Tholuck, August - Das Lob der Liebe (2)

Warum ist diese Liebe die größeste unter allen Tugenden?

Der heutige Sonntag findet uns, andächtige Gemeinde, vor demselben Abschnitte des Wortes Gottes versammelt, welchen wir am vorigen Sonntage mit einander erwogen haben. (1. Cor. 13.)

Diese Worte der Schrift, welche wir in unserer letzten Betrachtung beherzigten, hatten eine Höhe und Tiefe, die wir in einer Stunde nicht ausmessen konnten. Wir werden sie nicht ausmessen, auch wenn wir Wochen und Jahre lang mit unserer Betrachtung dazu zurückkehren. Wir haben aber wenigstens zwei Fragen daran angeknüpft, die uns in ihren Inhalt hineinleiten sollten. Wir haben die eine Frage in unserer letzten Erbauung beantwortet: Was ist das für eine Liebe, welche der Apostel hier schildert? Unsere Antwort war: Es ist jene herrliche Frucht, welche auf dem Baume wächst, der da heißt: Glaube an Jesum Christum. Wir legen die andere Frage uns heute vor: Warum ist die Liebe unter den ersten der christlichen Tugenden die erste? So laßt uns denn zuerst erwägen: Welches sind die ersten unter den christlichen Tugenden? und sodann die Antwort auf die Frage suchen, warum ist die Liebe unter diesen ersten die erste?

Wenn wir von christlichen Tugenden reden, müssen wir uns wohl hüten, uns das innere Leben des Christen als ein künstliches Gemälde zu denken, wie ihr es ja wohl schon gesehen habt, zusammengefügt aus mancherlei buntem Gestein, so daß du den einen und den andern Stein könntest herausnehmen, und es blieben doch alle andern, was sie waren. Also steht es nicht mit christlicher Liebe. Christliche Liebe ist nichts Anderes als Christus in der Seele des Menschen. Nähmest du aber von Christo ein einziges Stück hinweg, wäre es gar nicht mehr Christus. So fehlt es bei einem jeglichen Christen am Ganzen des christlichen Lebens, wo es an einer einzelnen Tugend fehlt. Gestattet mir hier, um, was ich euch sage, auf's deutlichste auszusprechen, und zugleich recht anwendbar zu machen, euch an ein merkwürdiges Wort eines edlen Mannes und Weltweisen zu erinnern: „Mit dem Kopf bin ich ein Heide, mit dem ganzen Herzen ein Christ. So schwimme ich zwischen zwei Wassern, von denen, wenn das eine mich aufnimmt, das andere mich abstößt, und die sich mir nie zu Einem Strome vereinigen wollen, daß sie mich gemeinsam trügen.“ Ist so etwas möglich, meine Andächtigen? Nimmermehr. Brennt in Wahrheit christliches Feuer hier im Herzen, muß nothwendig sein Wiederschein auch das Haupt erleuchten. Leuchtet Christi Licht in Wahrheit im Haupte, muß es nothwendig auch unten erwärmen im Herzen. „Ein Feuer bin ich gekommen anzuzünden - ruft Christus - und wie wollte ich, es brennete schon!“ Die Feuerflamme nun hat Licht und Wärme und verzehrende Kraft. Kannst du aber Eines von diesen Dreien wegnehmen, bleiben die andern nicht, sondern du hast das Feuer selbst ausgelöscht. Also ist es mit dem Feuer Gottes im Menschenherzen. Danach nun habt ihr es zu verstehen, wenn euch verschiedene christliche Tugenden genannt werden, und etliche davon die ersten heißen. Als die drei christlichen Haupttugenden nennt nun der Apostel, und zwar nicht bloß an unserer Stelle, Glaube, Liebe und Hoffnung. Die stehen bei ihm allenthalben zusammen. „Wir danken Gott, schreibt er an die Colosser, und beten alle Zeit für euch, nachdem wir gehört haben von eurem Glauben an Christum Jesum und von der Liebe zu allen Heiligen um der Hoffnung willen, die euch beigelegt ist im Himmel“; und an die Thessalonicher schreibt er: „Wir gedenken an euer Werk im Glauben, an eure Arbeit in der Liebe und an eure Geduld in der Hoffnung“; und schreibt an den Philemon: „Nachdem ich höre von der Liebe und von dem Glauben, welchen du hast an den Herrn Jesum und gegen alle Heiligen.“ -

