Tholuck, August - Ps. 119, 39 - "Warum bleiben unsere Entschlüsse so häufig ohne Erfolg?"

(Am Anfange eines neuen akademischen Halbjahres)

Ein neues akademisches Halbjahr ist ein neuer Abschnitt des Lebens und der Mensch, der sich eines Zieles des Lebens bewußt ist, beginnt jeden neuen Abschnitt mit neuen Entschlüssen. Mit neuem Entschlusse tritt der Knabe ins Jünglingsalter, mit neuem Entschlusse beginnt jedes neue Jahr, mit neuem Entschlusse der neue Tag, mit neuem Entschlusse beginnst auch du, akademische Jugend, das neue Halbjahr. Bei jedem solchen neuen Entschlusse giebt es aber einen Gedanken, der auf einmal dem sich Aufschwingenden das Flügelgelenk zerknickt, und mit dem Glauben die Kraft raubt: es ist der Gedanke an die vielen Entschlüsse hinter uns, die zu Wasser geworden sind, der Gedanke an die unzähligen Vorsätze und Thaten, die ohne Erfolg geblieben sind. Wir stehen auf einem Hügel, die Bahn des Lebens liegt hinter uns, Entschlüsse an jedem ihrer Absätze, - Entschlüsse, aber keine Erfolge. Und wo es so ist, da sollten wir getrost in die Zukunft blicken können? Was Wunder, wenn da der Blick nach dem letzten Lebensabschnitte sich hinwendet, und seine Hoffnung darüber hinauswirft: ist hier nur das Land der Entschlüsse gewesen, so wird doch dort das Land der Erfolge seyn; ja was Wunder, wenn dann sogar der Zweifel sich hervordrängt: „wer weiß, ob auch dort -!“ Hat es nun und nimmer die Entschließung auf der Erde zum Erfolge gebracht, wer giebt die Bürgschaft, daß sie es jenseits können werde? - Und wer mit so geknicktem Flügelgelenk dastehen muß, der sollte nicht zu beklagen seyn, und das Christenthum sollte den Namen einer Kraft verdienen, das uns nicht weiter zu bringen vermag, als bis dahin? Nimmermehr, entweder ist das Christenthum keine Kraft aus Gott, oder wir, die wir nicht die Gewißheit haben, den Entschluß zu jedweder That, welche Gottes Wille fordert, zum Erfolge bringen zu können, sind noch keine Christen, gehören der Jüngerschaft des Mannes nicht an, der, obgleich er Fleisch und Blut hatte, wie wir, doch gerufen hat: „Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig macht.“

Es ist diese ernste Betrachtung, welche uns zu der Frage leitet: warum bleiben unsere Entschlüsse so häufig ohne Erfolge? Wir erhalten die Antwort auf diese Frage in Psalm 119, 39., wo der Psalmist also bekennt: „Ehe ich gedemüthigt war, irrte ich, nun aber halte ich dein Wort.

Wir wissen es nicht, ob diese Worte des Psalmisten von jenem tief gefallenen und tief gedemüthigten König ausgegangen sind, der uns den Schmerz der Sünde wie den Triumph der Gnade so erhebend geschildert hat. Es ist wohl anzunehmen, daß es nicht Davids Worte sind; doch sprechen auch sie, wie so manche in den Psalmen, die würklich ihm zugehören, die Erfahrung aus dem Leben des königlichen Sängers aus. In unschuldiger Frömmigkeit hat er einst bei seines Vaters Heerden Psalmen gesungen, hat in kindlicher Zuversicht gesungen: „der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln;“ aber des Thrones Allmacht und Glanz hat sein Auge verblendet, in diesem und jenem Stücke hat er sich überhoben, und der Willkür Raum gegeben bis zum tiefsten Falle, bis zur Versündigung mit dem Weibe des Uria, bis er so tief gefallen war, daß, wenn wir auf die äußere That blicken, vielleicht nicht Einer unter uns ist, der nicht besser wäre, denn er. Oftmals wird unter uns um dieses Falles willen schwere Anklage gegen den königlichen Mann erhoben. Wie könnten wir die Schuld, die er auf seine Seele gewälzt hat, so gering anschlagen, da er selber sie so schwer anschlägt, daß er ausruft: „Da ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein täglich Heulen; denn deine Hand war Tag und Nacht schwer auf mir, daß mein Lebenssaft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird!“ So hat er sich selber angeklagt, darum wir ihn nicht lossprechen können; aber zweierlei laßt uns nicht vergessen: wollten wir vergessen die Versuchung, welche die Unumschränktheit eines morgenländischen Herrschers mit sich brachte? und wollten wir ferner vergessen den Schmerz der Buße, welche so viel Früchte brachte? - Er, der unumschränkte Herrscher, hat in Scham sein Haupt gebeugt, als Nathan, der Prophet, ihm ins Gesicht sagte: „Du bist der Mann!“ und er hat im Staube vor Gott gelegen, bis daß er die Vergebung wieder errungen, und rufen konnte: „Wohl dem, dem die Uebertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedecket ist.“ „Nun halte ich dein Wort.“ - Der Mensch, welcher das sagen kann im Angesichte Gottes und im Bewußtseyn aller Triebe in uns, die wider Gott sind, das ist auch ein Mann, in dem jeder Entschluß sein Ja und Amen hat, und so liegt denn auch für uns auf die Frage: warum haben unsere Entschlüsse so häufig keine Erfolge? die Antwort längst in den Worten: Weil unsere Sünden uns nicht auf die rechte Weise demüthigen-näher betrachtet: Wir demüthigen uns nicht; wir demüthigen uns nicht vor Gott. wir demüthigen uns nicht im Glauben.

