Tholuck, August - Luther als Vorbild unseres Glaubens

An dem heutigen Tage vor dreihundertfünfzig Jahren ist ein großer Mann geboren worden, groß nicht bloß vor dem menschlichen Auge, sondern vor dem Auge des allmächtigen Gottes. Der heutige Tag ist der Geburtstag Martin Luthers! Ist es überhaupt geziemend, sein Andenken in evangelischen Gemeinden zu feiern, so ist es doppelt geziemend, es in dieser Versammlung zu thun, wo so viele zusammengekommen sind, welche einst seine Lehre predigen sollen in der Kirche, die auf den Fels seines Glaubens gegründet ist. So lasset uns demnach an dem heutigen Tage zum Gegenstande unserer Betrachtung machen

Luther als Vorbild unsers Glaubens.

Aber wie? als Vorbild den aufstellen, der in einem Briefe an einen Freund von sich selbst sagt, „ich armer Sünder, der ich mich für den allerelendesten unter allen Menschen halte“? O ich kenne sie diese Sprache! Ist es nicht dieselbe, welche auch ein Paulus redet: „Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, als welcher ich nicht werth bin, Apostel zu heißen“? - „Denn das ist gewißlich wahr, und ein theures, werthes Wort, daß Jesus Christus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin.“? Aber meine Freunde! Eben da, wo der Mensch in unverstellter Demuth weiß und erkennt, was ihm fehlt, da kann er auch mit der lautersten Kindlichkeit und Wahrheit von dem zeugen, was ihm Gott gegeben hat, und so hört ihr denselben Paulus rühmen: „Nun lebe aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir,“ und „ich habe mehr gearbeitet, als sie alle“, und wiederum: „werdet meine Nachfolger, gleich wie ich der Nachfolger Christi bin.“ Darum würde auch Luther, wenn er jetzt wieder käme in seine Gemeinde, er würde wahrlich bei aller seiner Demuth uns zurufen die Worte des Apostel Paulus an die Gemeinde zu Corinth, die wir unsrer heutigen Betrachtung zu Grunde legen wollen 1 Cor. 4, 15.
Ich habe euch gezeuget in Christo Jesu durch das Evangelium. Darum ermahne ich euch, seid meine Nachfolger.

Nach diesen Worten des Apostel Paulus lasset uns denn an dem heutigen Tage Luthern als ein Vorbild unsers Glaubens betrachten, dem wir nachfolgen sollen, und zwar zuvörderst, warum wir ihm nachfolgen sollen, und sodann, wie wir ihm nachfolgen sollen.