So lasset uns denn diese heilige Dreizahl christlicher Tugenden näher mit einander betrachten. Glaube, meine Andächtigen, ist ein Wort, das in der heiligen Schrift nicht in demselbigen Sinne gebraucht wird, wie im gewöhnlichen Leben. Darum hat uns denn auch die heilige Schrift eine Erklärung dieses Wortes gegeben, um es nicht mißzuverstehen, und zwar sagt sie uns: „Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht deß, das man hofft, und nicht zweifelt an dem, was man nicht sieht.“ Und wiederum wird der Glaube des Moses uns näher beschrieben in den Worten: „Er hielt sich an den, den er nicht sah, als sähe er ihn.“ Ihr sehet, gerade das Gegentheil von dem, was im gewöhnlichen Leben euer Glaube ist - nicht ein schwankendes Meinen ist der Glaube der heiligen Schrift. „Er ist eine zweifellose Gewißheit von dem, was man nicht sieht.“ Wir haben fünf Sinne, durch welche die ganze sichtbare Welt zu uns eingeht. Der Glaube ist ein neuer Sinn, ein neues Auge, wodurch die unsichtbare Welt zu uns eingeht. Wer das Glaubensauge hat, wandelt unter lauter Gegenständen, die Andere nicht wahrnehmen. Für ein gläubiges Gemüth ist der Weihnachtsmorgen da und die Wiege mit dem Gotteskinde; ist der Ostermorgen da mit dem Herzog des Lebens, der den Tod überwunden; ist der Himmelfahrtsmorgen da mit dem Fürsten der Seligkeit, der sich zur Rechten des Vaters erhebt, um uns eine Stätte zu bereiten; ist der Himmel zerrissen und die Herrlichkeit des Thrones Gottes da mit den Tausend mal Tausenden seiner heiligen Engel, ist der Schleier des Abgrundes zerrissen, und die Tiefe aufgedeckt, wo der Wurm nagt, der nimmermehr stirbt. Will es euch nun noch wundern, wenn die ungläubige Welt von ihnen sagt: sie schwärmen! Wollet ihr ihnen deshalb zürnen? Ihr könnet es nicht - ihr könnet ja dem Blinden nicht zürnen, weil er nicht sieht, was euer Auge sieht. Aber freilich, bestreiten sollen sie nicht, daß es noch einen andern Sinn gibt außer jenen fünfen, von denen sie wissen - den, von welchem Johannes zeugt: „Er hat uns einen Sinn gegeben, daß wir erkennen den Wahrhaftigen.“ Ihr sehet aber auch, wie reich euch der Glaube macht. Ihr saget oftmals: „ach die armen Blinden 1 - ist nun am Himmel und auf Erden eine solche Herrlichkeit Gottes ausgebreitet, und können doch deren keines sehen — ach, um eine ganze Welt sind sie armer, als wir.“ Ihr aber, die ihr von dem Sinne nicht wisset, welchen der Sohn Gottes den Seinigen gibt, daß sie erkennen den Wahrhaftigen, ihr, denen das Glaubensauge fehlt - glaubet mir, nicht um ein Land, nicht um einen Erdtheil, um eine ganze Welt seid ihr ärmer als die, welche es besitzen. - Gewißheit also von der unsichtbaren Welt, das ist das Wesen des Glaubens.