Ich sage erstens: unsere Entschlüsse haben so häufig keine Erfolge, weil wir uns über unsere Fehler nicht demüthigen. Tief eingepflanzt ist der menschlichen Natur der Trieb nach Lust und Freude. Wie mit Stricken fühlt man sich gebunden, sobald man sich nicht freuen darf, und vor Allen fühlt das die Jugend in jener Zeit, wo alle Sinne frisch sind, und das Leben mit seinen hundert Straßen offen. Dieser Trieb nun nach Freude und Lust ist, seinem innersten Grunde nach betrachtet, durchaus nicht verwerflich; unser Gott heißt der selige König aller Könige (1 Tim. 6, 15.), und dieser seligste aller Könige, der alle seine anderen Güter mit seinen Unterthanen theilt, sollte nicht auch die Seligkeit mit ihnen theilen wollen? sollte nicht selige Unterthanen haben wollen? Die Demüthigung aber um unserer Fehler und Sünden willen bringt Schmerz. Schmerz bringt es, Schmerz, wenn das ernste, heilige Auge des Gewissens sich weit in uns öffnet, und strafend, wie verzehrende Blitze, seine Strahlen auf unser Thun wirft, wenn dann die Selbstanklage erwacht, und mit ihr die Beschämung und die Reue und die Selbstverdammung! Nicht bloß einen einfachen, sondern einen vielfach zusammengesetzten Schmerz bringt die christliche Demüthigung über unsere Sünden. Und diese Furcht ist es, warum die Menschen überhaupt scheuen, ein ernstes, christliches Leben zu beginnen, sie ist aber auch der Grund, warum man in einem Zustande bleibt, wo die besten Entschlüsse keinen Erfolg haben. Fleischlich ist man nicht mehr, geistlich zu werden hat man den Muth nicht, da schwankt denn das Leben fortwährend zwischen Himmel und Erde, zwischen Ja und Nein hin, und es giebt gar keine bessere Beschreibung dieses Zustandes, als in jenen Worten des Apostels: „Wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist: ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich thue; denn ich thue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das thue ich.“ Das ist jenes Menschenherz, von dem es bei dem Dichter heißt: „Menschenherz ein Apfel ist, der auf ebner Haid vom Sturm getrieben ist:“ und wiederum: „Menschenherz dem Wasser gleicht, das im Kessel kochend auf- und niedersteigt.“ Wahrlich, der Ueberdruß, die Ohnmacht, der Ekel, den ein solches zerrissenes, getheiltes Leben mit sich bringt, ist viel schwerer, als der Schmerz der Demüthigung und Buße. Darum seid männlich, ihr zwischen Erd' und Himmel hin und her Geworfenen, fasset ein Herz und wählet den Tod, durch den der Weg zum Leben geht, denn es ist nun einmal nicht anders:

In uns ist zweierlei Natur,
Doch Ein Gesetz für beide;
Es geht durch Tod und Leiden nur
Der Weg zur wahren Freude!