„Ich ermahne euch, sagt der Apostel, seid meine Nachfolger, denn ich habe euch gezeuget in Christo Jesu durch das Evangelium.“ Zeugen heißt Leben geben. Kann der Mensch dem Menschen mehr geben, als das Leben? Schon die Mittheilung des leiblichen Lebens ist der Wohlthaten größeste, und alles Anrecht der Väter auf ihre Kinder ist hierauf gegründet. Doch was ist die Wohlthat des leiblichen Lebens gegen die des geistigen Lebens aus Gott? Diese Wohlthat war es, die der Apostel den Corinthern mitgetheilt hatte. Er hatte gearbeitet bei Nacht, und bei Tage ihnen gepredigt, hatte Noth und Tod nicht gescheut, bis daß Christus in ihren Seelen geboren worden war, und er von dieser Gemeinde bezeugen konnte: „Ihr seid offenbar ein Brief Jesu Christi, durch unser Predigtamt zubereitet, und durch uns geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens, und so tragen wir euch herum als unsern Empfehlungsbrief, der erkannt und gelesen wird von allen Menschen.“ In dem Sinne nun, in welchem der Apostel zu seiner Gemeinde sagt: „Ich habe euch gezeugt in Christo Jesu“ ist freilich keiner von uns zum Glauben geboren durch unsern Luther. Ach! wir sind nicht so glücklich gewesen, das Kraftwort des Glaubens aus diesem teuern Munde zu vernehmen, er hat keinem von uns die Hand auf's Haupt legen können, keiner von uns hat an seinem göttlichen Heldenblick das Herz sich stärken können. Daß es uns aber überhaupt möglich geworden ist, neugeboren zu werden in Christo Jesu, das verdanken wir jenem Helden Gottes. Jenes Wort der heiligen Schrift, das Licht, das auch die Einfältigen auf der geraden Straße führt, ist es nicht durch ihn in unsre Hände gelegt worden? Hat er nicht, wie der Löwe um seine Jungen, gestritten für seine Gemeinde bis aufs Blut: „daß sie das Wort sollten laufen lassen unter das edle Volk“, wie er es nennt? Die Sprache der Treue, die Innigkeit und Kraft, in welcher das Gotteswort zu uns geredet seit den zartesten Jahren unserer Kindheit, ist es nicht die Sprache seines treuen Herzens gewesen? Und jenes Lebenswort, daß kein Fleisch durch des Gesetzes Werke gerecht werden kann, sondern durch den Glauben an das Lamm, das der Welt Sünde trägt - ist Er es nicht, der in jedem Capitel der heiligen Schrift es uns hat erkennen lehren, als den Stern und Kern des ganzen Evangeliums? Gemeinde des Herrn, wie viel schlaflose Nächte, wie viel Kämpfe, wie viel Thränen und Gebet hat es unserm Luther gekostet, daß du dich jetzt erfreuen magst des freien Besitzes des Wortes Gottes, der lautern Predigt und des vollständigen Sakraments? Ihr Verächter des heiligen Gottesworts, ihr Verächter des heiligen Sakraments, ihr Verächter des Wortes von der Rechtfertigung allein durch Jesum Christum - wie werdet ihr einst Rede stehen, nicht bloß vor dem Herrn der Herrlichkeit, sondern auch vor seinem theuern Knechte Luther, der so viel Schweiß und Arbeit und Thränen es sich kosten ließ, das Gut euch zu erwerben, das ihr verachtet! Darum: so mag auch Er uns zurufen mit Paulus: „Liebe Kinder, darum ermahne ich euch, werdet meine Nachfolger, denn ich habe euch gezeuget in Christo Jesu durch das Evangelium.“ Jeder von uns, dem die Gnade wiederfahren ist, daß er sagen kann: „Ich weiß, an wen ich glaube“, denkt mit Thränen der Rührung an den, welchen er seinen geistigen Vater in Christo nennen kann, der ihm zuerst mit persönlicher Treue und Sorge nachgegangen, und sagt mit dem frommen Gellert:

Da werd' ich dem den Dank bezahlen,
Der Gottes Weg mich gehen hieß,
Und ihn zu Millionenmalen
Noch segnen, daß er mir ihn wies.
Da find' ich in des Höchsten Hand
Den Freund, den ich auf Erden fand.

Aber meine Freunde, auch ihm wird dieser Dank geweint werden, der uns zuerst jenes Wort des Lebens und jene Lehre des Lebens erstritten, die das Werkzeug wurde in der Hand des treuen Lehrers, der uns zunächst den Weg gewiesen hat; auch er kann in gewissem Sinne von uns Gliedern der evangelischen Kirche sagen: „Ich habe euch gezeuget in Christo Jesu durch das Evangelium, darum ermahne ich euch: seid meine Nachfolger.“

Evangelische Gemeinde, du hast vernommen, warum du ihm nachfolgen sollst in seinen Fußtapfen des Glaubens; lasset uns zur Beantwortung der noch wichtigern Frage eilen, wie wir ihm nachfolgen sollen in seinen Fußtapfen. Auf zwiefache Weise aber geschieht diese Nachfolge. Brüder! lasset den Glauben uns ergreifen, wie er - lasset den Glauben uns halten, wie er!

