, in jedem Lande angenommen werden, dass sie zu jeder Zeit zeitgemäß sein, sich auf alle Zustände der Menschheit und der Gesellschaft anwenden lassen werden, mit einem Wort, dass sie in der Tat die Religion des Menschengeschlechts bilden können und bilden werden.

Man spricht mit ein wenig Unbedachtsamkeit von Männern, welche ihrem Jahrhunderte voraneilen, und welche den Geschlechtern ihren individuellen Charakter ausdrücken. Dies sind, meistenteils, Männer, welche die dominierenden Meinungen ihrer Zeit besser verstanden, in bestimmtere Formen gebracht und mit mehr Kraft ausgedrückt haben. Sie haben dargelegt, was ihr Jahrhundert in sich trug. Sie haben in dem Brennglase ihres Genies Strahlen von Wahrheit konzentriert, welche, verteilt in der Welt, diese noch nicht hatten entzünden können. Aber ihr Genie, der treue und starke Ausdruck einer Zeit und eines Landes, welche sie zu dem gemacht haben, was sie sind, war nicht unermesslich, wie das Genie der Menschheit. Selbst Menschen, haben sie ein menschliches Werk gemacht, ein partielles, relatives, begrenztes Werk. Errät ein Wesen, indem es sich von seinem Lande, von seiner Zeit, ich gehe noch weiter, von seiner Individualität isoliert, das Faktum, die Idee, das Dogma, welches den Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten bewegen, bekehren, beleben wird - dies Wesen ist nicht ein Mensch, es ist ein Gott.

Und behaltet wohl im Auge, dass ich nicht verlange, dass seine Religion in der Tat die Religion aller Zeiten, aller Orten und aller Menschen werde. Erstens muss sie Zeit haben, Wurzel zu fassen, und wir fordern nicht, dass sie bei ihrem ersten Auftreten die ganze Welt überziehe. Zweitens haben wir nicht alle Zeiten vor uns, und so lange die Zukunft der Welt nicht ganz verflossen sein wird, können wir, streng genommen, nicht sagen, dass etwas aller Zeiten ist. Endlich setzt jede wahre Religion Freiheit, und die Freiheit die Möglichkeit des individuellen Widerstandes voraus. Wir verlangen nur, und man hat es wohl verstehen müssen, dass eine hinreichende Menge von Erfahrungen bewiesen habe, dass die in Rede stehende Lehre eine solche ist, dass kein Ort, kein Klima, kein Umstand der Zeit und des Orts, keine physische und moralische Konstitution ein Hindernis für sie sei, eine verhängnisvolle Grenze, die sie nicht überschreiten kann, oder, um uns kürzer auszudrücken, dass sie den allgemeinen und beständigen Bedürfnissen der Menschheit entspreche, unabhängig von allen zufälligen, vorübergehenden und lokalen Umständen. Das ist es, was wir verlangen.

Wenn es eine Religion Gottes auf der Erde gibt, so muss sie diesen Charakter der Allgemeinheit und der Fortdauer haben; denn wer kann zweifeln, dass die Liebe Gottes nicht die ganze Menschheit umfasse, und wie ist anzunehmen, dass Gott nicht zur ganzen Menschheit spreche? Gott kann nicht eine Zeit, ein Land, ein Volk im Auge haben, sondern Alles, was ein Menschenherz in sich trägt; und sobald er spricht, so geschieht es für das ganze Menschengeschlecht. Wenn es ihm gefiele, ein Volk unter den Völkern der Erde auszuzeichnen, so würde dies noch im Hinblick auf das Menschengeschlecht geschehen; das, was er für dieses Volk im Speziellen sagen würde, würde nicht eine ewige, unendliche Bestimmung haben; diesen Charakter würde nur das annehmen, was sich, in dieser besonderen Nation, an die allgemeine Menschheit richten würde, und sein Wort würde die vorübergehende Existenz eines Volkes nur gebildet haben, um vermittelst desselben ein Volk, entnommen aus allen Völkern der Erde, ein geistiges Volk, ein Volk von heiligen Seelen zu bilden.

