Tholuck, August - Apostelgeschichte 17, 22-28 "Wir sind göttlichen Geschlechts".

Schon mehrmals, meine Andächtigen, haben unsere Betrachtungen darauf aufmerksam gemacht, wie viele Aussprüche die heilige Schrift enthalte, welche dem ersten Anschein nach mit einander in Widerspruch zu stehen scheinen. So ist es der Fall auch mit dem, was sie von Gott, und mit dem, was sie von dem Menschen uns sagt. Tönt uns hier aus dem alten Bunde unter dem Donner des Sinai entgegen: „der Herr dein Gott ist ein verzehrendes Feuer und ein eifriger Gott,“ so ruft dort im alten Bunde die Stimme des Psalmisten: „Lobe den Herrn, meine Seele, der nicht mit uns handelt nach unsern Sünden, und vergilt uns nicht nach unserer Missethat; denn so fern der Morgen ist vom Abend, läßt er unsere Uebertretung von uns seyn.“ Ruft nicht minder die Stimme des neuen Testaments das einemal: „unser Gott ist ein verzehrendes Feuer,“ so tönt auch hier andererseits vom Himmel hernieder: „Gott ist die Liebe!“ Steht auf dem einen Blatte des neuen Testaments von den Menschen geschrieben, daß sie „ihrer Natur nach allzumal Kinder des göttlichen Zornes sind,“ so erschallt wiederum von einem ander n der Ruf desselbigen Apostels: „wir sind göttlichen Geschlechts.“ Der oberflächliche Mensch nun nimmt ja freilich an solchen entgegengesetzten Aussprüche„ nicht geringen Anstoß, aber der tiefere weiß längst, daß die Wahrheit etwas Reiches und Vielseitiges ist; daher sie denn auch in manchen, wenn sie einzeln betrachtet werden, sich entgegengesetzten Aussprüchen sich ausdrücken muß, mit welchen verschiedenartigen Aussprüchen es sich dann doch nur so verhält, wie mit dem Sonnenstrahl, der sich an den verschiedenen Seiten desselben Gegenstandes in verschiedenen Farben bricht. Wir wollen dieses zu erkennen suchen, indem wir in der gegenwärtigen und einer zukünftigen Stunde der Andacht die zwei Worte der Schrift erwägen wollen: „Wir sind göttlichen Geschlechtes“ und „wir sind Kinder des göttlichen Zornes von Natur.“

„Wir sind göttlichen Geschlechts,“ so rufe ich euch heut mit dem Apostel zu, meine Brüder, und unsere Seele richtet sich auf. Haben sonst die ersten Vorträge am Anfange eines neuen halben Jahres demüthigen Muth in euch zu entzünden gesucht, so wird es ja wohl auch dieses Wort.

Lasset es uns im Zusammenhange aus dem 17ten Cap. der Apostelgeschichte des Lukas, wo es in dem Abschnitte V. 22 - 28. vorkommt, vernehmen. „Paulus aber stand mitten auf dem Richtplatz, und sprach: ihr Männer von Athen, ich sehe euch, daß ihr in allen Stücken allzu abergläubig (richtiger: sehr gottesfürchtig) seid. Ich bin herdurch gegangen, und habe gesehen eure Gottesdienste, und fand einen Altar, darauf war geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch denselbigen, dem ihr unwissend Gottesdienst thut. Gott, der die Welt gemacht hat, und Alles, was darinnen ist, sintemal er ein Herr ist Himmels und der Erden, wohnet er nicht in Tempeln mit Händen gemacht; sein wird auch nicht von Menschenhänden gepfleget, als der jemands bedürfte, so er selber jedermann Leben und Odem allenthalben giebt. Und hat gemacht, daß von einem Blute aller Menschen Geschlechte auf dem ganzen Erdboden wohnen, und hat Ziel gesetzet, zuvor versehen, wie lange und weit sie wohnen sollen: Daß sie den Herrn suchen sollten, ob sie doch ihn fühlen und finden möchten; und zwar er ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns: Denn in ihm leben, weben und sind wir; als auch etliche Poeten bei euch gesaget haben: Wir sind seines Geschlechtes.“