Lasset den Glauben uns ergreifen, wie er! Den Glauben, als wäre damals kein Glaube in der Welt vorhanden gewesen! Ach, freilich Glaube genug - Glaube an Menschenwort und Menschensatzung, Glaube an menschliches Verdienst und menschliche Rechtfertigung. Wo aber war der Glaube an göttliches Wort und göttliche Predigt, wo der Glaube an eine von Gott gemachte Rechtfertigung und Gerechtigkeit? Der Glaube, evangelische Gemeinde, den du ergreifen sollst, wie er, das ist der Glaube an das Wort Gottes, und der Glaube an die Predigt, daß durch des Gesetzes Werk kein Mensch gerechtfertigt werden mag vor Gott. Was er für einen Weg gegangen ist, der theure Gottesmann, ehe diesen Glauben zu ergreifen ihm gelang, und wie heiße Kämpfe er darob gekämpft, dies wisset ihr. Ihr wißt, wie Luther, von seinen Eltern zu einem Rechtsgelehrten bestimmt, auf dem breiten Wege des Lebens dahin ging, wo die hellen Haufen ziehen, wie aber die Straße nach Erfurt sein Damaskus wurde, wo zu ihm gesprochen ist im Ungewitter, als an seiner Seite der Freund vom tödtlichen Strahl getroffen zu Boden sank. Dem Paulus rief die himmlische Stimme zu: „Saul! Saul! warum verfolgest du mich?“ Ihm rief sie zu: „Martin! Martin! warum suchest du mich nicht?“ Derselbe Blitzstrahl, der den Freund tödtete, hat ihn lebendig gemacht. Damals hat er angefangen, Gott zu suchen. Es war die Zeit, wo, wer Gott suchen und ihm dienen wollte, die klösterliche Stille erwählen mußte. Fahrt dahin, ihr Freuden der Welt! so rief es nun aus seiner Seele, ich such' mir andere Freuden; wo die Töne der Welt verklingen, da wird das Saitenspiel Gottes mir erschallen! So zieht er dahin in die klösterliche Zelle, er sucht das Wohlgefallen Gottes; in täglicher schwerer Selbstverleugnung sucht er es auf; mit jeder neu errungenen Stufe sieht er das Bild vollkommner Heiligkeit sich höher erheben, von allen Seiten ruft es ihm zu: Sei heilig, Herz, sei heilig! und siehe, der Stachel der Lust und der Begierde will nicht weichen. Von schwerer Krankheit ergriffen sinkt er danieder, versinkt in tiefe Seelenunruhe, so daß selbst seine geliebte Musik ihm den Trost versagt; da vernimmt er eine herrlichere Musik: ein alter Klosterbruder ruft ihm aus demselben apostolischen Glaubensbekenntnisse, was ihr alle Sonntage von dem Altare des Herrn vernehmt, die Worte zu: „Ich glaube an eine Vergebung der Sünden!“ Unzähligemal hatte er die Worte gehört, wie ihr sie auch unzähligemal gehört habt, aber, Brüder, das Wort von der Vergebung der Sünde ist ein Wort, das erst verstanden wird, wo die Noth der Seele und der Durst nach göttlicher Gnade das Verständniß aufgethan hat. Mit vielen solchen Worten der heiligen Schrift geht es dem Menschen wie den Taubstummen, sie lernen die Worte reden, aber sie vernehmen derer keines, was, sie selber reden; wenn ein Taubstummer das Gehör bekäme, würde er alles neu lernen müssen, was er geredet hat. Die Noth der Seele, der Durst nach Gnade muß für alles göttliche Wort erst das Verständniß eröffnen. Ihr wißt, wie Luther ferner im Kampfe seiner Seele von dem treuen Staupitz aufgerichtet wurde mit dem Worte vom Kreuz, und wie er noch in später Lebenszeit an diesen seinen treuen Meister schreibt: „Ich erinnere mich, daß unter Deinen Gesprächen, durch die mich Christus oft wunderbar tröstete, auch einst die Rede auf das Wort Buße kam, und ergriffen von Mitleid mit so vielen unruhigen Gewissen vernahm ich, wie ein Wort vom Himmel, von Dir das Wort, daß die wahre Buße von der Liebe zu Gott anfangen müsse. Ich verglich es mit der heiligen Schrift, es stimmte überall überein, und wie es früher für mich kein herberes Wort, als das Wort Buße gab, so wurde dies mir nun das erfreulichste!“ Nun wohlan denn, meine Brüder, so lasset uns ihm nachahmen, der uns gezeuget hat in Christo Jesu! Es tönt auch zu deinem Ohre die Stimme: Mein Kind, warum suchest du mich nicht? Ja, von Kindheit an, als du noch auf dem Schooße deiner Mutter saßest und sie dir von dem lieben Heiland Geschichten erzählte; wiederum in deinen Knabenjahren, als du in den Sternennächten die Größe der Wohnungen deines himmlischen Vaters betrachtetest, und dein Auge weinte vor Dank, daß in all' seinen Millionen Welten er dich armes Kind nicht vergessen habe; wiederum in deinem Jünglingsalter, wo die Sünde dich hart anfocht und du das Wort des Jesus Sirach verstehen lerntest: „Wer seinem Herzen vertraut, der ist ein Narr;“ überall und alle Wege hat die Stimme deines Vaters dir zugerufen: „Mein verirrtes Kind, warum suchest du mich nicht, ich bin ja dein Vater!