Wir kehren jetzt den Satz um, und wir sagen: Wenn es eine ähnliche Religion gibt, so kann sie nur von Gott sein. Es geschieht schon dieser Eigenschaft wegen, d. h. ihrer Allgemeinheit wegen, dass wir die natürliche Religion als eine solche anerkennen, die von ihm ist. Aber wenn es, außer dieser natürlichen Religion, noch eine positive Religion auf der Erde gibt, welche den Charakter, den wir im Auge haben, an sich trägt, so sagen wir auch, dass sie von Gott ist, weil es Gott allein angehört, den Menschen, den er gemacht hat, zu begreifen, und der ganzen menschlichen Natur zu genügen; weil folglich Gott allein weiß, wie man zum Menschen reden muss; weil er weder durch die Räume begrenzt, noch durch die Umstände eingeschränkt ist; und wenn der Anschein von Willkür der Dogmen einer positiven Religion uns stutzen macht, bedenken wir doch, dass das, was für Gott notwendig und eine Folge seiner Natur ist, uns sehr gut willkürlich erscheinen kann? dass das, was es in den Offenbarungen Gottes Sonderbares und Unerwartetes für uns geben kann, nichts desto weniger die Notwendigkeit selbst, die unvermeidliche Folge der Vollkommenheiten Gottes ist, der treue und freiwillige Abdruck seines Charakters und seiner Beziehungen zu der Welt.

Nehmen wir daher für gewiss, meine Brüder, dass, wenn es in der Welt eine positive Religion gibt, welche geeignet ist; das Leben zu leiten und den fortschreitenden Gang des menschlichen Geistes zu begünstigen, und welche in keinem Umstande der Zeit und des Orts ein Hindernis findet, dass eine solche Religion von Gott ist.

Dies festgestellt, untersuchen wir, ob es eine solche Religion gibt.

Es ist ein wenig mehr, als achtzehn Jahrhunderte, dass in einem dunkeln Winkel dieser Welt ein Mensch erschien. Ich sage nicht, dass eine lange Folge von Propheten die Ankunft dieses Menschen verkündigt hatte; dass eine lange Folge von Wundern der Nation, in welcher er geboren werden sollte, und dem Wort, welches ihn verkündigte, ein göttliches Siegel aufgedrückt hatte; dass er von den Höhen einer fernen Zukunft seinen Schatten zu den Füßen unserer ersten, aus dem Paradiese verbannten, Eltern geworfen hatte; dass ihn, mit einem Wort, ein großartiger Zusammenhang von Beweisen umgibt und verbürgt. Ich sage nur, dass er eine Religion predigte. Es war nicht die natürliche Religion; die Dogmen von dem Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit der Seele sind überall in seinen Worten vorausgesetzt, niemals gelehrt, niemals bewiesen; es waren nicht, von den ersten Vorstellungen der Vernunft logisch hergeleitete Ideen; was er lehrt, was das Wesen, das Eigentümliche seiner Lehre ausmacht, sind Dinge, welche die Vernunft verstummen machen, zu welchen hin die Vernunft keinen Weg, keinen Zugang hat; er predigt einen Gott auf Erden, einen Gott Menschen, einen armen Gott, einen gekreuzigten Gott; er predigt den Zorn, der den Unschuldigen umfängt, die Verzeihung, die den Schuldigen jeder Verdammung entzieht, Gott Opfer des Menschen, und der Mensch eine Person mit Gott bildend; er predigt eine Wiedergeburt, ohne welche der Mensch nicht errettet werden kann; er predigt die Herrschaft der Gnade Gottes und die Fülle der Freiheit des Menschen. Ich mildere Euch seine Lehren nicht; ich übergebe sie Euch in ihrer Nacktheit; ich suche sie nicht zu rechtfertigen. Nein, Ihr könnt, wenn Ihr wollt, Euch wundern, Euch entsetzen über diese sonderbaren Dogmen; haltet Euch dabei nicht zurück; aber wenn Ihr Euch über ihre Sonderbarkeit genug verwundert haben werdet, dann werde ich, meinerseits, Euch etwas Anderes für Eure Verwunderung vorschlagen: Diese sonderbaren Dogmen haben die Welt erobert. Kaum entfaltet in dem armen Judäa, haben sie das gelehrte Athen, das reiche Korinth, das stolze Rom eingenommen. Sie haben Bekenner in den Werkstätten, in den Gefängnissen, in den Schulen, in den Gerichtshöfen, auf den Thronen gesammelt. Besieger der Zivilisation, haben sie über die Barbarei triumphiert. Sie haben sich demselben Joche beugen lassen den entarteten Römer und den wilden Sigambrer.

