Schlatter, Adolf - 27. Die evangelische Lehre von der Schrift – ein Kapitel aus dem “Christlichen Dogma”

Schlatter, Adolf - 27. Die evangelische Lehre von der Schrift – ein Kapitel aus dem “Christlichen Dogma”

Das Apostolat

Die Evangelien verdeutlichen mit erhabener Klarheit, daß Jesus auf alle sachlichen Machtmittel verzichtete und Gottes Herrschaft nicht durch Dinge herzustellen suchte. Er hatte, als er sich zum Kreuz bereitete, einzig die Begründung des Apostolats erreicht. Seine Jünger bestellte er sowohl bei ihrer Berufung als bei seinem Abschied zu Fischern der Menschen und Hirten der Herde, nachdem er selbst für sie zum Fischer und Hirten geworden war.

Ihr Beruf nimmt den ganzen Reichtum der Sendung des Christus in sich auf und erhält dadurch die Merkmale der göttlichen Offenbarung. Ihr Wort ist Berufung zu Gott, die Begegnung mit ihnen somit dasjenige Erlebnis, durch das die göttliche Gnade den Menschen erfaßt. Daraus entsteht ihre Autorität. Sie sind nicht nur Glieder der Gemeinde, nur mit dem zeitlichen Vorrang, daß sie die ersten Christen seien, sondern sie stellen die Gemeinde her samt ihrem religiösen Besitz. Ihre Autorität ist so universal wie die des Christus. Da er der Einzige ist, der allen das zu sagen vermag, was sie nicht in sich selber finden, nämlich die Berufung zu Gott, und ihnen das geben kann, was jeder bedarf und keiner zu bewirken vermag, nämlich die Versöhnung mit Gott, ist der Dienst seiner Boten für alle unentbehrlich und für alle die Gabe, die ihnen den Anteil an Gott gewährt.

Darin setzt sich der die Sendung des Christus begründende Gedanke fort: der Vater offenbart sich im Sohn, der Sohn in seinen Jüngern. Er des Vaters Bote in Kraft seiner Gemeinschaft mit ihm und sie seine Boten in Kraft seiner Gemeinschaft mit ihnen.

Die Funktion und Autorität des Apostels ist darum gleichzeitig und einheitlich sowohl auf den Christus als auf den Geist begründet, weder nur auf jenen, noch auf diesen. Auch beim Apostel entsteht der religiöse Vorgang aus der Geschichte, nämlich daraus, daß er der Begleiter Jesu, der Zeuge seines Lebens, Leidens und Auf-erstehens war. Paulus macht hier keine Ausnahme, da sich auch sein Amt aus der besonderen Form seiner Bekehrung ergab, daraus, daß er durch einen Akt des Christus, der niemandem widerfuhr als ihm, zu seinem Boten wurde. Aber diese geschichtliche Begründung ihres Amts verbindet sich mit ihrer Ausrüstung durch den Heiligen Geist. Das personhafte Ziel der Arbeit Jesu verlangt dies; seine Boten haben nicht ein Wort zu sagen, das ihnen fremd bliebe, sondern ein solches, das zu ihrem eigenen Besitz wird, und nicht eine Arbeit zu tun, von der sich ihre Person absondern ließe, sondern ihre Arbeit wird ihre eigene Tat. Dazu brauchen sie den Geist, ein eigenes Erkennen, Glauben und Lieben, das sie für ihren Beruf befähigt, und der Beweis des Apostolats besteht darum nicht einzig in seinem geschichtlichen Wissen, sondern gleichzeitig in der Höhe seines eigenen religiösen Standes.

Durch den doppelten Grund ihres Wirkens vertreten die Apostel den christlichen, d. h. den trinitarischen Gottesgedanken. Gott bezeugt sich durch sie der Menschheit als Vater, Sohn und Geist.