“ - Bist du aber aufgeweckt durch diese Stimme, Bruder, so besprich dich nicht mit Fleisch und Blut, gib Lebewohl der Welt! Wie? fragt ihr, also uns heraus flüchtend aus den Verbindungen, in die Gott uns gesetzt hat, sollen wir die klösterliche Stille suchen und das klösterliche Gewand? Nein, meine Freunde! Eben ihm, eurem Luther, verdanken wir's, daß wir eine andere Art der Absonderung von der Welt haben kennen lernen, als die durch das mönchische Gewand, und ein anderes klösterliches Leben, als das zwischen den vier engen Mauern. Er ist es gewesen, der den Christen auf's Neue jene evangelische Absonderung von der Welt, jenes evangelische Klosterleben, gelehrt hat, von dem Paulus spricht: „Die da haben als hätten sie nicht, die da besitzen als besäßen sie nicht!“ Wohl mag es Manchem bedünken, daß nun es dem Fleisch leicht gemacht sei, denn das Auge des äußerlichen Menschen, das auch nur wieder sieht, was außen ist, sieht keine andern Opfer des Kampfs und der Selbstverleugnung, als die, welche vom äußerlichen Menschen vollzogen werden; aber meine Freunde, die Weltentsagung, welche das Evangelium von uns fordert, und die gebracht werden soll, während wir mitten in der Welt stehen, ist unendlich schwerer, als wenn sich auf einmal die Klosterpforte hinter uns schlösse und uns auf ewig dem Raume nach von der Welt trennte. Wie steht es mit uns? Es greift ein Jeder in seinen Busen: Ist dein Herz los von allem, was du besitzest, von allem deinem Ansehen, von all' den geistigen und irdischen Gütern, von allem, was Gott dir gegeben hat, damit du Haus haltest für Seine Rechnung? Ist es los, so daß, wenn das letzte Stündlein kommt, du es alles leicht und flüchtig hinter dir lassen kannst, wie ein Elias seinen Mantel abwirft, als er in die Wolken steigt? Hat der Ruf vom Himmel dich geweckt, wie Luthern, nun, so besprich dich auch nicht mit Fleisch und Blut, sage geistigerweise ab der Welt und ihrer Lust, wie er äußerlicherweise abgesagt hat. Daß bis jetzt die größte aller Fragen: „Sind mir meine Sünden vergeben? Werde ich selig, wenn ich sterbe?“ dich noch nicht ernstlich erschüttert hat, nimmt mich kein Wunder, du hast noch nicht gekämpft mit der Sünde wie Luther, so kannst du auch noch nicht nach Vergebung durstig geworden sein, wie er; du hast noch niemals mit rechtem Ernst eine Leiter an den Himmel angelegt, darum weißt du noch nicht, wie weit er von dir entfernt ist: du hast dich noch nicht umgesehen nach jenem deinem Schuldbriefe, an welchem eine unsichtbare Hand in jeder Stunde einige Zahlen zusetzt, deshalb ist dir noch nicht bange darum geworden, wer ihn zerreißen wird. Sage ab der Welt in deinem eignen Herzen, ergreife das Gut, das da bleibt, wenn Himmel und Erde vergehen, prüfe auch, ob du so los bist von den vergänglichen Dingen in deinem Herzen, daß, wenn dein Stündlein kommt, du sagen magst: Ich fürchte mich nicht, ich hab' meinen Schatz im Himmel. Wer nun aber von euch nach einer solchen göttlichen Freiheit trachtet, alle Schätze der Erde dahinten läßt, um den Schatz im Himmel zu finden, ich versichere euch, dem wird mit einem ganz neuen und unerhörten Klange das Wörtlein des apostolischen Glaubensbekenntnisses ins Herz dringen: „Ich glaube an eine Vergebung der Sünden“. Jetzt hast du gemeint, das ist eine Sache, die sich von selbst versteht, und bist darum auch zufrieden gewesen mit der Speise, welche dir armes Menschenwort und Menschensatzung gegeben; nun wirst du inne, das Wort: „Gehe hin, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben,“ kann Niemand zu dir sprechen, als der vom Himmel gekommen ist; du ergreifst mit Luther den Glauben an das Gotteswort, du ergreifst mit Luther die Predigt, daß der Mensch nicht gerecht wird durch des Gesetzes Werk, sondern allein durch den Glauben.