So wie es im gegenwärtigen Stande der menschlichen Natur das Gesetz des wahren Lebens ist, daß es durch einen Tod gehen muß, so ist dies auch das Gesetz der sittlichen Freiheit, die ja eben das wahre Leben selber ist - auch sie geht durch den Tod des Selbstgerichtes. Da muß das natürliche Leben und die natürliche Lust sterben, nicht um ganz und gar unterzugehen, sondern nur um abzustreifen, was daran natürlich ist; denn auch in dieser natürlichen Lust und in dem natürlichen Leben, wie ihr es vor euch sehet, schlummert ein ächter Lebenskeim, wie dieß am deutlichsten ausgesprochen ist in den Worten des Herrn Luk. 17, 33.: „Wer da suchet seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren, und wer sie verlieren wird, dem wird es zum Leben helfen.“ Beachtet diesen Ausdruck, meine Brüder, zum Leben helfen werden wir unserer Seele, unserem natürlichen Leben, wenn wir es den Tod der Buße und Demüthigung sterben lassen, da wird es seine Hüllen abstreifen und in Wahrheit geistig auferstehen. Brüder, in den Stunden der Selbstanklage und Selbstverdammung, wo unsere natürliche Lust und Begierde in den Tod gegeben wird - da findet also eigentlich nicht der Tod unserer Seele statt, da helfen wir ihr nur zum wahren Leben. O warum scheuet ihr den Schmerz der Demüthigung so, da ihr doch nach des Heilandes Worten nur eurer Seele zum wahren Leben verhelfet!

Das haben wir zugerufen dem, welcher draußen steht, dem, welcher noch kein geistliches Leben führt, aber auch wir haben uns dieß zuzurufen, die wir uns sagen dürfen, daß ein Leben in Gott und mit Gott in uns begonnen hat. Denn wer ist unter uns, der nimmer zu klagen hätte über Entschlüsse, die ohne Erfolg bleiben, über Vorsätze ohne Thaten? Können wir es, ohne zu lügen, dem Paulus nachsagen: „Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig macht?“ Und doch muß dieser fröhliche Siegesmuth ein wesentliches Kennzeichen des Christenglaubens seyn! Aber meint etwa einer von euch, daß nur eine solche Feuerseele, wie Paulus, so hätte sagen können? Nun so vernehmt, wie in derselben fröhlichen Zuversicht ein Johannes ausruft: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat;“ denn - „der in uns ist, ist stärker, denn der in der Welt ist.“ Wie viele von uns - ich frage noch einmal - können ohne innere Lüge eine solche Sprache führen? Und was hat es denn für einen Grund, daß auch in unserm Leben Entschlüsse ohne Erfolge sind, und Vorsätze ohne Thaten? Weil es uns noch an der rechten Demüthigung fehlt. Zwar wir haben uns gedemüthigt, wir sind nicht mehr der Welt gleich, die ohne Schuldbewußtseyn lebt, wir tragen im Allgemeinen ein Bewußtseyn menschlicher Schuld und Sündhaftigkeit in uns; aber wir erkennen und strafen nicht unsere Sünde im Einzelnen, wir demüthigen daher uns nicht täglich und stündlich. Giebt es nicht auch unter den besser Gesinnten so viele, an denen man in manchen Beziehungen ihres Lebens irgend eine alte Gewohnheit und Untugend, gerade diejenige, die mit ihrem Wesen am innigsten verschmolzen ist, und gegen die sie daher am ernstesten kämpfen sollten, ganz ruhig fortwuchern sieht? Da bekennt man immer im Allgemeinen: „Ja, wir sind Sünder,“ auch wohl: „Ich bin ein Sünder;“ aber in welchen Stücken ich täglich zum Sünder werde, nach welchen Seiten hin mein täglich Treiben und Wandeln Finsterniß ist, das fragen wir nicht. O Geliebte, wo dieß der Fall ist, da kann freilich auch das neue Leben in Christo keine Quelle siegender Kraft für unsere Entschlüsse werden. Warum nicht? Weil es unserm innern Leben an der Wahrheit fehlt, wo aber die Wahrheit fehlt, da fehlt auch die Kraft. Ja, Lügner sind wir allesammt, so lange die Anklage und die Bestrafung unserer selbst nur unsere Sündhaftigkeit im Allgemeinen trifft, und nicht die einzelnen Zweige und Aeste, welche in unser Leben hineinragen. Da giebt es Christen, bei denen der Genuß des Sinnenkitzels gerade noch so sein Recht hat, wie in ihrem unbekehrten Leben; da giebt es Christen, bei denen die Ungeduld, der Jähzorn, die Trägheit noch gerade so ihr Recht hat, wie da sie Kinder der Welt waren, und - ihr wäret wahre Christen? ihr wäret Jünger dessen, der da von den Heuchlern gesagt hat: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“? O meine Freunde, auch eine solche Siegesgewißheit, wie die des Paulus und Johannes, schließt die tägliche Demüthigung nicht aus. Ihr wißt, daß Paulus sagt: „Ich betäube meinen Leib und zähme ihn, auf daß ich nicht den Anderen predige, und selbst verwerflich werde“; daß er bekennt: „nicht daß ich es ergriffen hätte, Eines sage ich: ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziele.“ - Ihr versteht doch, was der Herr meint, wenn er ausspricht (Luk. 9, 12.): „Wer mir folgen will, der verläugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich täglich, und folge mir nach“; wenn er von einem täglichen sich Verläugnen, von einem täglichen Kreuztragen spricht: muß es da nicht nothwendig zum Christenleben gehören, täglich zu Gericht zu sitzen über sich selbst, täglich sich zu demüthigen über Alles, was Gott nicht wohlgefällt?

