Vinet, Alexandre - Das Evangelium mit dem Herzen verstanden.

Vinet, Alexandre - Das Evangelium mit dem Herzen verstanden.

1. Kor. II, 9,
Das in keines Menschen Herz gekommen ist, und das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.

Gott hat die Welt dazu bestimmt, nicht allein der Schauplatz unserer Tätigkeit, sondern auch der Gegenstand unsers Studiums zu sein. Er hat in den Tiefen der Natur unzählige Geheimnisse verborgen, die er uns zu ergründen auffordert, unzählige Wahrheiten, die er uns zu entdecken ermutigt. Um in diese Geheimnisse einzubringen, um diese Wahrheiten zu entdecken, muss man gewisse intellektuelle Fähigkeiten besitzen, und diese gehörig geübt haben, aber weiter nichts. Die Beschaffenheit des Herzens hat keinen direkten Einfluss auf die Erlangung jener Art von Kenntnissen. Es ist mit diesen Kenntnissen wie mit dem Regen, den Gott auf Gerechte und Ungerechte fallen, wie mit der Sonne, die er über Gute und Böse scheinen lässt. Das Wissen setzt nicht notwendiger Weise ein gerades Herz, noch einen wohlwollenden Character voraus; und es ist leider nur zu gewöhnlich, dass die schönsten Gaben des Genies mit dem beklagenswertesten Egoismus und mit der größten Sittenverderbnis verbunden sind. Gott scheint die Wahrheiten der Wissenschaft gleichgültig seinen Freunden und seinen Feinden bereitet zu haben. Es verhält sich nicht so mit den religiösen Wahrheiten. Gott, heißt es in unserm Text, hat sie bereitet denen, die ihn lieben. Nicht dass er von ihrem Besitz die Gelehrten und die Männer von Genie ausgeschlossen hätte, keineswegs, aber weder das Genie noch das Wissen sind hier genügend, wie in andern Wissenschaften. Die Liebe ist notwendig. Die Liebe ist der einzige wahrhafte Dolmetscher der Wahrheiten des Evangeliums. Die Weisheit dieser Welt und der Großen dieser Welt ist besiegt durch die Einfalt der Liebe; die Liebe ist die Weisheit unter den Vollkommenen, - in Übereinstimmung mit diesem Wort von St. Johannis : Wer Gott liebt, der ist es, welcher Gott kennt.

Es tritt also zwischen Gott und dem Menschen der Fall ein, den man zwischen zwei Personen eintreten sieht, deren Sprache verschieden ist; es ist nötig, dass ein in beiden Sprachen geübter Dolmetscher zwischen beide Parteien trete, und, indem er sein Ohr den Worten der einen leiht, diese Worte für das Verständnis der andern einrichte, indem er sie in die Sprache übersetzt, welche letztere versteht. Nun, zwischen Gott und den Menschen, zwischen dem Evangelium und unserer Seele ist dieser Dolmetscher die Liebe. Die Liebe macht dem Menschen die Wahrheiten des Evangeliums verständlich, doch nicht diese abstrakten Wahrheiten, welche sich auf Gottes Wesen selbst beziehen, deren Kenntnis, wie wir gesehen haben, gleich unzugänglich und gleich überflüssig für uns ist, sondern diese anderen Wahrheiten, welche unsere Beziehungen zu Gott betreffen, und welche das Wesen der Religion selbst bilden. Diese Wahrheiten sind es, welche der Vernunft entgehen, und welche die Liebe ohne Mühe erfasst.

Ihr wundert Euch vielleicht, dass Ihr die Liebe, ein Gefühl des Herzens, eine Rolle übernehmen seht, die Euch der Vernunft allein anzugehören scheint. Aber wollet bedenken, dass die meisten unserer Kenntnisse unmittelbar von etwas anderem als von der Vernunft ausgehen. Wenn wir die Kenntnis eines Gegenstandes der Natur erlangen wollen, so sind es zuerst unsere Sinne, von denen wir Gebrauch machen, und nicht unsere Vernunft. Es ist das Gesicht, durch welches wir zunächst einen Begriff von Ausdehnung und Form der Körper erhalten, das Gehör, welches uns einen Begriff von den Tönen, das Geruchsorgan, welches uns einen Begriff von den Gerüchen gibt. Die Vernunft muss darauf allerdings eine Rolle übernehmen, indem sie ihre Operationen denen der Organe anschließt, aber wie wichtig auch ihre Vermittlung hierbei sein mag, man muss zugestehen, dass die Kenntnis der äußern Dinge und ihrer Eigenschaften wesentlich Sache der Sinne ist.