Habt ihr also ergriffen mit Luther den Glauben, dann laßt auch mit ihm ihn uns halten bis zu einem seligen Ende; laßt mit Luthern uns halten ob dem Glauben, den wir ergriffen haben, in der Anfechtung von außen und in der Anfechtung von innen.

Es ist Keiner unter uns, dem nicht das Bild vor der Seele stände jenes wehrlosen Mönches vor allen geistlichen und weltlichen Fürsten des deutschen Reiches und vor dem Throne jenes Kaisers, in dessen Reiche die Sonne nicht unterging, mit dem Glaubensworte: „Hier siehe ich, ich kann nicht anders.“ Es gibt gewisse erhebende Bilder in der Geschichte, die vom erstenmale an, wo sie der Seele vorübergeführt worden, nicht mehr darin untergehen. Dahin gehört ein Christus mit der Dornenkrone vor dem Pilatus mit dem Worte: „Du sagest es, ich bin ein König!“ Dahin gehört ein Stephanus, der voll heiligen Geistes den Himmel offen und die Herrlichkeit Gottes sieht, und als sie ihn steinigen, niederknieet und laut schreit: „Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht!“ Dahin gehört ein Luther auf dem Reichstage zu Worms mit seinem: „Hie stehe ich, ich kann nicht anders!“ Wie gesagt, kaum wird irgend Einer unter uns gefunden werden, dem nicht unauslöschlich dieses Bild in die Seele geprägt sei. Aber nun die Hand auf's Herz: was hat dieses Bild in unserm eignen Leben gewürkt, wen von uns hat es dahin geführt, treu, unter Gebet und Flehen, wie Luther, die heilige Schrift zu erforschen und, ohne darum sich zu kümmern, was Menschen setzen und gebieten, unsers Glaubens sicher und gewiß zu werden vor Gott und also ihn auch unerschrocken hinaus zu bekennen in die Welt? O gewiß, Mancher unter uns hat es noch gar nicht sich einfallen lassen, welchen Antheil an der Schwäche und an dem Wankelmuthe seines Glaubens die Menschenfurcht und Menschengefälligkeit hat. Ich wende mich zu euch insgesamt, welches auch die Stufe eures christlichen Glaubens seyn möge, wer unter euch ist Luthern nachgefolgt im Halten ob dem Glauben unter den Anfechtungen von außen, denselbigen zu bekennen vor aller Welt, ob da drohe Schmach, Ketten oder Tod? Da stand er, der menschlichen Hülfe ungewiß, in der lebendigen Erinnerung jenes Blutzeugen, der hundert Jahre vor ihm ein gleiches Zeugniß abgelegt hatte vor den Fürsten der Kirche und der Welt und in der Feuerflamme seinen Geist aufgab, er wußte es, daß ein gleiches Schicksal auch ihn bedrohte, aber - er wankte nicht; in die Fußtapfen seines Heilandes tretend bezeugt er „das gute Bekenntniß“ (1 Tim. 6, 13.)

