Vinet, Alexandre - Der Christ im tätigen Leben.

Vinet, Alexandre - Der Christ im tätigen Leben.

Koloss. III, 2.
Trachtet nach dem, das droben ist, nicht nach dem, das auf Erden ist.

Diese Vorschrift und eine Menge analoger, in der Schrift verbreiteter, Erklärungen sind ein Gegenstand des Ärgernisses für viele Leser. Sie sehen darin die Vorsehung Gottes durch sein Wort widerlegt. Es ist Gott selbst, der uns auf die Erde gestellt hat, und er ist es, der will, dass alle unsere Gedanken im Himmel seien. Es ist Gott, der uns durch unseren Körper, durch unsere Bedürfnisse, durch unsere Fähigkeiten in eine enge und notwendige Beziehung zu dieser Welt gesetzt, und er ist es, der unser Herz durch unauflösbare Bande an die Ewigkeit fesseln will. Er ist es, der keine Teilung, keine Vermittlung zulässt, und der uns die Wahl zwischen dem Himmel und der Erde, wie eine Entscheidung zwischen Leben und Tod, vorschlägt.

Kann man sich wundern, sagen die oberflächlichen Leser des Evangeliums, kann man sich wundern, dass, gedrängt von zwei sich widersprechenden Notwendigkeiten, wir uns nach einiger Ungewissheit entscheiden, entweder unser ganzes Leben in die Zukunft zu werfen, oder es ganz in die Gegenwart zu versenken? Wenn Geister, im Gefühl der Unbeständigkeit der Welt, sich beeilen, aus den Räumen eines morschen Gebäudes zu entfliehen, sich in die tiefe Einsamkeit ihrer Gedanken zurückziehen, sich in eine einzige Idee, die der Ewigkeit, konzentrieren, und der Tätigkeit des sozialen Lebens entsagen, um nur allein der Sorge ihrer Seligkeit obzuliegen; wenn andere, der Macht der äußern Eindrücke hingegebene, bewegliche, tätige, wissbegierige Geister, beherrscht durch den Instinkt der Geselligkeit und durch den Reiz zu leben, sich mit Leib und Seele in die Bewegung der menschlichen Angelegenheiten stürzen, und keinen ihrer Gedanken zu der unsichtbaren Welt und zu den ewigen Dingen hinschweifen lassen, so fragen wir noch, kann man sich darüber wundern?

Ah! nein, meine Brüder! man kann sich nicht darüber wundern. Man muss sich nicht wundern, die menschliche Unvernunft nach ihrem Belieben die einfachen Lehren des Evangeliums verändern und verdrehen zu sehen. Aber, wenn man alle seine Unterweisungen als ein Ganzes umfasst, so findet man dort nichts, was, nur entfernt, zur Trennung, zur Scheidung unserer beiden Leben, zur Verstümmelung unserer doppelten Natur führte. Man lernt darin nicht, dass Gott, indem er uns das Evangelium gab, es sich zur Aufgabe gemacht hätte, unsere Natur gewaltsam zu zerreißen, und zwei gleich gebieterische Notwendigkeiten in Kampf treten zu lassen. Man überzeugt sich im Gegenteil, indem man dieses göttliche Buch mit Aufmerksamkeit liest, dass Gott in unserm Leben eine vollkommene und unveränderliche Einheit hat begründen, aus den beiden Prinzipien, aus denen der Mensch gebildet ist, ein einziges Wesen hat machen wollen; dass er nicht eine Tätigkeit auf Kosten der andern hat zerstören, sondern allen einen einzigen Zweck und dem ganzen Leben eine einzige Bedeutung hat geben, nicht den Menschen hat töten, sondern ihn hat erneuen wollen.

Der Einsiedler der alten Zeiten, der wenig aufgeklärte Gläubige, welcher in unseren Tagen das Leben des Einsiedlers wiederfinden möchte, verkennen beide die Absicht des Ewigen. Wenn die christliche Vollkommenheit das Zurückziehen aus dieser Welt verlangt hätte, so würde ihnen Gott eine besondere Welt gemacht haben, wo die Bedürfnisse des Körpers, das Denken an die physische Existenz und die Anforderungen der Gesellschaft niemals den friedlichen Lauf ihres beschaulichen Lebens gestört hätten. Gott hat sie nicht gemacht. Durch unüberwindliche Bande hat er sie an die Welt der Sinne und an die Beziehungen der Gesellschaft gefesselt. Er hat sie gezwungen, für ihre Mitmenschen und diese für sie zu arbeiten, und er hat von diesen nicht weniger verlangt, dass sie für ihre Seligkeit arbeiteten.

In der Tat, meine Brüder, unsere Lage wäre günstig und unsere Aufgabe leicht, wenn es sich nur darum handelte, aus der Welt zu gehen, um Gott zu finden! wenn Gott uns weder den Staub des Kampfplatzes einatmen, noch den Lärm des Kampfes hören ließe! wenn wir triumphieren könnten, ohne gekämpft zu haben! wenn die Religion darin bestände, nicht die Versuchungen zu überwinden, sondern deren keiner zu begegnen! wenn es uns erlaubt wäre, um Heilige zu werden, aufzuhören, Menschen zu sein! und wenn wir unseren Antheil an dieser edlen Last des Menschengeschlechts, wie sich einst ein großer Redner ausdrückte, von uns werfen könnten1).