In der moralischen Welt ist es nicht anders. Weder durch den Verstand allein, noch durch den Verstand zuerst, können wir über Dinge dieser Sphäre urteilen. Um sie zu erkennen, haben wir auch einen Sinn, welcher der moralische Sinn heißt. Der Verstand kann hernach als Unterstützung hinzutreten; er beobachtet, er klassifiziert, er vergleicht unsere Eindrücke, er bringt sie nicht hervor, und es würde eben so wenig vernünftig sein, wollte man behaupten, dass wir sie ihm verdanken, als wollte man versichern, dass wir durch das Ohr die Kenntnis der Farben, durch das Gesicht die der Gerüche, durch den Geruch die der Töne und Akkorde erhalten. Die Dinge des Herzens können nur ordentlich durch das Herz verstanden werden.

Erlaubt uns einen Augenblick bei diesem Gedanken stehen zu bleiben, denn wir fühlen das Bedürfnis, uns deutlich zu erklären. Indem wir sagen, dass das Herz versteht, sagen wir damit, dass das Herz Vernunft wird, dass das Herz Vernunftschlüsse macht? Keineswegs. Das Herz versteht nicht wie die Vernunft, aber es versteht eben so gut, wenn nicht besser. Was heißt für die Vernunft verstehen? Das logische Band, die Kette von Ideen, welche zwei oder mehrere Tatsachen mit einander verbindet, erfassen, sich überzeugen, sich die Gewissheit verschaffen, durch ein Mittel, welches nicht die Erfahrung ist, sich durch den Geist mit den Gegenständen in mittelbare Verbindung setzen, mit denen wir in keine unmittelbare Berührung treten können. Das Begreifen des Verstandes ist also, streng genommen, nur ein Ergänzen, ein Ausfüllen der unvermeidlichen Lücken der Erfahrung. Die Ursache dieser Lücken der Erfahrung liegt entweder in der Abwesenheit der Gegenstände, oder in ihrer Natur, welche keinen Berührungspunkt mit der unsrigen hat. Wenn diese beiden Hindernisse nicht da wären, oder wenn man sie entfernen könnte, so würde der Mensch nichts mehr zu verstehen haben, denn er würde jedes Ding berühren, betasten, kosten. Die Vernunft würde in ihm durch die unmittelbare Anschauung ersetzt sein. Da wo das unmittelbare Anschauen stattfindet, gibt es kein Verstehen mehr, weil etwas Besseres da ist, oder, wenn man doch will, dass es ein Verstehen sei, so ist es ein Verstehen einer neuen Natur, einer höheren Ordnung, das sich alles ohne Mühe erklärt, welchem alles klar ist, aber welches sich nicht durch Worte der Vernunft anderer mittheilen könnte.

Nun, meine Brüder, ein solches Verstehen ist das Verstehen des Herzens. Es hat ohne Zweifel seine genaue Grenzen. Es erstreckt sich auf alles, was zum Bereich des Gefühls gehört, es geht nicht darüber hinaus. Aber der Vernunft sind ihre Grenzen eben so bestimmt vorgeschrieben, und sie darf dieselben eben so wenig überschreiten, wie das Herz die seinigen. Wird sie auf Dinge angewendet, welche ausschließlich in das Gebiet des Gefühls gehören, so irrt sie in der Dunkelheit, man geht bei ihr vorüber, wie bei einer Fremden; sie vernimmt nichts, sie wird nicht vernommen, und sie zieht sich von einer unnützen Verhandlung zurück, in der sie weder etwas empfangen noch etwas mitgeteilt hat. Die Vernunft auf der einen Seite, das Herz auf der andern, verstehen sich nicht, und sehen nur mit Mitleiden auf einander herab.