Da Jesus die Verbindung zwischen sich und seiner Gemeinde durch die Apostel herstellte, wird mit ihrer Ablehnung auch der Anschluß an Jesus aufgegeben. Der Wunsch, eigene Worte Jesu zu finden, die nicht durch die Apostel zu uns kämen, ist unerfüllbar. Da alle Worte, die uns von Jesus erhalten sind, zugleich auch Worte der Apostel sind, bleibt es bei seiner Anordnung: „Ihr seid das Licht der Welt„ (Matth. 5, 13—16). Zum Versuch, eine Kenntnis Jesu zu erreichen, die uns von seinen Jüngern unabhängig machte, kam es zunächst vom Entwicklungsgedanken in seiner Hegeischen1) Fassung aus, da sich aus ihm das Urteil ergab, in der Geschichte der ersten Gemeinde habe sich eine aufsteigende Bewegung vollzogen; Jesu eigenes Denken und Wollen sei dazu der erste Anfang, somit noch arm und unentwickelt gewesen, während hernach die Kirche und schon seine Jünger über ihn hinauswüchsen, wobei wie überall der Kampf zwischen den sich widersprechenden Erzeugnissen des Denkens die neuen, höheren Gebilde hervorgetrieben habe. Aber nicht an den Tatbeständen gewonnene Beobachtungen, sondern allgemeine Urteile, die der Denker an die Wirklichkeit herantrug, gaben einst dieser Theorie den Schein der Begründetheit. Wenn die Geschichte als Denkprozeß verstanden wird, so kann auch Jesus sie nur durch einen Gedanken bewegt haben, und da sich bei ihm ein solcher Gedanke nicht findet, entsteht folgerichtig das Christentum nicht durch Jesus, sondern erst durch die Christenheit. Ein solcher Schluß verletzt aber das Grundgesetz des Denkens, das uns verbietet, ein von uns selbst zur Deutung der Welt entworfenes Geflecht von Urteilen auf das Geschehene aufzutragen, während wir ihm die offene Beobachtung schuldig sind, und dies vollends, wenn es mit der Verheißung an uns herantritt, uns Gottes Werk zu zeigen. Damit, daß die Christenheit durch das, was sie von Jesus empfing, in eine fortschreitende Bewegung versetzt wird, ist der Satz nicht bewiesen, daß sie sich von Jesus entfernt und über ihn erhoben habe. Denn der Streit und die Armut sind nicht die einzigen Kräfte, die die menschliche Tätigkeit hervorrufen; auch der Reichtum des Lebens hat die Kraft, Geschichte zu erzeugen, wenn sich die Liebe seiner als ihres Werkzeugs bedient. Der Reichtum Jesu, den er seinen Jüngern mitteilt, führt sie in eine tatkräftige Arbeit, durch die eine sich gliedernde und emporsteigende Mannigfaltigkeit von Bildungen entsteht, ohne daß wir, um sie möglich zu machen, die Geschichte Jesu entleeren müßten, damit sich die Kirche allmählich über seine Armseligkeit erhebe.

Halb mit dieser Beschreibung der urchristlichen Geschichte vermischt, halb im Streit mit ihr tritt jene Darstellung der Apostel auf, die bei ihnen eine Entstellung der Frömmigkeit Jesu sieht. Die Religion Jesu habe die Reinheit der Originalität; dann drängten sich aber die vorhandenen Denk- und Willensformen an sie heran, und es entständen religiöse Mischbildungen. Das zeige sich im Bemühen der Apostel, eine Lehre zu bilden; erst sie hätten ein Dogma über den Christus und sein Werk geschaffen, wie sie auch den religiösen Individualismus Jesu dadurch geschädigt hätten, daß sie die Kirche begründeten. Die Aufgabe des Theologen bestehe somit darin, die Religion Jesu wieder von ihrer Verbildung durch die Theorien der Apostel zu befreien und statt des Glaubens an Christus den Glauben Jesu aufs neue zu verstehen und zu verbreiten.