Die Formen des geselligen Zustandes haben sich verändert, die Gesellschaft ist umgeschmolzen, erneuert worden; sie haben fortgedauert. Noch mehr: die Kirche, welche sie bekannte, ist unter ihren Gegnern gezählt worden; Herrin der Traditionen, Inhaberin des Wissens, hat sie sich ihrer Vorteile gegen mehrere der Dogmen bedient, welche sie verteidigen sollte; sie haben fortgedauert. Überall und immer haben sich Seelen gefunden, in den Hütten und in den Palästen, denen ein Erlöser wohltuend und die Wiedergeburt notwendig gewesen ist. Weiter seine philosophische, noch religiöse Lehre dauerte fort; jede hatte ihre Zeit, jede Zeit hatte ihre Idee; und, wie es ein berühmter Schriftsteller entwickelt hat, das religiöse Gefühl wählte, sich selbst überlassen, je nach der Zeit, gewisse Formen, welche es zerbrach, wenn die Zeit vorüber war. Das Dogma von dem Kreuze erschien hartnäckig immer wieder. Wenn es sich nur einer einzigen Klasse von Personen bemächtigt hätte, so wäre es schon viel, ja vielleicht unerklärlich gewesen; aber Ihr findet Anhänger des Kreuzes in den Lagern und in dem bürgerlichen Leben, bei den Reichen und bei den Armen, unter den kühnen Geistern und unter den schüchternen Geistern, unter den Gelehrten und unter den Unwissenden. Dieses Dogma ist gut für Alle, überall, immer; es altert niemals. Diejenigen, welche es annehmen, befinden sich nicht hinter ihrem Jahrhunderte: sie verstehen es, sie werden von ihm verstanden; sie gehen mit ihm mit, sie dienen ihm. Die Religion vom Kreuze erscheint nirgends im Missverhältnis zur Zivilisation; im Gegenteil, die Zivilisation mag immerhin vorschreiten, sie findet das Christentum immer vor sich. Glaubet nur nicht, dass das Christentum gefällig irgend eine Lehre ausscheiden wird, um sich mit dem Jahrhunderte in Übereinstimmung zu setzen; nein, es ist seine Unbiegsamkeit, vermöge welcher es stark ist; es hat nicht nötig, in irgend einem Punkte nachzugeben, um in Harmonie zu sein mit allem, was schön, rechtmäßig und wahr ist; denn es ist selbst der vollendete Typus desselben. Es ist dasselbe heute, wie zu den Zeiten der Reformatoren, zu den Zeiten der Kirchenväter, zu den Zeiten der Apostel und Jesu Christi.

Und doch ist es nicht eine Religion, welche dem natürlichen Menschen schmeichelt; die Weltkinder geben, indem sie sich davon entfernen, hinreichendes Zeugnis, dass das Christentum eine sonderbare Lehre ist. Diejenigen, welche es nicht zu verwerfen wagen, bemühen sich, es zu mildern. Man beraubt es seiner Härten, seiner Mythen, wie man sie zu nennen beliebt; man macht es fast vernünftig; aber, wie seltsam! wenn es vernünftig ist, hat es keine Kraft mehr; und, ähnlich hierin einer der wunderbarsten Kreaturen der belebten Welt, wenn es seinen Stachel verliert, ist es tot. Der Eifer, die Inbrunst, die Heiligkeit, die Liebe verschwinden mit diesen sonderbaren Dogmen; das Salz der Erde hat seine Würze verloren, und man weiß nicht, womit man sie ihm wiedergeben soll. Im Gegenteil hört Ihr ganz im Allgemeinen, dass irgendwo ein Erwachen stattfindet, dass das Christentum sich wieder belebt, dass der Glaube lebendig wird, dass der Eifer unaufhaltsam ist? Fraget nicht, auf welchem Boden, fraget nicht, in welchem System diese kostbaren Pflanzen wachsen. Ihr könnt im Voraus antworten, dass es in dem harten und rauen Boden der Orthodoxie geschieht, im Schatten dieser Mysterien, welche die menschliche Vernunft zu Schanden machen, und die sie so gern entfernen möchte.