Und um Euch diese Wahrheit anschaulicher zu machen, denkt Euch auf der einen Seite einen großherzigen Mann, einen Helden, eine Seele, die unaufhörlich von der edlen Flamme der Aufopferung verzehrt wird, auf der andern einen Mann von glänzendem Verstande, von tiefem und umfassendem Geist, aber entblößt, wenn es möglich wäre, von jeglichem Gefühl; glaubt Ihr nicht, dass der erstere sein ganzes Leben hindurch ein Rätsel für den andern sein wird? In der Tat, wie würde der Letztere einen Aufschwung der Begeisterung, Handlungen der Entsagung, Worte voll Erhabenheit verstehen, wovon in seiner Seele nicht eine Spur zu finden ist? Der geistige Mensch, heißt es in derselben Epistel, aus welcher wir unsern Text genommen haben, der geistige Mensch richtet Alles und wird von Niemand (er sei denn geistig) gerichtet. Wenden wir, vermöge einer Annahme, diese Worte auf die gefühlvolle und großherzige Kreatur an, von der wir reden: sie wird von niemand, er habe denn den Keim derselben Gefühle in sich, gerichtet (beurteilt), und das ist es, was die wohl erkannt haben, welche gesagt, dass die großen Seelen in der Welt vorüberziehen ohne verstanden zu werden.

Affektation! Heuchelei! hört man oft ausrufen bei dem Anblick von gewissen Erscheinungen und von Erscheinungen besonders im Gebiete der Religion. Eine Wärme, welche die ganze Seele entzündet, welche über alle unsere Tätigkeiten verfügt, welche sich unaufhörlich durch sich selbst erneuert, erscheint einigen zu sonderbar, als dass sie daran glauben könnten. Es fehlt ihnen, um daran zu glauben, weiter nichts, als dieselbe zu empfinden; aber es ist ebenso gewiss, dass sie, ohne dieselbe Wärme zu empfinden, sie niemals begreifen werden. Und sie werden fortfahren ein Gefühl als Affektation und Heuchelei auszulegen, welches möglicher Weise sich zurückhält, sich verbirgt und nur die Hälfte seiner Kraft blicken lässt. Sehr natürlicher Irrtum! Alle Bemühungen des tätigsten Verstandes würden uns keinen Begriff von dem Geschmack einer Frucht geben, welche wir niemals gekostet, von dem Wohlgeruch einer Blume, den wir niemals eingeatmet, noch weniger von einer Neigung, die wir niemals empfunden haben. Es ist mit den Höhen der Seele wie mit den Herrlichkeiten des Firmaments. Wenn in einer heitern Nacht uns auf dem Grunde der Himmel Tausende von Sternen entgegenfunkeln, so entzückt dieser glänzende Reichtum des gestirnten Himmelsgewölbes jeden, der Augen hat zu sehen; aber der, welchem die Vorsehung die Wohltat des Augenlichtes verweigert hat, könnte einen den höchsten Ideen geöffneten Geist haben, könnte mit seiner intellektuellen Fassungskraft die der gewöhnlichen Menschen bei Weitem überragen, er würde mit all seinem Verstande, und mit aller Einsicht, welche er noch durch das Studium seinen Fähigkeiten hinzufügen könnte, sich keinen Begriff machen von jenem reizenden Schauspiel; während an seiner Seite ein Mensch ohne Talent und ohne Bildung nur nötig hat, seine Augenlieder aufzuschließen, um mit einem Blicke die ganze Pracht der Firmaments zu umfassen, und sich gewissermaßen anzueignen, und um durch die Augen in der Seele die Eindrücke zu empfangen, welche ein solches Schauspiel nicht verfehlen wird hervorzubringen. Ein anderer Himmel, ein Himmel, herrlicher als der über unsern Häuptern ausgebreitete blaue Himmelsbogen, entfaltet sich vor unsern Blicken im Evangelium; göttliche Wahrheiten sind die Gestirne dieses geheimnisvollen Himmels, und leuchten dort heller und reiner, als die Sterne am Firmament; aber es bedarf eines Auges um sie zu sehen, und dies Auge, meine Brüder, ist die Liebe. Das Evangelium ist ein Wert der Liebe; das Christentum ist nur die in ihrer reinsten Form verwirklichte Liebe; und wie das Licht dieser Welt nur durch das Augenlicht gekannt werden kann, so kann die Liebe nur durch die Liebe verstanden werden.