Dass die Welt, in ihrer jetzigen Gestalt, ihre Versuchungen, ihre Gefahren und ihre Fallstricke hat, daran ist nicht erlaubt zu zweifeln. Dass es weise ist, die Zerstreuungen zu fliehen, selbst alle unnötigen Aufregungen zu vermeiden, so viel als möglich die Ruhe des zurückgezogenen Lebens aufzusuchen, um die Seele zu erquicken, und sehr oft die Stille der Kammer, um sich vor Gott zu sammeln, das sind Regeln, von denen durchdrungen zu sein wichtig ist. Die friedliche Einförmigkeit des Hirtenlebens machte es für Abraham nicht entbehrlich, in dem Schatten der Eichen von Mamre einen für das Gebet geeigneten Ort aufzusuchen; und wie oft zog sich nicht Jesus, unser Heiland, auf den Berg zurück, um seine reine Seele zu seinem und unserm Vater zu erheben! Aber eben so sehr, wie diese Vorsicht der christlichen Weisheit angemessen ist, eben so sehr ist die Idee chimärisch, dass es sich, um die Welt zu fliehen, nur darum handelt, die Berührung mit der Gesellschaft zu vermeiden.

Eitle Hoffnung! in der Tiefe der Wüste und in der stummsten Einsamkeit würden wir noch die Welt wiederfinden. Sie ist nicht ganz allein in dem Getümmel der Welt und in dem Treiben der Gesellschaft; sie ist im Grunde unsers Herzens. Die Welt, das sind unsere Leidenschaften, welche die Einsamkeit nicht unterdrückt, denen sie zuweilen neue Kräfte leiht; alle Übel und Verwirrungen des Lebens kommen nicht daher, um hier die Ausdrücke eines großen Philosophen zu gebrauchen, dass man nicht in seinem Zimmer zu bleiben weiß; sie kommen daher, dass man nicht aus seiner natürlichen Verderbnis hinauszugehen vermag; diese Verderbnis folgt uns in die Tiefe der Wälder und der Wüsten, wie sie uns in die Straßen und auf die Plätze unserer Städte begleitet, während der Christ mitten in den verwickeltsten und schwierigsten Geschäften, und selbst in dem bewegten Leben der hohen Ämter, in seinem Herzen eine Einsamkeit, eine ruhige Welt, eine unzugänglichere Zufluchtsstätte als die seiner Kammer findet, wo er mit seiner Seele lebt, während sein Körper sich tausend Arbeiten hingibt, wo er sich in Frieden sammelt, während seine Person sich zu zerteilen und zu zerstreuen scheint. Mancher Einsiedler lebt in der Welt; mancher Weltmann lebt in der Einsamkeit.

Die Bedürfnisse unsers irdischen Aufenthalts verleugnen, die ganze zeitliche Tätigkeit des Menschen als etwas Verdammliches ansehen, heißt der Weisheit Gottes, welcher uns diese Bedürfnisse, diese Beziehungen, diese Tätigkeit auferlegt hat, einen Schimpf antun. Wie! Er hätte eine Welt erschaffen, deren notwendige Wirkung wäre, ihn zu beleidigen?, Wie! die Natur, die Gesellschaft, die Arbeit, Einrichtungen seiner Vorsehung, wären alles Dinge, die er verflucht hätte? Die Welt, mit der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen und ihrer Bewegungen, wäre nicht, im Gegenteil, ein Tempel, dessen Teile sämtlich zum Ruhme Gottes bestimmt sind? Wie! die Untätigkeit, die Unempfindlichkeit, die Zurückgezogenheit, die Nutzlosigkeit sollten ihn allein ehren? Fern sei uns ein solcher Gedanke! Nicht, indem sie unbeweglich in den Himmeln dastehen, feiern die Gestirne seine Größe und seine Macht; es geschieht, indem sie darin mit eilenden Schritten ihre unermesslichen Bahnen durchlaufen. So auch hat Gott aus unserer Tätigkeit, aus der freien und ausgedehnten Entwicklung unserer Kräfte seinen Ruhm entnehmen wollen.

Es gibt Gefahren im sozialen Leben! Sicherlich, es gibt deren solche, uns zittern zu machen. Aber dies ist Gott gewiss nicht unbekannt; es ist gewiss nicht umsonst geschehen, dass er uns seinen Geist der Heiligkeit versprochen hat; es ist nicht umsonst geschehen, dass Jesus zu seinen Schülern gesagt hat: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Weil es Gott gefallen hat, uns in diese zu fürchtenden Beziehungen zu stellen, ist es da erlaubt, daran zu zweifeln, dass seine Gnade nicht Bedürfnissen, welche sein Werk sind, begegne? Das Gegenteil glauben, hieße, die Güte Gottes und vielleicht auch seine Gerechtigkeit bestreiten.