Und was ist nun das Wesen der Hoffnung? Von ihr und von der Liebe lesen wir keine Erklärung in heiliger Schrift. Diese beiden Worte werden in der Schrift in keinem andern Sinne gebraucht, als im gewöhnlichen Leben, nur daß der Gegenstand christlicher Liebe und christlicher Hoffnung ein gar anderer ist, denn der aller andern Liebe und Hoffnung. Wollet ihr einmal sehen, wie Christenmenschen von allen andern sich unterscheiden, so sehet nur darauf, worauf alle anderen Menschen am meisten hoffen. Von christlicher Hoffnung aber leset ihr bei Paulus: „Und warten auf die selige Hoffnung der Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi“; leset bei Petrus: „Gelobet sei der Gott und Vater unsers Herrn Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten, zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das behalten wird im Himmel.“ Und wiederum: „Setzet eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird durch die Offenbarung Jesu Christi.“ Christlicher Hoffnung Gegenstand ist also das selige Erbtheil der Kinder Gottes, das ihnen aufbewahrt wird bis zur Zeit der Erscheinung Jesu Christi selber. Und ist dem so, so kann denn die Hoffnung auch nicht ohne den Glauben seyn. Erst der Glaube gibt der Hoffnung ihre Gewißheit; die Hoffnung aber ist jene feste Hinrichtung des ganzen Gemüths auf jene selige Zukunft der Vollendung. Darauf hin nun war bei jenen ersten Christen ihr ganzes Gemüth gerichtet. Hier auf Erden sahen sie nur einen schwachen Anfang von Erlösung. Ach wie Vieles, Vieles war in ihnen und an ihnen, was der Erlösung noch wartete! Alle Tage beteten sie daher: „Dein Reich komme!“ und harreten in Geduld auf die vollendete Erscheinung der seligen Hoffnung. Könnet ihr euch nun noch wundern, wenn ihr die Apostel und jene ersten Jünger des Herrn allzumal die Erscheinung ihres lieben Herrn und das glorreiche Ende der Zeiten ganz in der Nähe erwarten sehet, wenn sie mit Freuden ausrufen: „Er ist nahe, Er ist vor der Thür!“ O warum anders schiebt ihr sie so weit hinaus, jene Zeit der großen Vollendung, als weil sie eben für euch noch nicht der Gegenstand einer seligen Hoffnung geworden ist! Aber gegürtet zu stehen allezeit an den Lenden, die Lampe in den Händen brennend, als Knechte, die ihres Herrn warten: so verlangt der Heiland seine Jünger. Oft und vielmals hat er das ihnen zugerufen. Brüder, sollen wir eingedenk seyn, daß jedem Einzelnen unter uns in der nächsten Stunde, bei dem nächsten Schritt, der Boden, auf dem er jetzt noch so fest daherschreitet, einbrechen kann: ein wie viel mächtigeres und furchtbareres Bewußtseyn muß es seyn, die Erinnerung mit dir herumzutragen, daß in jedem nächsten Augenblicke der ganzen Menschheit der Boden, auf dem sie jetzt so sicher dahertritt, zusammenbrechen mag. O ihr sichern Sterblichen, ihr denkt nur an die uralten Granitfelsen, über denen euer Fuß, wie ihr meint, sicher für Ewigkeiten dahinschreiten kann, aber der Granitfels ruht in des Ewigen Hand; er ziehet seine Hand zurück und - mit allen ihren Millionen Bewohnern sinkt die Erde in den Abgrund. Solche Menschen verlangt also der Heiland zu seinen Jüngern, deren Blick unaufhörlich, während sie hinauseilen nach dem Ziele, nicht zur Rechten blickt und nicht zur Linken, sondern nach dem seligen Ziele! -