Und hättet Ihr die Kräfte Eurer Vernunft, die Hilfsquellen Eures Wissens erschöpft, um die Authentizität der Schrift festzustellen, hättet Ihr die scheinbaren Widersprüche unserer heiligen Bücher vortrefflich erklärt; hättet Ihr die Verkettung der Hauptwahrheiten des Evangeliums ganz erfasst - hättet Ihr Alles das getan, und Ihr liebtet nicht, so würde das Evangelium auch dann noch für Euch nur ein totes Wort, ein verschlossenes Buch sein; seine Offenbarungen würden Euch wie Abstraktionen und einfache Ideen erscheinen, sein System wie eine Spekulation, einzig in ihrer Art; was weiß ich? was das Evangelium Anziehendes, Kostbarstes und Süßes enthält, würde Euch nur als eine willkürliche Schöpfung, ein sonderbares Dogma, eine mühevolle Probe Eures Glaubens, und als weiter nichts erscheinen.

Aber die Liebe trete sanft, anmutig, leuchtend, verdolmetschend zwischen das Evangelium und die menschliche Seele, dann wird das Wort des Evangeliums für uns einen Sinn haben, einen eben so klaren als tiefen Sinn; dann wird sich unser Geist frei und ungehindert fühlen, inmitten dieser sonderbaren Offenbarungen; dann werden uns die Wahrheiten, welche wir aus Unterwerfung, aus Gehorsam angenommen hatten, eben so vertraut, eben so notwendig wahr werden, wie die gewöhnlichsten und alltäglichen Wahrheiten, auf welchen unser Dasein beruht; dann werden wir ohne Mühe in dieses wunderbare System eindringen, welches unsere Vernunft sich scheute zu nahe ins Auge zu fassen, aus einer dunklen Furcht, sich zum Unglauben verleiten zu lassen, dann werden wir vielleicht erstaunen, es nicht vorgefühlt, erraten, gefunden zu haben, erstaunen, nicht vor jeglicher Offenbarung verstanden zu haben, dass ein solches System eben so notwendig für den Ruhm Gottes als für das Glück der Menschheit war.

So lange der Mensch mit seiner Vernunft allein auf den Calvarien-Berg gestiegen ist, und um das Kreuz herumgeht, so lange ist für ihn nur undurchdringliche Finsternis in dem göttlichen Werke der Versöhnung. Stünde er ganze Jahrhunderte in Betrachtung vor dieser geheimnisvollen Tatsache, er würde nicht dahin kommen, die Schleier derselben zu lüften. Ach! wie könnte die Vernunft, die kalte Vernunft etwas verstehen von dieser Stellvertretung des Schuldigen durch den Unschuldigen, von dieser Barmherzigkeit, die sich in der Härte der Todesqualen entfaltet, von dieser Vergießung des Blutes, außerhalb welcher, wie geschrieben steht, es keine Versöhnung gibt? Sie wird, ich wage es zu behaupten, der Verständnis dieses göttlichen Mysteriums nicht um einen Schritt näher kommen, bis dass sie, diese undankbaren Spekulationen von sich werfend, einem Geschickteren die Sorge diese Angelegenheit zu beendigen überträgt. Dieser Geschicktere ist das Herz; es heftet seine Augen nur auf die Liebe, welche uns in dem Werke der Erlösung entgegentritt, es denkt nur an die Hingebung des anbetungswürdigen Opfers; es lässt den natürlichen Eindruck dieser Liebe ohne Gleichen frei in sein Inneres dringen und sich dort ungehindert ausbreiten. O! wie schnell zerreißen dann alle Schleier und verschwinden alle Schatten! wie findet der, welcher liebt, so wenig Schwierigkeit, die Liebe zu verstehen! wie scheint es ihm so natürlich, dass Gott, unendlich in allen Dingen, auch unendlich sei in der Liebe! wie unbegreiflich scheint es ihm, auf der andern Seite, dass menschliche Herzen nicht die Schönheit eines Werkes fühlen können, ohne welches Gott nicht ganz offenbart wäre! wie erstaunt es über die Blindheit derjenigen, welche die Schrift lesen und wieder lesen, ohne die Zentral-Wahrheit in derselben zu verstehen, welche bei der Liebe vorübergehen und wieder vorübergehen, ohne die Liebe zu erkennen, ohne die Liebe wahrzunehmen!