Bande der Familie und des Vaterlandes, Kultur der Künste und des Verstandes, industrielle und soziale Tätigkeit, ihr seid eine unentbehrliche Bedingung unserer Existenz, ihr seid der Weg, welchen wir zu wandern haben; aber ihr seid nicht das Ziel selbst. Das Ziel ist der Himmel. Also der Irrtum besteht darin, den Weg mit dem Ziel zu verwechseln, und das Mittel mit dem Zweck. Der Irrtum besteht darin, sich fest an die Erde, welche der Weg ist, zu binden, statt an den Himmel, welcher das Ziel ist.

Diese Unterscheidung ist unserm Texte entsprechend. Er sagt keineswegs: Beschäftigt euch nicht mit dem, das auf Erden ist, sondern trachtet nicht nach dem, das auf Erden ist. Benehmt Euch wie Reisende, welche ihren Geschäften die angemessene Aufmerksamkeit schenken, aber welche Eile haben, ihr Vaterland wieder zu sehen. Wirket, aber für den Himmel; arbeitet, aber für Gott!

Arbeitet für Gott, weil dies Eure erste und unwandelbare Bestimmung ist, Eure höchste Pflicht, der erste und letzte Zweck Eurer Existenz. Ach! die törichteste von allen diesen Ideen ist auch die verbreitetste. Wie, wenn wir durch uns selbst existierten, so wollen wir für uns selbst leben! Abhängige Kreaturen in allen Punkten unsers Seins, machen wir uns selbst unser eigenes Gesetz und unser eigenes Objekt! Durch tägliche Entweihung des Heiligsten entziehen wir uns unserm Schöpfer! O, das ist es, was selbst in den vorzüglichsten Seelen, den tiefen und allgemeinen Abfall des menschlichen Geschlechts bezeichnet! Das ist das Siegel unserer Verwerfung, dass wir vergessen haben, warum und für wen wir in die Welt gesendet waren. Alles Übel kommt daher, und jede besondere Sünde verschwindet in dieser großen und ersten Sünde. Christen, ich beschwöre Euch bei Eurem Namen selbst: lebt für Den, der Euch geliebt hat! Er hatte über uns unendliche Rechte als Schöpfer, aber durch ein Wunder seiner Liebe hat er das Unendliche dem Unendlichen hinzugefügt. Er hat zugegeben, dass das Blut des Gerechten für Euch floss; er hat den Qualen des Todes Den überliefert, in welchem sich seine Heiligkeit abspiegelte wie in dem reinsten Spiegel; bei der bittenden Stimme seines Sohnes hat sich sein Zorn von Euch abgewandt, um auf diesen Sohn selbst zu fallen! Christus ist zur Sünde gemacht worden, damit Eure Sünden vergessen würden; und, Dank ihm, könnt Ihr, entartete, geschändete Kreaturen, ehebrecherische und entehrte Rasse, könnt Ihr, die Freude und den Ruhm auf der Stirn, wieder eingehen zu dem Hause Eures himmlischen Gatten, Euch von Neuem mit seinem Namen schmücken, und mit den Engeln selbst Geschicke der Ehre und des Friedens teilen. Muss man Euch hiernach noch sagen: Christen, arbeitet für Gott, trachtet nach dem, das droben ist? Ach, wenn dieser Name, den Ihr tragt, Euch nicht Alles gesagt hat, so werden Euch alle Worte der Welt nichts sagen!

Arbeitet für Gott, trachtet nach dem, das da droben ist, weil eine solche Tätigkeit die einzige ist, welche Euren Kräften einen ihrer würdigen Gebrauch darbietet. Auf dem Standpunkt der Welt bleibend, welchen Gebrauch könnt Ihr von diesen Kräften machen, der ihnen in Wahrheit angemessen ist? Was Ihr auch tut, Ihr bleibt immer hinter Eurer Macht zurück, und wirkt Ihr eine ganze Welt in Eurer Seele, sie könnte die Tiefe derselben nicht ausfüllen. Ihr könnt Eure Zeit ausfüllen, ein Werk an jede Eurer Stunden knüpfen; aber seine Zeit ausfüllen, ist das sein Leben ausfüllen? Das Leben! und wie! hat es nur eine Dimension? ist es nur eine Linie ohne Breite, nur ein Faden, wo man bloß Acht zu geben braucht, keine Lücke zu lassen? und wenn jede Stunde einer langen Existenz durch eine Beschäftigung oder durch einen Gedanken bezeichnet ist, folgt daraus, dass man gelebt hat? O, unsterbliche Kreaturen, o, Kreaturen Gottes, das Leben besteht in dem Gebrauch aller Eurer Kräfte, und Ihr habt göttliche Kräfte! Das Leben besteht in der Erfüllung Eurer Bestimmung, und Eure Bestimmung ist der Himmel! Sagt mir nicht, dass Ihr gelebt habt, Ihr, die Ihr eine Seele, um nach dem Unendlichen zu trachten, hattet, und die Ihr sie an endliche Gegenstände gekettet habt; ein Herz, um Gott zu lieben, und den Ihr nicht geliebt habt; einen Verstand, um ihm zu dienen, und die Ihr ihm nicht gedient habt! Ihr seid im Leben an denen vorüber gegangen, welche lebten, aber Ihr habt nicht gelebt! Leben, meine Brüder, das heißt, ein Werk vollbringen, welches dauert; das heißt, etwas anderes sammeln, als eitle Erinnerungen; das heißt, seine ganze Gegenwart in Zukunft umwandeln; das heißt, seinen Tod vorbereiten, ihn im Voraus triumphierend, ruhmvoll, voll Unsterblichkeit machen; Leben, das heißt, sich auf der Erde wie ein Bürger des Himmels betragen.