Was unter Liebe die Schrift versteht, das ist wohl im Ganzen kein anderer Begriff der Liebe, als wir ihn kennen; aber freilich ist in Christo jene Liebe in einer Fülle erschienen, welche aufzufassen unser Sinn zu eng ist. Paulus bittet auf den Knieen Gott, daß er die Gemeinde dahin führen möge, zu erkennen „welches da sei die Länge und Breite und Höhe und Tiefe der Liebe Christi,“ von der er selbst sagt, „daß sie über alles Erkennen hinausgehe.“ Was ist die Liebe? Sie ist das Streben, hinzugeben Alles, was du Herrliches hast, an den Geliebten als Opfer, leer zu werden von dir selber, und dagegen voll von dem Geliebten und aller seiner Fülle. Habt ihr wohl an dem Abbilde, auch zuweilen an dem Zerrbilde der ewigen Liebe, wahrgenommen, wie diese sinnliche Liebe voll zu werden sucht des geliebten Gegenstandes, wie jeder Sinn darauf gerichtet ist: mit dem Auge, mit dem Ohr, mit der Hand, mit dem Geiste; ja es öffnet sich selbst der Mund, um den Odem des geliebten Gegenstandes zu empfangen. O ihr, die ihr also mit allen Adern eures Wesens an dem Geschöpf Gottes hangen und nach ihm verlangen könnet, habt ihr denn schon jemals so verlangt nach eurem Schöpfer? O warum kennet ihr nicht die Seligkeit der gläubigen Seelen, wenn in heiligen Gebeten ihr Inneres wie ausgebreitet liegt vor Gott, wenn das Auge an dem weiten, tiefen, reinen Himmel hängt, dem schönsten Sinnbilde der Unermeßlichkeit, Heiterkeit und Herrlichkeit der Liebe, die uns zuerst geliebt, wenn ihrem Ohre alle irdischen Töne verschwinden, wenn der Odem anhält, und nur ein einziges Gefühl in der Seele lebt: Ewiger, du bist! Da geht man unter in ihm ^- „ich in dir, du in mir, laß nur Dich mich finden, mich in Dir verschwinden.“ Nicht daß bei einer solchen Hingabe der Liebe an den Ewigen die eigene Person aufhörte, vielmehr gerade dadurch, daß sie diese ewige entfaltende Licht- und Lebenskraft in sich aufnimmt, wird sie erst recht entfaltet und entwickelt.

Sehet da den heiligen Dreiklang der ersten der christlichen Tugenden, in welchen ihr den Wiederschein habt der göttlichen Dreieinigkeit selbst; denn wie der Glaube, welcher die Gewißheit von dem Reiche der ganzen übersinnlichen Welt ist, sich auf den Urgrund der Gottheit bezieht, von dem Alles ausgegangen, auf den Vater, so bezieht sich die Hoffnung auf den heiligen Geist, welcher einst Alles mit uns zu Ende führen soll, und die Liebe auf denjenigen, durch welchen und in welchem der verborgene Urgrund der Gottheit mit seiner ganzen Fülle der Menschheit nahe gekommen ist und in alle Ewigkeit hin sich ihr mittheilen wird. So hat denn unter den Aposteln jeder Ton dieses heiligen Dreiklanges seinen Vertreter gefunden; denn wie Paulus der Prediger des Glaubens und Johannes der Prediger der Liebe, so ist Petrus in dem ersten seiner Briefe der Prediger der Hoffnung. Den Preis jedoch, den geben Alle ohne Unterschied, auch einen Petrus und Jakobus nicht ausgenommen, der Liebe. „Ueber Alles, ruft Paulus der Gemeinde zu Colossä zu, über Alles ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.“ „Lasset uns ihn lieben, ruft Johannes, denn er hat uns zuerst geliebet.“ „Vor allen Dingen, schreibt Petrus, habt unter einander eine brünstige Liebe, denn die Liebe decket auch der Sünden Menge.“ „So ihr das königliche Gesetz, sagt Jakobus, vollendet nach der Schrift: Liebe deinen Nächsten als dich selbst, so thut ihr wohl.“

Warum - so fragen wir uns denn also - ist unter den ersten der christlichen Tugenden die erste die Liebe? Die Liebe ist die größeste unter den dreien 1) weil sie bleibet, wenn Glaube und Hoffnung zu Ende gehen; 2) weil sie die Geburtsstätte ist des Glaubens und der Hoffnung; 3) weil sie die Stätte ist, wo der Glaube und die Hoffnung vollendet werden.