Eine solche Demüthigung, wie wir sie hier beschreiben, ist aber näher eine Demüthigung vor Gott. Wir müssen uns, sage ich, demüthigen vor Gott, d. h. unsere Betrübniß über die Sünde muß die seyn, daß wir unsern Gott damit betrüben, und diese unsere Betrübniß vor Gott über die Sünde muß ein Bekenntniß vor Gott werden. Eine gewisse Betrübniß über die Sünden und Untugenden ist wohl Keinem fremd, aber es ist unglaublich, in wie vielen Fällen dieses einzig und allein eine Demüthigung und Betrübniß um der Menschen willen, um des Schadens und der Schmach willen ist, die wir uns vor Anderen bereiten! Ja, so sehr ruht unser Blick immer nur auf Menschen, daß man sagen kann, es sei schon ein starker Fortschritt, wenn einer dahin gekommen ist, daß er sich über jede seiner Untugenden betrübt, dieweil sie seinen Gott und Herrn betrübt. Schon von erster Kindheit an werden wir in diesen unsern Tagen darauf geleitet, immer nur die Menschen bei unsern Untugenden vor Augen zu haben. Da sagt man nicht mehr, wie ehemals zu dem Kinde: „Thue dieß nicht, das sieht der liebe Gott;“ da heißt es: „Sei artig, was werden die Leute sagen!“ Und so wachsen wir denn auf, den Blick immer nur auf die Menschen geheftet, und wenn wir ja über unsere Untugenden uns schämen, so ist es vor sterblichen Augen, und nicht vor dem Auge, das ins Verborgene sieht! O daß ihr den heiligen, hehren Sinn des Wortes Religion wieder verstehen lerntet! Was sagt es anders, als Beziehung auf Gott! Es ist die Stimmung des innern Menschen, vermöge deren er durch Alles hindurch, durch die Natur, durch die Kunst, durch seine Güter, durch seine Paläste, durch seine Freudenthränen und durch seine Schmerzensthränen hindurch auf Gott sieht. Soll aber auch in unserm Schmerz über die Sünde Religion seyn, wie? muß es dann nicht ein Schmerz darüber seyn, daß unsere Untugenden unsern Gott betrüben? Was sagt David, als er den schweren Frevel an seinen Mitmenschen geübt hat? „An dir allein, Herr, ruft er, habe ich gesündigt!“ Nicht daß er es sich verdecken wolle, schweren Frevel an seinem Mitbruder geübt zu haben; daß er, indem er diesen Frevel übte, gegen seines Gottes Gebot gefrevelt, das ist der Stachel, der am tiefsten in sein Gewissen dringt, das ist es, was seinen Schmerz so zerreißend macht. Und was sagt Paulus, als er angeklagt ward, seines Amtes nicht recht gewartet zu haben? „Es ist ein Geringes, daß ich von einem menschlichen Tage gerichtet werde; der Herr ist es, der mich richtet.“ - Diesen Charakter muß unsere Demüthigung über unsere Untugenden nothwendig haben, wenn die Kraft des Entschlusses aus ihr hervorgehen soll; ist sie nicht so beschaffen, so ist sie nicht geistiger Art. Du hast dich auf der Unkeuschheit, auf der Eitelkeit, auf dem Jähzorn ertappt, du schämst dich vor Anderen, ja du schämst dich vor dir selbst - o lieber Bruder, so lange du dich nicht schämst, gegen deinen Vater im Himmel gesündigt zu haben, ist dein Schmerz nicht geistiger Art. Du hast an deinem Mitbruder gefrevelt, du hast vielleicht sein Weib und Kind unglücklich gemacht, du hast ihn selbst ins Grab gestürzt, du schlägst an deine Brust: „Wehe mir, ich habe eine Familie unglücklich gemacht!“ - Mensch, der Schmerz ist groß und gerecht, aber auch er ist nicht ganz geistig, noch haftet daran das Mitleid des sinnlichen Menschen, „An dir allein habe ich gesündigt, ruft David zum Herrn, und übel gethan!“ (Ps. 51, 6.), und abermal: „Herr, sei mir gnädig, und heile meine Seele; denn an dir habe ich gesündigt!“ (Ps. 41, 5.). - Das erst ist der Schmerz, der unsere Demüthigung zu einer wahrhaft geistigen Buße macht. - Und die Betrübniß über unsere Untugenden vor Gott soll ein Bekenntniß vor Gott werden. Der bloße Gedanke, wenn er im Geräusche des Lebens auftaucht: da habe ich mich abermals verleiten lassen, meinen Herrn und Gott zu betrüben! er ist zu flüchtig, als daß er Kraft geben könnte; hintreten müssen wir vor das Auge, das ins Verborgene sieht, und wie der Schmerz über unsere Sünde durch unsere Betrübniß vor Gott Geistigkeit erhielt, so wird er durch unser Bekenntniß vor Gott Tiefe erhalten. Warum, warum, meine Freunde, hat unser Herr ein so großes Gewicht auf das Gebet vor dem Auge, das in das Verborgene sieht, im einsamen Kämmerlein gelegt? Darum, weil der Mensch würklich Gott nicht so nahe kommt, so lange er nur flüchtig im Verkehr des Lebens an ihn gedenkt. Erst in der Einsamkeit kehren wir bei uns selbst ein, erst in der Einsamkeit kehrt Gott bei uns ein. Das Auge, wenn es plötzlich aus der Finsterniß ans Licht kommt, bedarf einige Zeit, um daran sich zu gewöhnen; so bedarf das Herz des Menschen erst einige Zeit, ehe es sich auseinander legt, um die göttlichen Strahlen vollkommen in sich aufzunehmen. Erst dann, wenn du dort im Kämmerlein alle Falten deines Herzens vor ihm auseinander gelegt hast, erst dann dringt tiefer und immer tiefer die Gnadensonne mit ihren milden Strahlen in deine Seele. Es wurde deine Demüthigung über die Sünde geistig, indem du dich betrübtest vor dem Auge, das ins Verborgene sieht; sie wird tief, indem du deine Betrübniß laut werden läßt vor dem Auge, das ins Verborgene sieht. Brüder, wenn schon gegen Menschen, an denen wir uns versündigt haben, das Bekenntniß unserer Schuld süß ist, und so viel Kraft zum Bessermachen giebt, wie viel mehr wird dieß der Fall seyn bei dem Bekenntniß unserer Schuld vor Gott, unserm himmlischen Vater!