Die heilige Schrift hatte ihm von dem Gebet wie von einem starken Mittel, die Gnadenbezeugungen Gottes auf sich herabzuziehen, gesprochen, wie von einer Macht, welcher die Macht Gottes sich zu unterwerfen geneigt ist, und welche, in gewisser Art, mit Gott selbst die Herrschaft der Welt zu teilen scheint. Vor einer solchen Idee weicht die Vernunft bestürzt zurück. Es gibt keinen Einwurf, den sie nicht unwillkürlich gegen ein Dogma macht, welches aber doch zum eigentlichen Wesen der Religion gehört. Aber, meine Brüder, für das Herz? wie schön ist dieses Dogma, wie natürlich, wie glaubwürdig, wie notwendig! mit welchem Eifer bemächtigt sich das Herz desselben! wie beeilt es sich, es in die Reihe seiner teuersten Überzeugungen zu stellen! Und wie erbärmlich und töricht erscheint ihm die Weisheit derer, welche, indem sie von der einen Seite fühlen, dass eine Religion ohne Gebet keine Religion ist, und von der andern, dass die Einwirkung des Gebets auf die Schicksale unerklärlich ist, sich entschließen über diesen Gegenstand im Unklaren zu bleiben, welche warten und nicht beten!

Ebenso ist es mit vielen andern Mysterien des Christentums, des Christentums als eines Ganzen. Selbst für diejenigen, welche es als eine göttliche Religion empfangen, selbst für die, welche daran mit dem Verstande glauben, ist es dunkel, ist es leer, ist es tot, so lange sie das Herz nicht mit zu Rate ziehen. Es gibt unter den aufrichtig Glaubenden viele Menschen, welche lange um das Christentum, der Religion ihres Geistes, wie um ein undurchdringliches Heiligtum herumgegangen sind, welche abwechselnd an alle Thüren dieses Asyls geklopft haben, ohne es sich öffnen zu sehen, welche ohne Erfolg zu diesen Thüren zurückgekehrt sind, an die sie schon mehrere Mal vergeblich geklopft hatten, welche zu gleicher Zeit glauben und nicht glauben, Christen durch ihre Wünsche, Heiden durch ihre Hoffnungen, überzeugt und nicht überredet, aufgeklärt und nicht getröstet. Die sind es, an welche ich mich wende; ich appelliere an ihre Aufrichtigkeit und frage sie: Woher kommt es, dass Ihr glaubt und doch nur die Lasten und nicht die Wohltaten Eures Glaubens habt? Woher kommt es, dass Ihr den Glauben wie ein Joch tragt, das Euch unbequem ist und Euch drückt, nicht wie Flügel, die Euch über Euer Elend und über die Welt erheben? Woher kommt es, dass Ihr im Schoße dieser Religion, welche Ihr angenommen habt und welche Ihr glaubt, fremd, heimatlos, und wie außerhalb Eurer natürlichen Atmosphäre seid? Woher kommt es, dass Ihr in dem Hause Eures Vaters nicht zu Hause seid? Legen wir den Finger auf die Wunde. Es kommt daher, weil Euer Herz noch unberührt ist. Es war nötig, dass das Herz von Lydia sich öffnete, um die Dinge zu verstehen, welche Paulus lehrte. Eben so ist es Euer Herz, welches sich öffnen muss, um Wahrheiten zu verstehen, welche das Herz nur allein verstehen kann. Oder, um uns der kräftigen Sprache der Schrift zu bedienen, es muss in Eurem Busen an die Stelle eines Herzens von Stein ein Herz von Fleisch treten.