In wenigen andern Erzählungen der Schrift steht Paulus so groß, so umgewandelt durch den Geist vor uns, wie in dieser. Der Israelit, der einst sogar die Berührung mit dem heidnischen Götzendiener floh, predigte ihnen jetzt, daß in allem diesen Götzendienste sie dennoch Gott suchten, und nur den Namen für den Unbekannten, den sie suchten, will er ihnen geben. Der Israelit, der einst kein anderes zum Dienste Gottes auserlesenes Volk kannte, als Israel, verkündigt, wie alle Menschen, aus einem Blute geschaffen, Brüder sind, und wie sie, weithin über die Erde wohnend, doch nur Ein Ziel haben: Gott zu suchen und zu finden; der Israelit, der keinen andern Coder der Wahrheit kannte, als die Schriften des Alten Bundes, weiset auch in einem Dichter der Heidenwelt ein göttliches Orakel nach.

„Wir sind göttlichen Geschlechtes,“ so ruft er, und auch wir sprechen es ihm nach und zeigen zuerst die Wahrheit und dann die Würkung dieses Wortes.

„Wir sind göttlichen Geschlechts,“ so rufen die Urkunden unsres Glaubens; „wir sind göttlichen Geschlechts,“ so tönt es aus jeder Menschenbrust. Ich sage, so verkünden die Urkunden unsres Glaubens. Wohl ist hier auf jeglichem Blatte von unserm Falle die Rede, von unserm tiefen Falle; aber wer tief fiel, muß hoch gestanden haben. Herrlich ist das Gestirn der Sonne in seinem Glanz; überwältigend ist der Anblick der Heere des Himmels, wenn sie aufziehen ohne Ende in der sternenhellen Nacht, und dennoch, dennoch ist der hülflose Säugling, der in der Wiege sie anlächelt, größer und herrlicher, als sie, denn - er ist göttlichen Geschlechts. Sie alle sind geworden, als des Ewigen Wort in das Nichts hineinrief: „es werde;“ der Mensch aber ist geworden, indem Gott ihm seinen eigenen Odem, den Gottesodem, einhauchte. Wohl ist das nur bildlich gesagt, was wir dort lesen von einem ausgerufenen Allmachtswort und von dem ausgehenden Gottesodem; aber auch aus dieser Hülle erkennen wir heraus, wie die Welt wurde aus dem, was nicht war, wie aber des Menschen Geist wurde aus dem, der ewig war. So die Urkunde, die vom Anfange unsres Geschlechtes spricht, und gehen wir nunmehr über zu der Urkunde des Neuen Bundes, da steht geschrieben von dem Worte, das ewig bei Gott war, und „welches das Licht ist aller Menschen, die in diese Welt kommen,“ von einem Lichte im Inwendigen des Menschen, das ein Ausfluß ist des ewigen Gotteswortes, und das darum auch zu zeugen vermag von dem, von welchem es ausgegangen ist, von dem ewigen Gotte. Da steht geschrieben, daß Christen Kinder Gottes werden, „theilhaftig der göttlichen Natur,“ wie es 2 Petr. 1, 4. heißt. Und sollte Gott seiner Natur theilhaftig machen Andere, als die seines Geschlechts sind?