Es liegt, ja es liegt eine göttliche Kraft des Entschlusses und der Heiligung in solchem Bekenntniß; aber die Fülle der Kraft hat erst diejenige Demüthigung vor Gott, die auch zugleich im Glauben geschieht. Hiemit ist zunächst gemeint der Glaube an das göttliche Wort. Erst dieser Glaube macht unsere Demüthigung wahrhaft, erst er macht sie freudig. Er macht sie wahrhaft, denn, meine Freunde, wie all' unser Thun mit Dunkel umhüllt ist, so lange wir nicht den Leitstern des göttlichen Wortes vor uns haben; so auch der Schmerz über die Sünde, und so zeigt uns die Geschichte vielfach eine falsche Demüthigung, die vielmehr den Namen der Selbstquälerei verdient. So Gottes Wort nicht das rechte Licht in unsere Seele wirft, da härmet sich wohl ein Mensch um nichts, und wiederum bleibt das Herz ruhig, wo es erbeben sollte. So ist namentlich, für manche redliche Seele der größte Kummer, wenn sie vor Gott tritt, daß sie nicht immer freudig und heiter seyn kann, der Wechsel von Ebbe und Fluth der Gefühle. Man ersieht es aus den Tagebüchern frommer Menschen, wie für manche der schwerste Stachel ihres Lebens dieß war, daß das Gefühl der Freudigkeit so oft mit dem der Niedergeschlagenheit gewechselt hat, wie die Selbstanklagen hierüber gar kein Ende nehmen. Wie ganz anders würde es nun damit seyn, wenn auch bei unserer Demüthigung das Wort Gottes unser Leitstern wäre. Denn wo hätte wohl ein Paulus, oder ein Johannes, oder der Herr selbst selige Gefühle zur ersten Bedingung des Christenlebens gemacht? Den Glauben und die Liebe haben sie verlangt, und jene „Freudigkeit im Herrn,“ die allerdings der Apostel ebenfalls fordert, sie wird schon folgen, wenn nur der Glaube und die Liebe vorangegangen ist.