Aber am Ziele seiner Laufbahn sich sagen zu müssen: Ich habe gearbeitet, aber ich habe schon meine ganze Belohnung bekommen; für ein vergängliches Werk habe ich einen vergänglichen Lohn erhalten; die Welt hat meine Arbeit und behält sie; ich habe meine Bezahlung erhalten und kann sie nicht behalten, denn ich gehe fort. Ich gehe fort mit leeren Händen, mit erschöpften Kräften, mit einer armen Seele, mit einem schmachtenden Herzen; ich gehe fort, und ich weiß nicht, wohin. Ach! warum habe ich gelebt? was brauchte ich zu leben? habe ich wirklich gelebt? ist es kein Traum? War es denn, mich zu vernichten, dass mich mein Schöpfer bestimmt hatte, indem er mir das Leben gab? Fühlte ich nicht in mir etwas Größeres, als alles was ich gesehen, alles was ich empfunden, alles was ich getan habe? Hat meine Seele mir nicht hundertmal gesagt, mich über alle sinnlichen Dinge emporzuschwingen? Und doch, was habe ich getan, als meine Seele den sinnlichen Dingen preiszugeben und alle dem, was mein erwachtes Gewissen heut Eitelkeit nennt?

O Trug, o Täuschung, o Elend, o verlorenes Leben, o verschwendete, vergeudete, in eitlen Gedanken erniedrigte Seele! O, unglückliche Vergangenheit, ohne Unterpfand für die Zukunft!

Ich sage Euch nichts von den Gewissensbissen, welche ein so verlorenes Leben immer krönen sollten, aber welche es nicht immer krönen. Strenge und letzte Wohltat, oder Vorspiel und Vorgeschmack größerer Bitterkeiten, wohnen die Gewissensbisse, wir wissen es, nicht immer dieser feierlichen und traurigen Heerschau bei, welche das Weltkind, das im Begriff zu sterben ist, unwillkürlich über sein vergangenes Leben hält. Ergänzt, in Bezug auf diesen letzten und schrecklichen Gegenstand, das, was ich nicht sage, was man nur schwach sagen kann; stellt Euch die weltliche Tätigkeit vor, wie sie erschöpft und atemlos, mit der langen Kette dieser elenden Arbeiten, am Fuße des ewigen Richterstuhles, ankommt, und durchdrungen von diesem entsetzlichen Anblick, werdet Ihr Euch nicht mehr sagen lassen, sondern Ihr werdet selbst sagen: Lasst uns für Gott arbeiten; lasst uns nach dem trachten, das droben ist, und nicht nach dem, das auf Erden ist.

Ich weiß, meine Brüder, was Ihr uns sagen könnt: „Man würde für die Dinge dieser Erde nicht die angemessene Sorge tragen, wenn man dafür nicht ein gewisses Interesse hat. Man kann in keinem Stande etwas leisten, ohne eine gewisse Neigung für die Angelegenheiten dieses Standes, in keinem Studium ohne den Geschmack für dieses Studium, in keiner Karriere ohne die Liebe für dieselbe. Glaubt man, dass das Interesse für den Himmel die Stelle aller dieser Interessen vertreten kann? Glaubt man, dass das bloße Pflichtgefühl ein hinreichender Sporn ist? und muss man nicht im Gegenteil erwarten, dass, je mehr man nach dem Himmlischen trachtet, man desto weniger Geschick für das Irdische haben wird? Und was wird dann jene Vereinbarung, die man uns gerühmt hat?“

Der Einwand, meine Brüder, hat Gewicht; und ich wünsche, dass Niemand sich die Stärke desselben verhehle. Es ist gewiss, dass, wenn wir uns darauf beschränkten, zwei Pflichten, die, sich unablässig mit den Dingen dieser Erde zu beschäftigen, und die, einzig und allein die himmlischen Dinge zu lieben, einander gegenüber zu stellen, wir die Schwierigkeit nur vermehren würden, anstatt sie zu heben. Aber mit ein wenig Aufmerksamkeit werdet Ihr, ich hoffe es, sehen, dass der Einwand auf einem Irrtum beruht. Und worin besteht dieser Irrtum? Er besteht darin, dass man diese Worte des Apostels: das droben ist, in einen zu wenig geistigen Sinne nimmt. Das, was droben ist, ist nicht genau das einer andern Welt, sondern das einer andern Sphäre, als der gewöhnlichen Sphäre unserer Gedanken. Es ist nicht das, was über unseren Häuptern, sondern das, was über unseren natürlichen Gefühlen ist. Das, was droben ist, ist, wenn wir wollen, hier unten; das, was droben ist, besteht in den Gesinnungen eines durch den Geist von droben wiedergeborenen Herzens, in den Gefühlen, den Trieben, den Beweggründen, welche einer erneuten Seele eigen sind. Nach dem trachten, das droben ist, heißt, nach Gott selbst trachten; heißt, ihm unser Leben unterordnen; heißt, Gott in allen Dingen suchen und finden.