Auch diese Theorie verzichtet auf den Christus, da sie Jesus schon bei seinem ersten Schritt, bei der Wahl und Bildung seiner Jünger, scheitern läßt, womit die Verheißung Jesu, daß er sie in Kraft seiner Sendung durch Gott leite und mit sich einige, zerfällt. Aber auch diese Theorie gewinnt ihr Urteil aus einem Gottesgedanken, der Jesus fremd ist. Sie bringt die Stimmungsreligion zur Geltung, die uns dann noch bleibt, wenn ein skeptisches Urteil das Denken entwertet, folgerichtig den Willen preisgibt und auf die Gemeinschaft verzichtet. Diese auf Stimmungen beschränkte Religiosität war aber Jesus nicht weniger fremd als eine spekulierende Denkreligion. Der Christusgedanke ist der vollständige Gegensatz zur Beschränkung unseres Ziels auf das eigene Innenleben. Dadurch, daß Jesus das königliche Ziel erfaßt, hat er sich mit seinem Willen und Handeln in den Dienst der Gemeinde gestellt. Sein Ziel war die Bekehrung Israels, und da dieses seine Berufung ablehnt, findet seine Sendung ihre Bewährung darin, daß durch ihn die neue Gemeinde entsteht, die nun Gott gehorsam ist. Um aber mit dem königlichen Willen zu handeln, brauchte er eine deutliche, in ihm befestigte Gewißheit, die ihm Gottes Willen zeigte, und er hat nie anders von Gott gesprochen als so, daß er sich als den bezeichnet, der Gott kennt. Darum sahen seine Jünger im Ertrag seiner Arbeit, durch die die Gemeinde und damit auch die sie einigende Lehre entstand, keine Abweichung von ihm, nichts, was als fremde Zutat zu seinem Wort hinzukäme, sondern seine Gabe, die ihnen über das Gewißheit gewährte, was er selber ist und schafft. Daß ihr Denken geschichtlich bedingt war wie das Denken aller, auch derer, die ihre Predigt zu reinigen versuchen, ist offenkundig. Sie wurden durch ihren Beruf ebensowenig zu Idealmenschen, die sich selbst genug jenseits der Gemeinschaft leben, als der Christus eine solche Idealgestalt ist, sondern es zeigt sich auch an ihnen, daß sich hier ein göttliches Wirken vollzieht, das Geschichte schafft.

Der Beweis, den die Apostel bei sich haben, besteht darin, daß sie mit einer die ganze Geschichte bewegenden Kraft den Wahrheitsgedanken vertreten. Ihnen verdanken es die christlichen Völker, daß bei ihnen im öffentlichen Urteil die Wahrheitsregel als unverletzlich gilt.

Der Ernst, mit dem die Apostel die Wahrheit als die gültige Norm für ihr Denken und Handeln ehrten, zeigt sich in den lehrhaften Worten, die den Widerstand gegen die Wahrheit zum Merkmal der Sünde und den Gehorsam gegen die Wahrheit zum Merkmal des Anteils an Gott und am Geist machen2) und bewährt sich durch die erhabene Wahrhaftigkeit, mit der sie sich selbst, die Judenschaft und die Christenheit beurteilten. Die Darstellung der Jünger in den Evangelien ist in dieser Hinsicht eine große Leistung. Ebenso bedeutsam ist die siegreiche Abwehr jeder Verhüllung der Tatbestände in der Beurteilung der eigenen Gemeinde, die sich leicht an die unbeschränkten Verheißungen des Evangeliums anheften könnte, da sie die Gemeinde als heilig und gerecht beschreiben. Dieselbe Wahrhaftigkeit bewährt sich in der Freiheit der Jünger von allen erlernten und imitierten Formeln. Sie wissen sich durch den Christus nicht zur beständigen Wiederholung von Formeln berufen, sondern in ihrem Lebensstand ergriffen und gestaltet. Sie tragen darum nicht eine von allen gleichartig eingeübte Figur. Jeder spricht seine Sprache, tut seine Arbeit, hat seinen eigenen Glaubensstand und wird in seinem individuellen Lebensmaß geheiligt, nicht aber entstellt. Diese Gestalt des inwendigen Lebens entsteht nicht durch Schauspielerei und Träumerei. Die Erinnerung an die Unsicherheit unserer Beobachtung, wenn sie inwendige Vorgänge aufzufassen hat, kommt gegen diesen Tatbestand nicht auf. Es ist uns ein Unterscheidungsvermögen gegeben, das leere Worte und Willkürlichkeiten von einem hellen Bewußtsein unterscheiden kann, das so denkt, wie es muß, und das sagt, was es denkt, und den ihm eingeprägten Gewißheiten in gerader Treue untergeben ist.