Ach! wie viel Personen sieht man nicht, welche mit einer fest begründeten Überzeugung, mit der vollständigsten Orthodoxie dem wahren Glauben fremd sind, wie viele, welche nicht einen einzigen Tag an der Wahrheit der Schrift gezweifelt haben, welche diese eifrig lesen, sie auswendig wissen, und welche alles dessen ungeachtet doch noch nicht glauben! Ach! meine Brüder, es kommt daher, weil der Glaube etwas anderes ist, als ein Produkt des Verstandes; es kommt daher, weil der Glaube Liebe ist. Die Wissenschaft kann uns Überzeugungen geben, die Liebe allein gibt uns das Leben.

Der erste Rath, welchen und die Vernunft geben sollte, wäre der, die Vernunft bei allem, was nicht in ihr Gebiet gehört, zurückzuweisen. Aber die Vernunft ist stolz, die Vernunft ist widersetzlich; sie will nicht nachgeben. Was tut darum der Herr, wenn er eine Seele retten will? Er lässt sie eine Zeit lang sich in ihren Untersuchungen abmühen und über die Erfolglosigkeit derselben unwillig werden. Und wenn sie müde und verzweifelt ist, und wenn sie sich sowohl unfähig erkannt hat, ihr Verlangen nach Licht zu stillen als es zu ersticken, so macht er sich ihre Demütigung zu Nutze; er legt die Hand auf diese von ihren Anstrengungen ermüdete und zerschlagene Seele, und zwingt sie, um Gnade zu bitten. Sie erniedrigt sich darauf, sie unterwirft sich, sie ächzt; sie ruft nach Hilfe, sie entsagt zu wissen, sie will nur glauben; sie macht keinen Anspruch mehr zu verstehen; sie trachtet darnach zu leben. Das Herz beginnt seine Funktionen; es tritt an die Stelle der Vernunft. Es ist ein geängstigtes, ein verlangendes Herz, es ist so wie Gott es wollte. Es bittet um Gnade und siehe da ist die Gnade; es bittet um Beistand und siehe da ist der Beistand; es bittet um Seligkeit und siehe da ist die Seligkeit. Man gibt diesem elenden und verwirrten Herzen im Übermaße alles, was man der stolzen und hochfahrenden Vernunft verweigert hat. Dann lässt sein Elend den Menschen begreifen, was sein Reichtum ihm unbekannt bleiben ließ. Er versteht ohne Mühe. Er nimmt begierig Wahrheiten an, deren er bedarf, und ohne welche keine menschliche Seele den Frieden und das Glück haben kann. Und so erfüllt sich, was die Weisheit gesagt hat:

dass die Quellen des Lebens aus dem Herzen entspringen.

Werdet Ihr, stolze Geister, kommen und von ihm über seinen Glauben Rechenschaft fordern? Sicher wird er Euch das Unerklärliche nicht erklären, und Ihr werdet in dieser Beziehung schlecht befriedigt zurückkehren. Aber wenn er Euch sagt, wenn er Euch sagen kann: Ich liebe, muss diese Antwort Euch nicht genügen? wenn er Euch sagen kann: Ich gehöre mir nicht mehr selbst an, noch der Ehre, noch der Welt; meine Speise ist, den Willen meines himmlischen Vaters zu tun; ich trachte nur nach den ewigen Gütern; ich liebe in Gott alle meine Brüder mit einem innigen Gefühl, ich bin zufrieden zu leben, ich werde glücklich sein zu sterben; alles ist künftig Harmonie in mir, meine Kräfte und meine Tätigkeit, meine Bestimmung und meine Wünsche, meine Neigungen und meine Gedanken: die Welt, das Leben, die menschlichen Dinge haben kein Geheimnis mehr, welches mich quäle, keinen Widerspruch, der mich betrübe; mit einem Wort, ich bin auferstanden zu einem neuen Leben . Wenn er Euch dieses Alles sagt, und es Euch sagen kann, und wenn sein ganzes Leben eine Bürgschaft für seine Worte ist, ach! dann erspart bei ihm Eure eitlen Schlussfolgerungen; versucht nicht, ihn zu widerlegen; er hat die Wahrheit, denn er hat das Leben. Er berührt mit seinen Händen, er sieht mit seinen Augen, er fasst, in gewisser Art, mit allen seinen Sinnen eine Wahrheit, welche alle Argumente der Welt nicht mit einer solchen Gewissheit feststellen, welche alle Argumente der Welt nicht erschüttern würden. Hat der, welcher sich des Gesichts erfreut, nötig, dass man ihm das Licht beweise? Wird sich der, welcher sich wohlbefindet, überzeugen lassen, dass er leidet? Sie sind unerschütterlich, die Wahrheiten, von denen der Beweis in ihm liegt, was sage ich? von denen er selbst der lebendigste Beweis ist.