Und was hindert Dich, mein teurer Zuhörer, ihn in der Natur zu finden, deren Geheimnisse Du mit so vieler Ausdauer zu ergründen suchst, in den Amtsgeschäften, denen Du mit so viel Interesse obliegst? in dieser Kunst, die Du mit so viel Eifer betreibst? Wie! ist Gott nicht in Allem, was wahr, schön, groß, nützlich ist; ist er nicht überall, ausgenommen in dem Bösen? Alles, was gut ist, ist das nicht er selbst? Und beschäftigt sich der Christ nicht mit Gott selbst, indem er die verschiedenen Felder der Natur, der Künste und des bürgerlichen Lebens anbaut? und ist es nicht in jedem der Dinge, die ihn interessieren, Gott selbst, den er bewundert und den er liebt?

Gott lieben, meine teuren Brüder, das ist also das Geheimnis, um Alles zu versöhnen. Das ist das Geheimnis, um sich mit Interesse mit den Dingen der Erde zu beschäftigen, ohne aufzuhören, die Dinge des Himmels zu lieben. Gott lieben, das ist sowohl das Leben lieben, welches er gemacht hat, als den Tod, welchen er befohlen hat. Gott lieben, das ist, das Geheimnis zu leben gefunden haben.

Nun, ihr geteilten Herzen, die ihr eine Ausgleichung zwischen dem Himmel und der Erde geträumt habt, und die ihr fortwährend von Furcht und Sorgen gequält seid, wisset die Ursache eures Zustandes: Ihr fürchtet Gott, aber ihr liebt ihn nicht. Die Frömmigkeit allerdings hat auch ihre Sorgen; aber hüten wir uns, die Sorgen einer zarten Liebe, die da fürchtet, ihrem Gegenstande nicht Alles zu geben, mit den Befürchtungen eines egoistischen Herzens zu verwechseln, dem ein zweifacher Mut fehlt, der, sich Gott ganz hinzugeben, und der, sich der Welt ganz hinzugeben. „Ist dies erlaubt? ist es dies nicht? Ist dies weltlich? ist dies christlich? Darf man diese oder jene Gesellschaft sehen, diese oder jene Unternehmung wagen, sich diesem oder jenem Studium hingeben?“ Dies bedeutet im Munde des Sohnes: Wie mache ich es, um mein ganzes Herz meinem Vater zu bewahren? aber in dem Munde des Sklaven: Bis wohin kann ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne meinen Herrn zu erzürnen? Trauriges und eitles Abwägen, dessen Prinzip leicht zu entziffern ist. Was will dieser fortwährende Handel zwischen dem Menschen und Gott sagen? Was dieser Christ, der beschäftigt ist, Gott und sich selbst, jedem genau seinen Teil zu geben, und der ganz von der Furcht erfüllt ist, den seinigen zu klein zu machen? Was dieser Gläubige, welcher meint, sich in zwei, das Weltkind und den Gläubigen, zu teilen, als ob nicht notwendiger Weise das Weltkind ganz Weltkind, und der Gläubige ganz Gläubiger sein müsste? Was dieser Mensch, der zwei Herzen hat, eines für die Welt, das andere für Gott? Was will diese Hingebung sagen, die ihre Bedingungen stellt, sich ihre Vorbehalte macht und ihre Entschädigungen festsetzt? O, die Liebe ist ein besserer Schiedsmann! Die Liebe hat den Knoten bald zerhauen. Alles für Gott, und nichts für mich, das ist ihr Wahlspruch. Alles für Gott, vorausgesetzt, dass Gott mein ist. Möge er dann mein Leben bereichern oder entblößen, möge er meine Tätigkeit ausdehnen oder beschränken, meine Wünsche befriedigen oder vereiteln, wenn ich meinen Gott habe, habe ich alles mit einem Male. Er ist es, dem ich dienen will; er ist es, dem ich gefallen will; das Übrige ist gleichgültig.