Doch gesetzt auch, es hätte das Buch der Bücher geschwiegen von dieser hohen Kunde, steht sie nicht verzeichnet in den Büchern der menschlichen Herzen weit über die Erde hin? Ist es nicht das eigene Gemüth des Dichters, den Paulus hier citirt, gewesen, welches den Ausspruch ihm eingegeben hat? Ist es nicht das Zeugniß des eigenen Innern gewesen, aus dem heraus ein anderer großer Dichter des AIterthums zeugt: „Es ist Ein Stamm der Götter und Männer. Beide athmen wir, Einer Mutter entsproßt“? O Freunde, wie tief muß dieses Zeugniß in der menschlichen Brust niedergelegt seyn, welch' eine Stärke muß es haben, wenn es inmitten des Elends und der Sünde der Welt nicht untergegangen ist! Ihr meint vielleicht, daß dieses Zeugniß dem Menschen so natürlich sei, daß gar nicht viel dazu gehöre, es abzulegen. Aber ist dieses Bewußtseyn denn würklich unter uns so gemein? Ach, daß sie nur fähig wären, diesem Gedanken Raum zu geben, die Tausende, die im Schweiß ihres Angesichtes ihr tägliches Brot essen, die kaum von ihrer Menschenwürde etwas wissen, geschweige von ihrer Würde als Kinder Gottes! Ach, daß sie fähig wären, diesem Gedanken Raum zu geben, die Tausende, denen „der Bauch ihr Gott ist“ und die Häuser der Lust ihr Tempel. Ach, wer möchte nicht wünschen, daß zürnende Propheten, daß jene Gottesmänner, die wie strafende Gewissen unter den Menschen einhergingen, unter sie träten, und in das der Gottes- und der Menschenwürde vergessene Geschlecht hineinriefen: „Gefallene Sterbliche, ihr seid göttlichen Geschlechts!“ - Dieses Bewußtseyn, es mag wohl in manchen Stunden im Menschen recht lebendig werden, in solchen Stunden zum Beispiel, wo irgend eine hohe Wahrheit vor dem denkenden Geiste ihr Geheimniß enthüllt hat, wo Gedanken der Ewigkeit durch unsern Geist gegangen sind, oder - wo wir beten. Ja, in solchen Stunden mag man fröhlich aufathmen und ausrufen: „der Mensch ist göttlichen Geschlechts“! Aber wenn man dann wieder auf die drückend saure Last und Arbeit sieht, unter der eine große Zahl der Menschen seufzt; wenn man auf alle Gräuel der Sünde, oder auf all' das Elend und den Jammer sieht, den der Mensch dem Menschen bereitet - wenn man etwa hintritt auf das Schlachtfeld, wo, von Menschenhand geschlagen, die Verwundeten im Angstgeschrei ihr Leben aushauchen, oder in Lazarethe und Hospitäler, wo, von Gottes Hand geschlagen, die Gottessöhne röcheln - die langsame Beute einer Schwindsucht oder Auszehrung; wenn man gar hintritt in die Kerker, wo der Vater- und Muttermörder seine Ketten schüttelt: wem bleibt der Muth, auch da noch aus freudiger Brust zu rufen: „der Mensch ist göttlichen Geschlechts!“?

Und trotz alles Jammers der Heidenwelt, trotz jener tiefen Erniedrigung der Menschheit, in der die Heiden vor den Thieren niedersielen, vor den Schlangen und vor dem Gewürm der Erde, und sie anbeteten, trotz alles dessen ist der Ruf in der Menschheit nicht verklungen: der Mensch ist göttlichen Geschlechts. Er ist nicht verklungen, denn „in ihm leben, weben und sind wir,“ - so ruft der Apostel, und deutet hiemit auf jene geheimnißvolle Einheit des Menschengeistes mit dem göttlichen hin, die wir Alle in heiligen Stunden unsers Lebens erfahren haben, die leichter empfunden, als in Menschenrede ausgesprochen werden mag, die einem Kirchenvater das große inhaltsschwere Wort eingegeben hat: „Gott ist uns näher, als wir uns selbst sind.“ Es ist jenes Leben des Menschengeistes im ewigen Geiste, das vor Allem dem Menschen in jener geheimnißvollen Macht offenbar wird, die wir Gewissen nennen. Woher stammt sie, jene heilige Macht, die den Menschen in sich selber verdammt, der sich rechtfertigen möchte, und ihm zuruft: du lügst -? woher stammt sie, jene heilige Macht, aus der in den Stunden der Hingabe an Gott ein Frieden quellen kann, indem wir Gott uns näher fühlen als aller Kreatur? Ja, sie ist uns Zeugniß, daß unser Geist lebet und webet in dem ewigen Geiste, und daher die unvertilgbare Stimme der Menschenbrust: „Wir sind göttlichen Geschlechts.“