Er wußte es wohl, nicht immer siegt die Wahrheit; nur am Ende siegt sie. Aber er wußte es, daß eben auch durch ihr Unterliegen für das große Ende ihr ein herrlicher Sieg zubereitet wird.

Doch, meine Freunde, habt ihr den Glauben eures Luther mit keinen andern Anfechtungen im Kampfe gesehen, als mit denen der geistlichen und weltlichen Fürsten der Erde, habt ihr keinen andern Feinden ihn gegenüber gesehen, als dem Hohne der Welt, den Ketten und dem Scheiterhaufen - ihr habt noch nicht die schwersten seiner Kämpfe kennen gelernt. Laß daherstürmen die Stürme vom Aufgang und vom Niedergang, laß drohen Ketten, Pein und den Tod - wohnt innen im Herzen der Friede Gottes, so schreibt ein Paulus aus dem Gefängniß zu Rom, während die Ketten an seinen Händen klirren: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermal sage ich euch, freuet euch!“ (Phil. 4, 4.) Laß eisig den Nordwind daherfahren, wallt innen nur warm das Herzblut durch die Ader, was kümmert es dich? Doch, meine Lieben! es gibt noch eine andere Art der Anfechtungen, und die ist weit gewaltiger und schrecklicher: wenn innen die Lampe düster brennt und zu erlöschen droht, wenn, während von außen die Trübsal dich ergreift wie ein gewappneter Mann, in deinem Herzen der Friede Gottes fehlt. Dies ist jener Zustand, den unsere Väter mit dem Namen des „dunkeln Glaubens“ bezeichneten, von welchem ihr alle Heiligen Gottes sprechen höret als der schwersten aller Trübsale, von dem ihr vielfach leset in den Psalmen Davids, wenn es heißt: „Herr! wie lange willst du meiner so gar vergessen, wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?“ - „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich heule, aber meine Hülfe ist fern“. - „Mein Gott!, des Tages rufe ich, so antwortest du nicht, und des Nachts schweige ich auch nicht.“ Solche Anfechtung läßt göttliche Weisheit vor allen Dingen über diejenigen ergehen, so hoch gestellt sind im Reiche Gottes. Hat Gott der Herr einen armen sündigen Menschen vor Andern so hoch erhoben, daß er mächtiglich ihn zum Werkzeuge macht seines heiligen Geistes, ausrüstet mit allerlei heiligen Gaben und Gnaden und so ihm die höchste Macht verleiht, die Macht über unsterbliche Seelen, also daß er in Hunderten und Tausenden der Erzeuger werden kann eines neuen Lebens: was ist da mehr von Nöthen, denn daß ein solcher hochbegnadigter Mensch auch immerdar sich erkenne als Gefäß und Träger einer höhern Gewalt? Stellt euch einmal vor, es würde euch verliehen, gleich wie den Aposteln des Herrn, zu den Lahmen zu sagen: gehe! und zu den Todten: stehe auf! - stellt euch vor, daß ihr es erlebtet, wie es ein Petrus erlebte, daß bei dem Worte eurer Lippen an einem Tage drei Tausend Menschen an ihre Brust schlügen und sagten: „Was soll ich thun, daß ich selig werde?“ - nicht wahr! wird solche Höhe göttlicher Macht dem Sterblichen verliehen, der Staub und Asche ist, ihr fühlt es wohl, welch ein Kampf es in euch werden würde, dabei demüthig und klein und einfach zu bleiben wie ein Kind, und allewege zu denken: „Das bin nicht ich, das ist der Herr, der solche große Dinge thut!