Dieser Glaube an das Wort Gottes macht in der That unsere Buße und Demüthigung zu einer freudigen, und giebt eben damit den Entschlüssen die Kraft; denn er macht uns der Vergebung der Sünde und des Beistandes des Heiligen Geistes gewiß. Die Demüthigung an und für sich kann uns keine Kraft geben, denn traurige Stimmung würkt immer auflösend auf das Band unserer Kräfte. Darum fürchten sich denn auch die Leute vor ihr, die da wissen, daß zum sittlichen Leben Kraft gehört. Aber Kraft, lieben Freunde, sollt ihr ja auch bekommen, wofern ihr euch nur nicht demüthigt, ohne zu glauben. - Vernehmet ihr nicht, was unser Psalmist sagt: „Nun aber halte ich dein Wort.“? Daß die Demüthigung an sich die Kraft raubt, o das weiß ja der Sänger gar wohl. Oder habt ihr nicht seine zahllosen Klagen vernommen, wie wenn er ruft: „Mein Herz bebet, meine Kraft hat mich verlassen, und das Licht meiner Augen ist nicht bei mir“? Aber was spricht er auf der andern Seite? „Erhalte mich durch dein Wort, daß ich lebe!“ Meine Theuern, der Kelch der Demüthigung ist bitter, aber das Wort Gottes darin macht ihn süß, der Kelch der Demüthigung macht ohnmächtig, aber das Wort Gottes darin macht daraus einen Krafttrank. Dieses Wort Gottes ist das Wort der Vergebung, ist die Zusage der Unterstützung jenes Geistes, in dessen Kraft auch der Ohnmächtige sagen kann: „Ich bin stark“, das Wort, das alle Demüthigung und Buße zu einer freudigen macht. Dieß Wort Gottes hat schon im alten Bunde getönt. Schon da hat David in seiner Kraft singen können: Wohl dem, dem die Uebertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedecket ist; wohl dem Menschen, dem Gott die Missethat nicht zurechnet;„ und wiederum: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan, der dir alle deine Sünden vergiebt, und heilet dir alle deine Gebrechen.“ Das ist das Wort Gottes, das nun, seitdem, wie Paulus sagt, unter uns aufgerichtet ist das Wort von der Versöhnung, fort und fort aus dem Heiligthume Gottes schallt zum Troste für Alle, die gedemüthigt und im Glauben sich herzunahen. Und zwar gilt es, nicht bloß ein für alle Mal an dieses Wort Gottes sich anzuschließen: die Demüthigung über jedweden einzelnen Fehltritt soll ansangen mit den Thränen der Reue, und soll sich schließen mit den Thränen dankbarer Gegenliebe. Nun und nimmer darf der vor Gott sich demüthigende Christ von seinem Antlitz hinweggehen, ohne der Vergebung auch dieses seines besondern Fehltritts sich bewußt worden zu seyn, ohne freudige Demuth. Nur das versöhnte Herz ist ein kräftiges Herz.

Wohlan denn, ihr Alle, in deren Auge die Thräne tritt, wenn ihr an die guten Vorsätze zurückdenkt, denen die That, und an die guten Entschließungen, denen der Erfolg gefehlt hat, lernet die Kraft kennen, die in einer christlichen Demüthigung vor Gott und im Glauben liegt. -

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