So, meine Brüder, haben die Wahrheiten des Evangeliums sein Herz umgewandelt, aber es war zuerst nötig, dass der Geist Gottes sein Herz vorbereitete, die Wahrheiten des Evangeliums zu empfangen. Verlieren wir diese beiden Wahrheiten nicht aus dem Auge. Es ist das Evangelium, welches uns erneuet, es ist der Geist Gottes, welcher uns das Evangelium im Herzen empfangen lässt. Und wenn wir es empfangen haben, wenn in unserm Herzen, das so eben noch krank und entartet war, die Liebe ihr unwandelbares Reich aufgeschlagen hat, wird diese Liebe eine reichliche Quelle der Erleuchtung. Tausend Dunkelheiten des heiligen Wortes klären sich durch sie auf. Ihre Flamme gibt nicht weniger Licht als sie Wärme gibt. Bewundernswürdige Tatsache! In dem Verhältnis als wir mehr lieben, erkennen wir besser. Das ist die Erfahrung des Christen. Wollt Ihr sie nicht machen, Ihr Sklaven der Vernunft, traurige Opfer eines Wissens, welches seine Grenzen verkennt, und welches seine Rechte überschätzt? Ihr, die da wisset und nicht lebt, wollt Ihr nicht Gott um Liebe bitten, damit ihr die Liebe versteht, um Liebe, damit Ihr erkennt, um Liebe, damit Ihr lebt?

O Gott, den wir niemals erkannt, niemals angebetet haben würden, wenn Du Dich uns nicht gnädig in dem Lichte des Evangeliums entdeckt hättest, vollende das große Werk, welches Du begonnen hast. Gib uns ein Herz, die Wahrheiten zu verstehen, welche Du uns offenbart hast. Mögen bei dem Lichte der Liebe, welche Du in unser Herz gelegt haben wirst, die Dunkelheiten Deines Wortes für uns verschwinden. Möge Deine Güte, Deine wunderbare Weisheit keine andere Geheimnisse für uns haben, als die, welche zu wissen uns unnötig sein würde; lehre uns durch die Liebe die vollkommenste Weisheit; mache den Einfältigsten geschickt in der Wissenschaft des Heils. Dein Geist, Herr, ist Liebe, wie Du selbst Liebe bist; verbreite sie auf der Erde; nähre aller Orten diese heilige Flamme; ziehe alle Herzen an Dich; mache aus allen Seelen eine einzige Seele in dem gemeinschaftlichen Gefühl der Anbetung und der Hingebung. Wir werden alle wissen, o Herr, wenn wir zu lieben wissen werden; wir werden voller Freude sein in einer Klarheit, welche kein mühsames Studium hervorgebracht hat, aber welche heiligt und welche tröstet. Dann wirst Du wirklich im Evangelium zu uns geredet haben; dann nur wird es wahr sein, dass Du uns eine Botschaft der Liebe und des Friedens hast zukommen lassen; und unsere kalte, unnütze und unfruchtbare Überzeugung wird sich verwandeln in einen lebendigen Glauben, voller Hoffnung, voller guter Früchte.

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