Also es ist Wahrheit, daß der Mensch göttlichen Geschlechts ist, und die Würkung dieser Wahrheit auf uns ist eine heilige Demuth und ein heiliger Muth. Befremden mag es euch, wenn ich hier die Demuth voranstelle. O ich kann es wohl begreifen, wie namentlich bei euch Jüngeren, wenn das Wort vor euch erschallt: Brüder, wir sind göttlichen Geschlechts! - wie da die stolze Jugendkraft eure Brust höher hebt, wie Siegeslust und Siegesmuth eure Adern schwellt, und euer Geist nur vom Gelingen träumt. Das ist der Muth des natürlichen Menschen, der weder sich selbst, noch seine Aufgabe, noch die Welt um ihn her im Lichte des göttlichen Gesetzes angesehen hat. Ich blicke auf die Welt. Sie sind göttlichen Geschlechtes, die auf Erden wohnen, und so sollte denn nur Eine Gottesfamilie auf Erden seyn, über welcher der Lobgesang der Engel ertönen könnte: „Frieden auf Erden!“ - Aber sagt mir, warum ist die Erde, dieser herrliche Tempel Gottes, zu einer Räuber- und Mördergrube geworden? Warum wohnet statt des Friedens und der Gerechtigkeit die Zwietracht und die Bosheit auf ihr? So frage ich euch, wenn ich die Welt im Lichte des göttlichen Gesetzes betrachte. Und ich sehe meine Aufgabe in ihr an: dem Nächsten in selbstverläugnender Liebe zu Diensten zu seyn in Allem, was ich habe. Aber warum finde ich, daß ich mir doch immer lieber dienen lasse, als diene, daß ich immer lieber mir selbst lebe, als Andern? Warum sehe ich zum Beispiel noch Millionen in so harter Arbeit sich kaum das tägliche Brot erkämpfen, daß sie fast dabei ihrer Menschenwürde vergessen müssen, während, wo Jeder in selbstverläugnender Liebe feinen Ueberfluß opferte, Alle die Genüge hätten? - Ich sehe mich selbst an: der Geist sollte herrschen, und das Fleisch sollte dienen. Warum aber dient, was herrschen sollte, und warum herrscht, was dienen sollte? O fürwahr, bin ich ein Engel, so bin ich ein gefallner; bin ich ein Kind Gottes, so bin ich ein verirrtes; trage ich den Stempel des göttlichen Ebenbildes an meiner Stirn, so sind seine Züge verwischt. Ja, Beschämung, Wehmuth ist das natürliche Gefühl, das den Menschen ergreifen muß, der sich in den Gedanken versenkt: „der Mensch ist göttlichen Geschlechts;“ denn wir sind Alle nicht, was wir seyn sollen. Ja vielmehr behält hier die andere Seite des göttlichen Wortes ihr Recht, daß wir dem natürlichen Menschen nach allzumal Kinder des göttlichen Zornes sind, und unter dem Fluche stehen, den das Gesetz Gottes über Jeden ausspricht, der es übertritt. Warum aber entsteht uns das Gefühl der Beschämung nicht bei jenem Gedanken? Darum, weil wir nicht erkennen, wie schmählich das Bild Gottes in uns entstellt ist. Und warum erkennen wir dieses nicht? Weil wir vom Bilde Gottes, wie es im Menschen seyn soll, keine rechte Vorstellung haben, weil wir unterlassen uns zu bespiegeln in dem Bilde des Einen, in dem alle Züge des göttlichen Ebenbildes vereint sind ohne alle Flecken. Da werden sie vor uns vorübergeführt, jene Heroen des Alterthums, in denen allen doch nur, wenn es hoch kommt, vereinzelte Züge des Gottesbildes sich finden neben vielen, vielen, die entstellt sind. An diesen, oder an diesem und jenem Manne, den eben der Zeitgeist hochpreist, haben wir uns gemessen, neben diesen haben wir uns groß gedäucht. O Christen, warum wählt ihr den nicht, dessen Namen ihr traget, warum wählet ihr nicht den Heiligen Gottes, Christum, zu eurem Spiegel? Noth einmal sei es in aller Stärke ausgesprochen: wir erlangen Alle nicht die rechte Erkenntniß unserer selbst, und der Gedanke an unsere göttliche Abstammung wird in uns Allen nicht die heilsame Beschämung würfen, so lange als es an einer fortgesetzten Bespiegelung „in des Herrn Klarheit“ fehlt. Erst ihm gegenüber erwacht in uns bei dem Gedanken an unsere göttliche Abkunft das Gefühl des Fürstensohnes, der sein Erstgeburtsrecht, wie Esau, um das Linsengericht verkauft hat, und nun Träber der Säue essen muß, wie der verlorne Sohn. Erst ihm gegenüber kommt der Mensch recht zum Bewußtseyn beides, seiner Hoheit und seiner Niedrigkeit. O Christen, lernet Alle der Menschheit Urbild anschauen in Christo! Lasset von keinem Menschen uns hinfort sagen, daß er groß sei, ohne ihn gemessen zu haben an der Größe Jesu Christi; lasset von keinem Menschen uns mehr sagen, daß er gut sei, ohne in der Klarheit Jesu Christ gelernt zu haben, was zum wahren Gutseyn gehört.