“ Siehe da kommt dir der himmlische Weingärtner zu Hülse, er kommt mit seinem Messer und reinigt seine Reben von seinen Ranken, damit sie mehr Frucht bringen; da schickt er Stunden, wo es ist, als ob alles Gnadenlicht, was der heilige Geist im Herzen angezündet hat, auf einmal auslöschte, wo selbst ein Paulus sagen muß: „Ich habe dreimal den Herrn gebeten, und er hat mir nur gesagt: laß dir an meiner Gnade genügen.“ In denen empfindet es dann wieder der Mensch auf's Neue, daß aus sich selber er keinerlei Dinges mächtig ist, sondern: „Wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn!“ Solche Stunden der Glaubensschwache und des Glaubensdünkels sind auch über seinen treuen Knecht Luther gekommen, also daß der, welcher bezeugen konnte: „Der Glaube ist ein mächtig, kräftig und gewaltig Ding, macht kühn und trotzig gegen Gott und Jedermann,“ wie ein kleines Kind geweinet hat, seine Hand ausgestreckt und gerufen: sie haben mir meinen Heiland genommen! Vielfach vernehmen wir von solchen schweren Kämpfen, welche der Mann Gottes mit Satanas gekämpft, und tief rührend und ergreifend ist es, zu lesen, wie er das eine Mal bei solcher Glaubensschwäche hat seine Freunde herbeigerufen in der Nacht und des Trostes erbeten von ihren Lippen. O ihr, die ihr auch von solchen dunkeln Stunden wißt, sehet, welch' ein reicher Trost euch beschieden ist - auch die Cedern auf Libanon wanken, aber sie fallen nicht. Auf denn! im Hinblick auf einen David in den Stunden seiner Innern Noth, im Hinblick auf einen Paulus und einen Luther, haltet fest ob dem Glauben, auch da, wo der Friede Gottes in eurem Herzen sich nicht mehr spüren lassen will. O meine angefochtenen Brüder! Auch im Nebel der Wolke ist der Herr der Heerschaaren einst hergezogen vor seinem Volke, du siehst ihn nicht, aber er ist gerade in den Stunden, wo du am fernsten ihn wähnst, da ist er dir am nächsten getreten, da will er dich nämlich vollbereiten, da will er dich zu einem Gefäße machen der Erwählung, da will er dich so ausleeren von allen hohen Gedanken, die du von dir selbst haben könntest, daß du im innigsten Glauben bekennst: Alles und in Allem Christus.

O ihr zukünftigen Diener der Kirche Jesu Christi, o daß die alten Tage der Kirche wiederkämen und daß auch aus eurer Mitte hervorgingen Zeugen, die da ergreifen das Wort vom Glauben mit der selbstverleugnenden Treue eines Luther und die da halten zu einer schweren Zeit ob dem Worte des Glaubens in der Anfechtung von außen und in der Anfechtung von innen!

Du aber, allgewaltiger Herr deiner Kirche! der du deinen Geist ausschütten kannst in unsern Tagen, wie in den Tagen vor Alters, gieß ihn aus auf diese Schaaren deiner zukünftigen Diener, daß deine Kirche sich erneue und grüne und blühe in Gerechtigkeit, in Glaube und in Liebe! Amen.

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