Der Apostel hat in unserm Texte nur den ersten Grund uns angegeben: daß die Liebe bleibet, wenn Glaube und Hoffnung zu Ende gehen; doch gerade darin, daß die Liebe etwas Ewiges ist im Menschen, liegt eben auch der Grund, warum sie vorangeht dem Glauben und der Hoffnung und warum sie Glauben und Hoffnung vollendet. Die Gewißheit, welche wir gegenwärtig von der unsichtbaren Welt haben durch den Glauben, ist eine Gewißheit, die im Widerspruche steht mit Allem, was vor unserm sinnlichen Auge liegt. Unermeßlich zieht sich die Kette von Ursach und Würkung durch alles Geschaffene hin und scheint Ursach und Grund zu geben für Alles, was da geschieht. Du aber sollst glauben, daß ihr letztes Glied an dem unsichtbaren Finger des Vaters Jesu Christi hängt, und daß sein unsichtbarer Odem es ist, der alle Glieder in Bewegung setzt. Als Könige und Herren des Schicksals scheinen sie über die Erde zu wandeln, die Menschenkinder allzumal - das gekrönte Haupt des Frevlers stürzt Tausende in den Abgrund des Elends nach eigener Wahl; frei zieht der Vater der Lüge samt seinen Kindern über die Erde hin und streut seinen Unkrautssamen bei Tage wie bei Nacht, und du sollst glauben, daß von jedem Haupte und von jeder Hand ein unsichtbarer Faden nach den Wolken geht, welche Fäden alle in der Hand einer ewigen Weisheit und Gerechtigkeit zusammenlaufen - sollst glauben, daß über all dem Jammer, Gewirre und Streit ein König thront, der in jedem Augenblick in die brandenden Wogen hineinrufen kann: bis hieher und nicht weiter! Hier stehest du den, der nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte, und sollst glauben, daß die Zügel des Weltregiments in seinen durchgrabenen Händen liegen ,^ den Menschensohn, welchen die Menschheit ins Angesicht schlägt und auf dessen heiliges Haupt sie die Dornenkrone drückt, und sollst glauben, daß unter dem unscheinbaren Gewande die Donner des Himmels ruhen - stehest den Jünger dessen, der den Seinigen verheißen, daß sie die Engel richten sollen, wie alle andere Erdenkinder, die Stirne mit Schweiß bedeckt und in dem Auge Thränen, über die Erde wandeln, und sollst glauben-: „das ist je gewißlich wahr, dulden wir mit, so werden mit herrschen“. 3 - er ist ein dunkles Sylbenräthsel, der Lauf dieser Welt! - eine und die andere Sylbe magst du davon errathen, aber das ganze Wort räth Keiner. O wie das Auge sich so schwer aufwärts hebt, auf welches der Nebel des Erdenthales drückt! o wie der Arm, der über die ganze Endlichkeit hinausreichen soll, ins Heiligthum hinein, so oft müde wird! Diese Art der Gewißheit der überirdischen Welt soll einst für die Gläubigen aufhören. Was du geglaubet hast, sollst du einst sehen, wie du geglaubet hast, so soll's geschehen. Du sollst hinantreten zu dem geistigen Berge Zion, zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem, zu der Menge vieler Tausend Engel, zu der Gemeinde der Erstgebornen, die im Himmel angeschrieben sind, zu Gott, dem Richter über Alle, zu den Geistern der vollkommenen Gerechten, zu dem Mittler des Neuen Testaments, Jesu, und zu dem Blute der Besprengung, „das da besser redet, denn Abels“. Da sollst du es schauen, wie alle Fäden von allen Herzen und allen Häuptern in einer himmlischen Hand zusammenlaufen; da sollst du den Heiligen Gottes, der hier die Dornenkrone trug, mit der Himmelskrone sehen; da sollst du, die mit Thränen säeten, mit Freuden ernten sehen und bringen ihre Garben! da sollst du, die nicht hatten, wo sie ihr Haupt hinlegten, beim königlichen Hochzeitmahle sehen zur Rechten und zur Linken des Gottessohnes.

Es glänzet der Christen inwendiges Leben,
Wenn gleich es verhüllet ihr irdischer Stand;
Was ihnen der König des Himmels gegeben,
Ist Keinem als ihnen nur selber bekannt;
Was Niemand verspüret, Was Niemand berühret,
Hat ihre erleuchteten Sinne gezieret,
Und sie zu der göttlichen Würde geführet.