Wenn Ihr Gott liebt, so werdet Ihr gleich wissen, welches die mit seinem Dienste unverträglichen Beschäftigungen sind. Die Liebe Gottes wird Euch mit einem neuen Sinne begaben, mit einem feinen und sichern Takt, vermöge dessen Ihr ohne Mühe die Werke erkennen werdet, welche ihm gefallen, und die, von denen er die Augen abwendet; denn alle Tätigkeiten sind nicht gut. Das ist die erste Wirkung der Liebe Gottes. Es gibt eine andere. Sie gibt der Seele eine größere Freiheit. Sie macht eine Menge von Werken zu rechtmäßigen, die es ohne sie nicht gewesen wären. Wenn Ihr Gott liebt, könnt Ihr Euch in das Treiben der Welt, in die Sorge der öffentlichen Angelegenheiten, in die Kultur der Wissenschaften und der Künste einlassen, denn Ihr tut alles dies für Gott, für seinen Ruhm, mit Dankbarkeit, mit Unterwerfung; alles dies führt Euch zu Gott, statt Euch von ihm zu entfernen; und ich kann es sagen, Eure, am gewagtesten erscheinenden, Ausflüge entfernen Euch niemals vom Hafen. Die erhabensten Obliegenheiten und die niedrigsten Verrichtungen, die größten Unternehmungen und die geringsten Einzelheiten, das Werk eines Jahres und das Werk eines Tages, Alles ist für den Herrn getan worden; folglich ist. Alles erlaubt, ist Alles gut. Aber außerhalb dieses Gesichtspunktes und dieser Richtung ist Alles schlecht, selbst das, was am häufigsten als rechtmäßig und lobenswert gilt; Alles ist schlecht, weil Gott nicht dabei ist. Ihr könnt noch nützlich sein, die Achtung erhalten und verdienen; aber in Bezug auf Gott, auf Euch selbst, auf die Ewigkeit habt Ihr ein eitles, undankbares und unglückliches Werk vollbracht

Schlecht unterrichtete Kasuisten, die ihr Mücken sauget und Kamele verschluckt, lasst, lasst die müßigen Bedenken, welche sich an einige allein stehende Handlungen, an einige Einzelheiten Eures Lebens halten, und stellt einmal Euer ganzes Leben in Frage. Euch über seinen ganzen Zusammenhang, seinen allgemeinen Charakter, den Geist, der es durchdringt, Rechenschaft zu geben, darauf kommt es vor Allem an. Es sind nicht einige gute Werke, es ist nicht eine künstliche, mühsam erlernte, mühsam nachgeahmte Tugend, welche Euch für den Himmel tauglich machen wird. Nicht nach diesem oder jenem vernachlässigten oder beobachteten Gebrauche, nicht nach dieser erlaubten oder verbotenen, oder sogenannten gleichgültigen Handlung werden die Geschicke Eurer Ewigkeit abgewogen werden. Kein Zweifel, dass jede Eurer Handlungen ihren moralischen Wert, ihren Charakter, ihre Farbe hat; doch auch eine jede ist nur das natürliche Produkt eines Prinzips, eine jede hat weit weniger einen Wert in sich, als sie Euren Wert Euch selbst darstellt. Dieser innere Wert ist es, welchen man kennen muss; dieser ist es auch, welchen Gott kennt, und nach welchem er Euch schätzt und richtet. Und seinen Maßstab, meine Brüder, kennt Ihr ihn? Er misst Euch nach Eurer Liebe zu ihm. Er fragt nach einer einzigen Sache: gehört Ihr ihm an durch das Herz? Nun, sein Maßstab soll der Eurige sein; und in dieser Frage: Handle ich für Gott? ist es mein Verlangen, seinen Willen zu tun? soll Eure ganze Kasuistik enthalten sein.

Sehet also zu, welcher Wind in Eure Segel bläst, und Ihr werdet wissen, wohin Ihr geht. Fordert von Euch Rechenschaft über das Gefühl, welches Euer Leben beherrscht, und Ihr werdet wissen, was dies Leben wert ist. Jedermann ist im Stande, sich darüber eine genaue Antwort zu geben; übrigens könnt Ihr noch zwei Proben anstellen, nach welchen Euch keine Ungewissheit mehr bleiben wird.

Mögt Ihr, mitten in den Beschäftigungen und Sorgen, welche Euch notwendig an die Erde binden, mögt Ihr Euch da gerne mit den Dingen des Himmels beschäftigen? Findet Ihr Geschmack an dem Worte Gottes? Habt Ihr Gefallen daran, es um Rat zu fragen, durch dasselbe den Gesichtskreis aller Eurer Geschäfte zu vergrößern, über dem beschränkten Horizont Eures irdischen Lebens, so zu sagen, den unendlichen Horizont der Ewigkeit auszubreiten? Mehrere, meine Brüder, finden, wenn ihr Blick unwillkürlich diese beiden Ansichten einander näher bringt, zwischen denselben keine Beziehung, keine Harmonie, sondern weit eher eine Art von Widerspruch. Der Anblick des Himmels und der göttlichen Dinge beunruhigt sie in ihren Arbeiten; er stört, er verstimmt sie; er ärgert und belastet sie. Sie möchten die Augen nicht nach dieser Seite hingeworfen haben, denn was sie gewahr geworden sind, hat sie einen Augenblick fürchten lassen, dass ihr Leben, was ihnen bis dahin so gut angefüllt erschienen, in der Tat nur mit Eitelkeit angefüllt wäre. Sie vermeiden von da ab diesen Anblick und diese Betrachtungen; und um ihre Arbeiten gegen diese strenge Kontrolle sicher zu stellen, versenken sie sich ganz und gar in die Gegenwart. In dem Maße, als diese Anschauung der göttlichen Dinge abnimmt und sich verwischt, nehmen sie ihren früheren Eifer wieder an; aber sie sind in ihrem irdischen Amte nur unter der Bedingung tätig und ausdauernd, dass sie möglichst wenig an ihre himmlische Bestimmung zu denken brauchen. Und doch gedenken sie nicht, dieser himmlischen Bestimmung zu entsagen, sie sind sehr froh, dass sie einen Ruhepunkt, eine Zuflucht als Rückhalt haben; und gleich dem verlernen Sohne, der in den Wogen der Welt umherirrt, gefällt es ihnen, zuweilen von ferne an das Haus des Vaters zu denken, aber es gefällt ihnen nicht, darin zu wohnen. Es gefällt ihnen, zu glauben, sie würden fürchten, ihre religiöse Überzeugung zu verlieren, aber sie würden noch mehr fürchten, sie zu stark werden zu sehen; sie haben Furcht vor diesen unvorhergesehenen, durch Gott bereiteten, Augen: blicken, wo die Wahrheit der Religion plötzlich mit strahlender Gewissheit und mächtiger Wirklichkeit erscheint. Sie fürchten diese Tyrannei eines lebendigen Glaubens, welche ihr Leben umgestalten, ihre Pläne durchkreuzen, ihrer Tätigkeit einen andern Lauf geben und die Stellung zerstören würde, welche sie sich in der Welt gegeben haben. Erschreckt von diesem Blitzstrahl, beeilen sie sich, die Augen zu schließen, und durch einen seltsamen Widerspruch fürchten sie zugleich sowohl den Unglauben, als den Glauben. Meine Brüder, arbeiten diese Menschen für die Erde, oder arbeiten sie für den Himmel?