So weckt der Gedanke „wir sind göttlichen Geschlecht“ zunächst das Gefühl der Beschämung und der Demuth; aber er giebt auch Muth. Er giebt Muth, sobald nur der Glaube an eine vorhandene Erlösung dazu kommt, und so lange sie noch nicht da ist, giebt er den Muth, sie zu hoffen.

Der Gedanke an unsere göttliche Abstammung weckt den Muth, an eine zukünftige Erlösung zu glauben, wenn sie noch nicht da ist. Das Zeugniß, daß wir göttlichen Geschlechts sind, was ist es anders, als das Zeugniß, daß Gott unser Vater und wir seine Kinder sind! Erkennt nun der Mensch, daß die Züge des göttlichen Ebenbildes in ihm entstellt sind; erkennt er, daß er ein verirrtes Kind ist: wie sollte der Vater sich seines Kindes nicht erbarmen, wie sollte er es nicht zurückzuführen trachten! Und diese Zurückführung ist die Erlösung. So gehen denn auch ahnende Stimmen durch das Alterthum hin von einer goldenen Zeit in der Zukunft, wo Gott der Hirte der Menschen seyn werde, wo der mörderische Zahn und die giftige Pflanze von der Oberfläche der Erde, und die Lust zur Ungerechtigkeit aus der Tiefe des Menschenherzens werde ausgetilgt werden. Sind solche Ahnungsstimmen in der Heidenwelt nur vereinzelt, nur flüchtige Klänge, so haben wir den Grund darin zu suchen, daß hier die Entstellung des göttlichen Ebenbildes selbst nicht tief gefühlt wurde; der stolze Mensch war sich selbst genug im Bewußtseyn seiner Stärke, und war sein eigener Erlöser. Israel ist der heilige Boden der Weissagung; denn in Israel hat des Gesetzes Ernst den Menschen gedemüthigt, und darum auch nach Erlösung sehnsüchtig gemacht. In diesem Volke mußte die Ahnung sich steigern zur freudigen Gewißheit. Darum sehet ihr in Israel die Propheten stehen ohne Zahl, die von dem Könige der Gerechtigkeit zeugen, der viele gerecht machen sollte. Die Geschichte der Menschheit aber, sie wiederholt sich in jedwedem Einzelnen. Ist das Bewußtseyn erwacht von dem, was wir seyn sollen; strebt unser Geist mit kühnem Flügelschwunge zur Wahrheit und zum Leben im Geiste hin; werden wir dessen inne, daß dieser unser Geist die Züge des ewigen Geistes an sich trägt, obwohl verwischt; fangen wir an, die Geburtsschmerzen eines neuen Lebens zu empfinden: so verkündet sich auch mit unzweifelhafter Gewißheit im Innern die prophetische Stimme, die da sagt: auch für dich, du gebundener Geist, giebt es eine göttliche Erlösung, und wer da suchet, der - wirb auch finden!