So wird der Glaube einst untergehen im Schauen und mit ihm die Hoffnung, denn eine Zukunft wird ja dann nicht mehr seyn, sondern eine ewige Gegenwart. Die Liebe aber wird bleiben. Ja nicht bloß bleiben wird sie, sondern der schmale Streif des Baches, der hier aus tief verborgener Quelle floß, wird dort zum breiten Strome werden. Hier konnte die Liebe sich nur erhalten, indem das Glaubensauge sich die unsichtbare Welt vergegenwärtigte. Versuche es, schließe auf einen Augenblick dieses innere Auge, gib mit deinem Blicke dich bloß der sichtbaren Welt hin, und du wirst nur lieben, was du flehest. Ach warum anders hangen sie nur an dem irdischen Geschöpf und verlangen darnach, als weil ihr Glaubensauge nicht offen bleibt, und sie die unsichtbare Herrlichkeit des Ebenbildes des Vaters nicht sehen! Könnten sie sie sehen, so müßten sie auch dieselbe lieben: den Unsichtbaren sehen und ihn lieben ist Eins. Wenn es nun aber dieser Anstrengung nicht mehr bedürfen, wenn der schwere Nebel des Erdenthales auf das Glaubensauge nicht mehr drücken wird, wenn überall um uns her es vor Augen stehen wird.

Was wir in der Schwachheit hier glaubten: o wie wird das Lieben dann so leicht seyn! Der Tod der Gläubigen ist auch für ihren Glauben und für ihre Hoffnung der Tod, aber die Auferstehungsstunde für ihre Liebe.

Dies ist es, was uns der Apostel als den Grund erkennen läßt, warum die Liebe die erste unter den ersten der Tugenden sei. Doch eben, weil sie die ewig bleibende ist, so erweist sie sich auch noch in anderer Beziehung als die erste. Die Liebe nämlich ist die Stätte, wo der Glaube geboren wird, und wo der Glaube seine Vollendung findet. - Sie ist die Stätte, wo der Glaube geboren wird. Lasset mich euch zurückrufen, was eine frühere Betrachtung uns gelehrt hat, daß, gleichwie alle Materie durch jene geheimnißvolle Kraft zu ihrem Mittelpunkte hingeführt wird, also es auch eine Schwerkraft gibt im Reiche der Geister, welches ist die Liebe, die da alle Geister, welche ausgegangen sind vom Vater der Geister, auch zu ihm wieder zurückführt. In jedem Menschenherzen, auch in dem umdüstertsten, liegt verhüllt unter tausend Hüllen der Nacht ein heiliger Same der Gottesliebe. Was euch keine Ruhe läßt in allem Treiben des gewöhnlichen Lebens, was euch nicht wohl werden läßt an der Brust der ganzen geschaffenen Natur, was euch immerdar ausrufen läßt: O es muß noch etwas Anderes geben, was meine Seele satt machen kann - Brüder, das ist der heilige Same der Gottesliebe, der schwellend hindurchbrechen will durch alle Hüllen der Nacht. Du weißest noch nicht, was du suchst, aber du suchst mit unaufhörlichem Durste. Einzelne Prophetenklänge tönen zu dir herüber und predigen von einem ewigen Gute, darin die Seele ruhen kann. Es drängt dich daran zu glauben, denn ach! der Hungrige muß ja glauben, daß es Brot für ihn gibt - siehe, so ist die noch unverstandene Liebe zu dem Urquell alles Guten die Geburtsstätte des Glaubens an eine unsichtbare Welt. Und hat der dunkle Trieb deiner Liebe dir erst die Gewißheit gegeben, daß es ein Reich des Geistes und der Wahrheit geben müsse, in dem du ausruhen kannst: o nur vor deinen Blick zu treten braucht er alsdann, der König des Landes der Wahrheit, und mit der Gewißheit des Glaubens sinkst du vor seinen Füßen nieder. Wo irgend in einem Herzen erst Gewißheit ist, daß es ein Land beseligender Wahrheit gebe, fürwahr, da ist auch der Glaube an den König desselben etwas Leichtes! Sehet, in dieser unverstandenen Liebe findet jenes große Wort eines weisen Mannes seine Erklärung, das ihr schon oft werdet vernommen haben: „Menschliche Dinge muß man erkennen, um sie zu lieben, göttliche lieben, um sie zu erkennen.“