Ich habe von einem andern Probierstein gesprochen. Das ist der Gedanke an den Tod. Ist Jemand in Zweifel über die Rechtmäßigkeit seiner Bemühungen, über die Anwendung seines Lebens, so stelle er sich dem Tode gegenüber. Er betrachte mit festem Blicke seine letzte Stunde, diese Stunde, wo, wie man mit Recht gesagt, „uns nichts mehr bleibt, als was wir gegeben haben.“. Er gehöre für einen Augenblick nicht mehr der Erde an; er lege sich auf sein Sterbebett; er leihe sein Ohr diesem feierlichen Zuruf: Ihr Menschenkinder, kehret um, gebet Rechnung über Euer Haushalten. Er sage sich, dass in einigen Stunden, wo ihn die Erde bedeckt, er dem, was sich sechs Fuß über ihm zuträgt, so fremd sein wird, als ob er nie zur Zahl der Lebenden gehört hätte. Er sehe schwinden und verlöschen den Glanz des guten Rufes und die Macht des Kredites, und den persönlichen Einfluss, und seine Güter, und seinen Namen, und sein Andenken, und er ziehe dann, bei der Aufnahme seines letzten Besitzstandes, nie Rechnung von dem, was ihm bleibt, das heißt, ich wiederhole es, von dem, was er gegeben hat. Wohlan! diese Tätigkeit, diese Dienste, dieses Vermögen oder diese Armut, wie man will, hat er Gott alles dies gegeben? hat er Werke getan, die ihm folgen können? Kann er alle seine Arbeiten, alle seine Studien, sein ganzes Leben, in die andere Welt mit sich fortnehmen und zu den Füßen seines Herrn niederlegen? Hat er für Gott, einem Stande gelebt, eine Stellung ausgefüllt, seinen Geist gebildet, sein Vermögen vermehrt? Ist sein Leben auf dieser Seite oder auf der andern? scheinend vor der Welt oder verborgen mit Christus in Gott? Wird er sterben, oder wird er leben? Wenn er, bei diesem ernsten Gedanken an den Tod, sein vergangenes Leben nicht wie eine Last fühlt, die ihm unbequem ist, sondern wie einen Reichtum, der ihm dient; wenn der Gedanke an die Tätigkeit, die er zu unterbrechen im Begriff steht, ihm keine Reue, sondern Hoffnungen einflößt, dann ist diese Tätigkeit gut; er kann sich ihr ohne Furcht überlassen; denn, indem er sich mit den Dingen der Erde beschäftigt, arbeitet er für die des Himmels.

Das ist es, meine Brüder, was wir in Eurer aller Geist und in den unsrigen eingraben möchten. Es gibt keine wichtigere Wahrheit. Unfehlbar wird ein Augenblick kommen, wo sie uns klar werden wird; aber man sollte diesen Augenblick beschleunigen; denn dieselbe Wahrheit, welche heute heilsam ist, kann morgen niederdrückend sein. Heilsam, während das Leben uns noch angehört, ist sie niederdrückend, wenn das Leben uns verlassen will. Wenn also unser Leben umgeschaffen werden muss, lasst es uns umschaffen, d. h. lasst uns unser Herz umschaffen; denn aus dem Herzen entspringen die Quellen des Lebens.