Haben wir aber den gefunden, der uns „die Macht giebt, rechte Kinder Gottes zu werden,“ so sprechen wir auch muthig aus: „Wir sind göttlichen Geschlechts.“ Wenn wir vorher an das Ebenbild Gottes in uns dachten, so mußten wir das Haupt verhüllen; denn das Bild Gottes in uns war entstellt. Was wir aber der Anlage nach hatten von Geburt, das sollen wir der Würklichkeit nach erhalten durch die neue Geburt in Christo, und darum macht der Gedanke an die göttliche Abstammung muthig, sobald nur der Glaube an die Erlösung hinzukommt. Die Seele glaubt und weiß, daß das verirrte Kind vom Vater zu Gnaden wieder angenommen worden; sie wird inne und erfährt, daß die verwischten Züge des göttlichen Ebenbildes sich wieder herstellen; ja im Glauben erfaßt sie schon die dereinstige Vollendung derselben, sieht im Glauben schon hienieden in das Bild des Sohnes Gottes sich verklärt, hat im Glauben schon jetzt die Welt überwunden, trägt im Glauben schon hienieden die Krone der vollendeten Kinder Gottes. Wir sind Kinder Gottes, und dennoch schreibt Johannes, daß wir durch den Glauben an den Sohn erst die Macht empfangen, Kinder Gottes zu werden. So hat denn auch das Wort: „wir sind göttlichen Geschlechts,“ nur die volle Wahrheit für uns, insofern Christus uns die Macht giebt, das in der Würklichkeit zu werden, was wir jetzt unserer Anlage nach sind. Dieser Macht theilhaftig geworden, heben wir nun auch unser Haupt kühn und freudig zum Himmel empor. Wir wissen jetzt, daß dem, der da glaubt, nichts unmöglich ist von dem, was er soll, sind fröhlich in der Hoffnung und stark in jener Liebe, die auch der Tod nicht überwindet. Sehet, so ertheilt erst der christliche Glaube dem Menschen das rechte Bewußtseyn der Menschenwürde. Das ist nämlich die Würde, daß Gott uns nach seinem Bilde geschaffen hat, und da es entstellet worden war, daß er es wieder hergestellt hat in seinem Sohne. Christen sind darum Menschen, die sich nicht wegwerfen, die bei allem Bewußtseyn ihres Sündenelends sich nicht wegwerfen; denn - Gott hat sie nicht weggeworfen. O welchen Adel dieser Glaube auch in die Seele des niedrigsten Handarbeiters bringen kann, in dem Christus wohnt! O welches Hoheitsgefühl durch eine ganze Christenversammlung gehen muß, die im Glauben singen kann:

Es glänzet der Christen inwendiges Leben,
Obgleich sie von außen die Sonne verbrannt.
Was ihnen der König des Himmels gegeben,
Ist Keinem als ihnen nur selber bekannt.
Was Niemand verspüret, was Niemand berühret,
Hat ihre erleuchteten Sinne gezieret,
Und sie zu der göttlichen Würde geführet.

Sie wandeln auf Erden und leben im Himmel,
Sie bleiben ohnmächtig, und schützen die Welt.
Sie schmecken den Frieden in allem Getümmel,
Sie kriegen, die Aermsten, was ihnen gefällt,
Sie stehen in Leiden, und bleiben im Frieden;
Sie scheinen ertödtet den äußeren Sinnen,
Und führen das Leben des Glaubens von innen.

Wohlan denn, ihr, die ihr als Erlösete euch eurer göttlichen Abstammung bewußt seid, seid muthig in diesem Bewußtseyn, und werfet euch selbst nicht weg! Mitten in euern Geschäften, mitten in euern Vergnügungen stehe es vor euren Seelen: „Wir sind göttlichen Geschlechts,“ und dürfen unsre Würde nicht beflecken. -

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