Dies ist also, unter allen Religionen, die einzige, welche ewig jung ist. Aber vielleicht wird die physische Natur tun, was die moralische Natur nicht tut. Vielleicht werden die Klimata diesen Engel aufhalten, der durch den Himmel ein ewig Evangelium trägt. Ist vielleicht eine gewisse körperliche Organisation eine Bedingung für die Annahme des Evangeliums; aber Ihr zieht mit diesem Wort von dem Europäer zu dem Afrikaner, von dem Neger zu dem Grönländer, von dem atlantischen Meer zu dem stillen Ozean. Überall wurde diese Botschaft erwartet; überall füllt sie eine empfundene Leere aus; überall vervollständigt und erneuert sie das Leben. Die Seele des Negersklaven empfängt dieselben Eindrücke, als die des Isaac Newton. Die hohe Klugheit des Letzteren und die Dummheit des Negers haben wenigstens einen großen Gedanken gemein. - Und überall, bemerkt es wohl, sind die Wirkungen dieselben. Das Kreuz verbreitet eine Klarheit, welche Alles erleuchtet; gleichsam instinktmäßig, ohne mühevolle Ideen-Verbindung, durchschaut man überall dieselben Konsequenzen, erkennt man überall dieselben Pflichten; und, mit verschiedenen Formen, beginnt man überall dasselbe Leben. Überall, wo das Christentum sich Eingang verschafft, nähert sich der zivilisierte Mensch der Natur, erhebt sich der Wilde zur Zivilisation; sie machen, jeder von seiner Seite, in entgegengesetzter Richtung, einige Schritte gegen einen gemeinschaftlichen Punkt, welches der der wahren Geselligkeit und der wahren Zivilisation ist.

Man wird uns vielleicht; bei Gelegenheit dieser zivilisierenden Gewalt des Christentums, einwenden, dass diese nur allein in der erhabenen Moral des Evangeliums liegt, und dass die Wilden nicht durch diese positiven Dogmen, sondern trotz dieser Dogmen bekehrt, zivilisiert werden. Diese Behauptung ist falsch, von welcher Seite man sie auch ansehe.

Bei aller Überlegenheit, welche die evangelische Moral über jede andere Moral hat und welche wir gern zugestehen, machen wir doch bemerkbar, dass diese Überlegenheit weniger in der Natur der Vorschriften, als in ihrer Basis, in ihren Motiven, mit andern Worten, in den mysteriösen und göttlichen Tatsachen liegt, welche das Christentum als positive Religion charakterisieren. Das Evangelium hat die Moral nicht erfunden; einige der schönsten Grundsätze waren seit langem in der Welt in Umlauf. Das Evangelium hat sie nicht sowohl bekannt gemacht, als vielmehr auf eine neue Basis begründet und durch einen neuen Geist belebt; und der Vorzug des Evangeliums besteht weniger darin, dass es eine neue Moral ankündigt, als dass es die Kraft gibt, die alte auszuüben. Allein widersprechen wir nicht; geben wir zu, dass die Moral des Evangeliums viele durchaus neue Dinge enthält; man muss indes zugestehen, dass es in der Welt, und besonders in den Schriften der Weisen des Altertums, eine ziemlich schöne Moral gab; und wenn die Moral eine Kraft für sich hat, eine innere Tugend, so hätte man erwarten müssen, dass die Praxis in einer Art von Verhältnis mit der Theorie stehen würde. Aber ehedem, aber heute, aber immer sind wir getroffen von dem sonderbaren Gegensatz, welcher bei jedem Menschen, und bei der ganzen Menschheit im Allgemeinen, zwischen den Prinzipien und ihrer Ausführung stattfindet; und wir sind gezwungen, einzugestehen, dass, wenigstens in dieser Sphäre, das, was man tut, dem schlecht entspricht, was man weiß, dass das Leben den Überzeugungen schlecht entspricht. Die Kenntnis der Moral ist nicht die Moralität, und das Wissen der Pflicht ist nicht die Jugend.