Lasst uns unser Herz umschaffen! Welches Wort, meine Brüder! Ach, wenn man aus der Tiefe des Grabes die Toten ausrufen hören wird: Lasst uns leben! wird es den sündigen Menschen erlaubt sein auszurufen: Lasst uns unser Herz umschaffen! Den Herrn über Alles lieben, Alles nur nach dem Herrn lieben, unser ganzes Leben einem einzigen Prinzip unterwerfen, und unseren Lebenswandel einem einzigen Antriebe, ist das da, meine Brüder, wohl die Wirkung eines einfachen Aktes unsers Willens? Befragen wir unsere eigne Erfahrung darüber: sie erklärt uns unsere gänzliche Unfähigkeit, den Mittelpunkt unsers Lebens zu verlegen; befragen wir die Erfahrung der Gläubigen: sie lehrt uns, dass es der Glaube an den gekreuzigten und verherrlichten Herrn ist, in welchem sie die Kraft dazu gefunden haben; befragen wir das Evangelium: es unterweist uns, dass in diesem großen Werke Gott es ist, welcher in uns das Wollen und Vollbringen nach seinem Wohlgefallen schafft. Suchen wir nicht uns zu täuschen; preisen wir nicht einige äußere Verbesserungen, deren wir fähig gewesen sind; die Verbesserung der Gewohnheiten ist nichts ohne die Verbesserung des Herzens. Erkennen wir frei unsere Schwäche an; bitten, flehen, beten wir, ohne nachzulassen, bis dass die Hilfe kommt, bis dass unser Herz ganz da ist, wo unser Schatz ist; bis dass wir mit Herz und Gedanken eines sind mit Christus, welcher nur einen Zweck in seinem Leben hatte, den Dienst und den Ruhm des Vaters, der ihn gesandt. Möge der Herr zu diesem Ende über uns Alle seinen Geist der Bitte und des Gebetes verbreiten!

1)
Es hat im Altertum ein berühmtes Volk (das von Sparta) gegeben, dessen einem Teil es gelungen war, den andern zu unterjochen und ihm die härtesten Gesetze aufzudringen. Die Besiegten und die Sieger fuhren fort, einen und denselben Boden zu bewohnen, und, wenn man will, ein Volk zu bilden; aber die Verschiedenheit ihrer gegenseitigen Stellung zeigte sich in der Verschiedenheit ihrer Beschäftigungen. Die Sieger hatten sich vorgenommen, als Volk zu einer idealen Vollkommenheit ohne Beispiel zu gelangen. Mithin wurden die militärischen Übungen, die strengste Regelmäßigkeit, die härtesten Entbehrungen der Grundzug ihres Lebens; es war keinem der Mitglieder dieser Verbindung erlaubt, die Grenzen der Republik zu überschreiten, und keinem Fremden dies geheiligte Gebiet zu betreten; man hätte es ein kriegerisches, den strengsten Regeln unterworfenes Kloster nennen können. Aber da man mitten in dieser erhabenen Ordnung doch leben musste, wurde der besiegte Stamm beauftragt, dafür zu sorgen; ihm legte man das niedrige, aber unentbehrliche Amt auf, die Erde zu bebauen, Gewerbe zu treiben, mit einem Wort, für die materiellen Bedürfnisse Sorge zu tragen, welche zu fühlen auch die erhabensten Geister nicht verhindern können. Also auf der einen Seite die Vervollkommnung, auf der andern die Arbeit; auf der einen Seite das moralische und intellektuelle Leben, auf der andern das materielle Leben und die mechanischen Beschäftigungen; auf der einen Seite die Politik, zu einer Art von Religion geworden, auf der andern die Industrie ohne Freiheit und fast ohne Gedanken; das war die Organisation dieses merkwürdigen Volkes. Dieser Zustand der Dinge ist ein schwaches Bild, aber doch ein Bild des Lehrsystems, welches wir bekämpfen. In der Tat, dieses System teilt die Menschheit auch in zwei Klassen, in zwei Völker, die einen, welche sich retten, indem sie sich den Lasten der Gesellschaft entziehen, die andern, welche sich verderben, indem sie sich denselben unterwerfen; die einen, die dauernde Nahrung im ewigen Leben verfolgend, die andern, sich für die Nahrung, welche vergeht, aufreibend; und endlich, was nicht bloß sonderbar, sondern hassenswert ist, die einen auf Kosten ihres Heils arbeitend, damit die andern in Ruhe ihr Heil schaffen können; denn nach allem ist es nicht anders. Wie geistig man auch sei, man hat einen Körper, man hat Interessen, man hat eine Familie. Man bedarf der Produkte der Erde, um sich zu ernähren, der Erzeugnisse der Industrie, um sich zu kleiden, der Gesetze, um in Frieden zu leben, der öffentlichen Gewalt, um beschützt zu werden; und alle diese Bedürfnisse, wenn man sie selbst auf das Notwendigste zurückführt, legen eine Entwicklung von Kenntnissen, eine Menge von Studien voraus, von denen es schwer ist, sich im ersten Augenblick einen Begriff zu machen. Der Besitz jenes groben Nahrungsmittels, das von der ersten Notwendigkeit ist, und welches die Wiederkehr der Hungersnot fast unmöglich macht, knüpft sich, ohne dass man es ahnet, an die höchsten Spekulationen der Wissenschaft und die sinnreichsten Erfindungen der Künste; so dass, man könnte denn ohne Nahrung, ohne Kleidung und ohne Gesetze leben, notwendiger Weise bei dem in Rede stehenden Systeme sich ein Teil des Menschengeschlechts ins Verderben stürzt, um die Existenz des Andern zu sichern, welcher sich rettet.
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