Aber auch die Stätte seiner Vollendung findet der Glaube in der Liebe. Je größer nämlich die Gewißheit von dem Gegenstande unserer Liebe, desto inniger die Hingebung an denselben; je inniger die Hingebung, desto reicher die Erfahrung; je reicher die Erfahrung, desto lebendiger die Gewißheit. So sehet ihr es ja wohl an betagten Jüngern des Herrn, denen etwa eine siebenzigjährige Erfahrung, was sie glaubten, gewiß gemacht hat, wie sie am Ende mit den unsichtbaren Dingen so vertraut umgehen, als lägen sie vor ihren Augen; wie sie kaum mehr zu sagen brauchen: „Ich glaube“, wie ihnen fast die Gewißheit des Schauens zu Theil geworden, je mehr sich an ihnen jenes erhabene Wort des Apostels erfüllet: „Es spiegelt sich in uns des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht, und wir werden verkläret in dasselbige Bild von einer Klarheit zur andern, als vom Herrn, der der Geist ist.“ - Du saßest in einem dunkeln, unterirdischen Kerker, und in deinem Herzen war ein Trieb nach Licht. Der war für dich eine Prophezeihung, daß es Licht geben müsse, und du glaubtest daran, noch ehe sein milder Schimmer in dein Auge gefallen war. So schuf die Liebe den Glauben. Durch eine kleine Spalte kamen einige Boten von dem milden Lichte in deinen Kerker und begrüßten dich freundlich; du gabst dich ihnen hin, und die Erfahrung dieser wenigen Strahlen machte deine Gewißheit lebendiger, daß es eine Sonne geben müsse. So vollendet die Liebe die Gewißheit des Glaubens. Einst wirst du heraustreten aus dem dunkeln Kerker, die volle Sonne wird alle ihre Strahlen über dein Antlitz legen, mit allen deinen Sinnen wirst du sie in dich saugen, wirst ganz überschwenglich erfahren, wie dieses Licht ein Licht des Lebens ist. Deine vollkommene Erfahrung in der Liebe wird deinen Glauben vollenden. Und seine Vollendung wird auch sein Ende seyn, denn in dieser seiner Vollendung wird er untergehen als Glaube und aufgehen als Schauen, gleichwie die Blüthe untergeht in der Frucht.

Noch einmal, meine Brüder, ihr, die ihr das Land des Glaubens nicht kennt: nicht um ein Land, nicht um einen Erdtheil, um eine ganze Welt seid ihr ärmer! Darum vor Allen ihr, künftige Lehrer der Gemeinde, die ihr hinüberführen sollt in diese geheiligte und gesegnete Welt des Glaubens, saget mir: habt ihr empfangen den Sinn, den neuen Sinn, von welchem Johannes sagt, daß man damit erkennet den Wahrhaftigen? Und gesetzt, es wären Einige, die ihn nicht hätten, sagt mir: Wen wollt ihr anklagen? - Doch nicht den, „von welchem herab alle gute Gabe fleußt, den Vater des Lichts, der da gibt jedermann einfältiglich“ - doch nicht den, welcher uns durch seinen Sohn hat sagen lassen: „So ihr, die ihr arg seid, wisset euern Kindern gute Gaben zu geben, um wie vielmehr wird euer himmlischer Vater seinen Geist geben denen, die ihn darum bitten?“ Nein, daß der Unglaube vom Vater des Lichts stamme, also lehrt uns unsere heilige Religion nicht. - Mein Bruder, an dich wende ich mich, dem bei dem Gedanken, daß er jenen Sinn nicht hat, zu erkennen den Wahrhaftigen, eine Thräne über die Wange schleicht, sag' mir - ist die Liebe, jene unverstandene Liebessehnsucht, die Geburtsstätte des Glaubens: warum hast du diese Liebe nicht? Hast du sie, o so mache es wie die Athener: kannst du dem bekannten Gotte noch keinen Altar errichten, o baue unterdeß einen Altar dem unbekannten Gott, und - glaube mir! - er wird kommen, der, welchen deine Seele sucht, ohne daß sie ihn sieht, und wird sich auf den Altar stellen. - Ihr aber, die ihr überhaupt die Sehnsucht nicht kennt, in der unsichtbaren Welt einen Gegenstand zu haben, vor dem ihr eure Kniee beugen könnet, die ihr auch nicht einmal die Liebe zu dem unbekannten Gotte kennet: nicht Gott hat euch von dem seligen Lande des Glaubens ausgeschlossen, sondern eure eigenen liebeleeren Herzen! -

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