Diese allgemeinen Beobachtungen sind vollkommen durch die Geschichte der Evangelisierung der Heiden bestätigt. Wenn es eine bekannte und anerkannte Tatsache gibt, so ist es diese, dass man die Herzen der Heiden niemals durch das Predigen der Moral, selbst nicht der christlichen Moral, gewonnen hat. Was sage ich? es ist nicht mehr geschehen durch das Lehren der natürlichen Religion. Fromme Christen, welche sich in diesem Punkte täuschten, wollten die Bewohner von Grönland methodisch durch die natürliche Religion zur offenbarten Religion führen. So lange sie bei diesen ersten Elementen stehen blieben, erweichte, gewann ihre Predigt nicht eine Seele; aber sobald sie, ihre menschliche Methode über Seite werfend, sich entschieden, der von Christus und von Gott zu folgen, verschwanden die Hindernisse vor ihnen, und noch einmal fand sich die Torheit des Kreuzes weiser, als die Weisheit der Menschen. Die Schulen lehren uns, von dem Bekannten zum Unbekannten überzugehen, und vom Einfachen zum Zusammengesetzten; aber es geschehen im Reiche Gottes Dinge, welche alle unsere Ideen über den Haufen werfen; es ist gerade beim Unbekannten, beim Zusammengesetzten, beim Außerordentlichen, wo man anfangen muss; es ist die offenbarte Religion, durch welche der Mensch wieder zur natürlichen hinaufsteigt; man versetzt ihn mit einem Male in den Mittelpunkt der Mysterien; man zeigt ihm Gott Mensch, Gott gekreuzigt, bevor man ihm Gott in seiner Herrlichkeit zeigt; man zeigt ihm den Umsturz vor der Ordnung, das Ende vor dem Anfang. Und wollt Ihr wissen, warum, meine Brüder? Darum, weil der wahre Weg in der religiösen Erkenntnis nicht der ist von Gott zum Menschen, sondern der vom Menschen zu Gott; weil der Mensch, bevor er sich nicht selbst kennt, Gott nicht kennen kann; weil es der Anblick seines Elends und seiner Sünden ist, der ihn zur Versöhnung führt, und es die Versöhnung ist, welche ihm die Vollkommenheiten seines Schöpfers in ihrer ganzen Fülle offenbart; weil, um das berühmte Wort von Augustin zu wiederholen: „ehe der Mensch nicht in die Hölle seines eignen Herzens hinabgestiegen ist, er sich nicht zum Himmel Gottes erheben kann.“ Die christliche Religion ist nicht rein die Kenntnis von Gott, sondern die Kenntnis der Beziehungen des Menschen zu Gott; und der Anblick dieser Beziehungen ist es, welcher das meiste Licht auf den Charakter selbst und die Attribute Gottes wirft, so dass es sehr richtig ist, zu sagen, dass die offenbarte Religion, welche eben die Offenbarung dieser Beziehungen ist, zur natürlichen Religion zurückführt; ich sage, zu dem aller Elementarsten in derselben, ich sage sogar, zu dem Ausgangspunkt der natürlichen Religion, zu der Idee des Unendlichen, zu Gedanken, die man natürliche nennt, und die man übernatürliche nennen sollte. Sie sind uns, in der Regel, nicht so gewöhnlich, nicht so gegenwärtig, nicht so natürlich; und in der Tat, wie viel Menschen hat nicht das Evangelium im tiefsten Materialismus erfasst, um sie, auf dem Wege der christlichen Lehren, zu dem Glauben an das Dasein eines ersten Wesens und an die Unsterblichkeit ihrer Seele zu führen!

Es sind also die Dogmen, die Mysterien, die Sonderbarkeiten des Evangeliums, welche man dem Wilden bringen muss, wenn man sein Herz für die natürliche Religion gewinnen will, von welcher es so entfernt ist, für die gesunde Moral, welche es noch weniger kennt. Aber wenn unsere Gegner alles dieses umstoßen könnten, würden sie nichts desto weniger unter dem Gewichte einer niederdrückenden Schwierigkeit bleiben. Wenn die natürliche Religion und die Moral genügen, um Bekehrte zu machen, genügen sie, um Bekehrer zu machen. Findet Ihr unter denjenigen, welche nicht an die positiven Dogmen des Christentums glauben, Männer, welche bereit sind, dieses mühevolle und gefährliche Apostelamt zu übernehmen: Wohlan, die Philosophen und die Rationalisten mögen sich regen, dass man ihren Glauben an ihren Werken sehe, dass ihr Eifer ihrem Systeme als Beweis, als Bürge diene; sie mögen, aus Liebe zur Moral und zur natürlichen Religion, Eltern, Freunde, Vermögen, Gewohnheiten verlassen, um tief in Urwälder einzudringen, um glühende Sandsteppen zu durchwandern, um den Einflüssen eines tödlichen Klimas zu trotzen, in der Absicht, einige Seelen zu rühren, zu bekehren, zu erretten. Sie mögen für das Reich Gottes nur die Hälfte von dem tun, was kühne Reisende für die Wissenschaft oder für das materielle Wohl ihres Landes getan oder versucht haben. Wie! keiner setzt sich in Bewegung? keiner blickt nur auf? dieser Aufruf hat nicht einen von diesen Freunden der Religion und der Moral, für welche das Kreuz eine Torheit ist, aus seiner Ruhe gerissen? Wie! die Liebe zu Gott, die Sorge für die Seelen, der fromme Proselytismus scheinen nur bei den Anhängern dieser sonderbaren Dogmen von dem Falle des Menschen, von einer blutigen Versöhnung und von einer Wiedergeburt vorhanden zu sein? Meine Brüder, genügt Euch dieser Beweis, und glaubt Ihr, dass es irgend ein anderes Mittel, als unsere Dogmen gibt, um das Reich Gottes auf Erden zu begründen? Also das Christentum ist die positive Religion, welche alle die in unserer Frage aufgezählten Bedingungen vereinigt.

Es sind keine Schlussfolgerungen, welche wir den Gegnern des Christentums darbieten, es sind Tatsachen. Es liegt nur an ihnen, dieses schlagende Kennzeichen des Christentums, wie wir, zu erkennen, wie wir, zu sehen „einen Engel fliegen mitten durch den Himmel, der ein ewig Evangelium zu verkündigen hat denen, die auf Erden sitzen und wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern, und Sprachen und Völkern.“

Es sind Tatsachen, welche wir ihnen geliefert zu haben meinen. Sind sie falsch, so beweise man es. Sind sie wahr, so bestreite man, wenn man kann, die Folge davon. Man erkläre uns durch natürliche Ursachen eine Erscheinung, welche einzig in ihrer Art ist. Man schreibe, wenn man kann, dieser Kraft, diesem Handeln des Christentums ein Ziel vor. Aber will man sich nur die Mühe geben, es zu tun? In der Tat, es ist leichter, die Augen zu schließen, und indem man mit blinden Vertrauen, was man gehört, wiederholt, zu versichern, dass es, nach den besten Ermittlungen, mit dem Christentum vorbei ist; dass es seine Zeit durchzumachen hatte, und dass es sie durchgemacht hat; dass es seine Rolle zu spielen hatte, und dass es sie gespielt hat; und dass „die Huldigungen, welche man ihm noch darbringen kann, nur Blumen sind, welche man auf ein Grab streut.“ Dies Grab, meine Brüder, würde das des Menschengeschlechts sein. Das Christentum bewahrt noch die Welt vor dem Zorne Gottes. Es geschieht vielleicht in Rücksicht seiner Fortpflanzung, dass die Begebenheiten sich drängen, und dass die Völker von einer schrecklichen Krisis heimgesucht werden. Einige Ungläubige, von leichtsinnigem Herzen, werden den Allerhöchsten nicht Lügen strafen, und der außerordentliche Ernst der Umstände wird nicht eine falsche Maßregel der Vorsehung gewesen sein.

Beten wir, meine Brüder, für den Fortschritt des ewigen Evangeliums; beten wir für die stolzen Geister, welche bis jetzt verschmäht haben, es zu kennen. Beten wir, dass es uns selbst immer kostbarer werde, und dass seine Gesetze uns so heilig sein mögen, wie seine Versprechungen uns teuer sind.

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