Sodann stehen die Apostel miteinander in einer festen Gemeinschaft, und ihr Werk besteht darin, daß sie die Gemeinde herstellten. Die neutestamentlichen Schriften verkünden in den entscheidenden Grundstrichen denselben Christus und ordnen das Verhalten der Christenheit nach denselben Normen. Durch die individuelle Bestimmtheit, die jeder Apostel hat, wird ihre innerliche Übereinstimmung nicht vermindert, sondern sie bekommt gerade dadurch ihre Bedeutsamkeit. Denn so ist festgestellt, daß die Einheit zwischen ihnen nicht mechanisch bewirkt oder erzwungen, sondern von innen her begründet ist. Sie entsteht daraus, daß sich alle durch aufrichtigen Glauben mit Jesus verbunden hatten. Sie selbst stellten sich unter ihn; daraus entsteht die persönliche und individuelle Färbung ihres Worts; daß sie sich aber ihm untergaben, das gibt ihnen den gleichartigen Willen, das einheitliche Ziel, denselben Stoff für ihr Denken und dieselben Maßstäbe für ihre Urteile. Ihre Schriften stellen die Tatsache fest, daß Jesus wirklich eine Gemeinde schuf, nicht eine Gewaltherrschaft, durch die alle unter einen gleichförmigen Zwang gestellt waren, auch nicht religiöse Einsiedler, von denen sich jeder abseits von der Wirklichkeit in sein Innenleben versenkte, sondern eine geeinigte Gemeinde Freier, in der jedes Glied sein eigenes Leben hat, jedes aber durch den gemeinsamen Herrn mit allen in völliger Gerneinschaft verbunden ist. Damit haben die Jünger für den Christusnamen Jesu den Tatbeweis geführt. König ist der, der die Sozietät schafft. Für seine Jünger war Jesus wirklich der Christus, wirklich der Herr; denn er hat aus ihnen eine Kirche, eine realisierte, d. h. wirkliche religiöse Gemeinschaft gemacht.

Aus der Überordnung der Apostel über die Gemeinde, die die Gemeinde von ihnen abhängig macht, entstand die Frage, ob sie nicht Nachfolger bedürfen. Einen Versuch, dem Apostolat Nachfolger zu geben, stellt das Episkopat und das Papsttum dar; die Funktion der Apostel sei zeitlich begrenzt, könne aber der Kirche nicht verlorengehen; somit trete das kirchliche Amt an die Stelle der Apostel3).

Aber der Gedanke, daß es Nachfolger der Apostel geben könne, war dem Apostolat fremd und ist daher eine die Tatsachen verleugnende Erfindung. Ihr Werk besteht darin, daß die Kirche entstand, auf die nun die Verpflichtung überging, daß sie das Wort Jesu sage und im Dienst der göttlichen Gnade handle. Daß es aber durch Wahl oder sonst auf irgendeine Weise neue Apostel geben könnte, ist kein Gedanke der Apostel. Die Anerkennung ihrer Sendung schließt aber die Umbildung ihres Amts nach eigenem Gutdünken aus.

Um aus der angeblichen Notwendigkeit eine Tatsache zu machen, sind unhistorische Konstruktionen nötig. Der Nachfolger hat nicht mehr, was der Apostel hatte und was ihn zum Apostel machte; denn er war es durch seine geschichtliche Stellung, weil er Jesus kannte. Das ist unübertragbar und besitzt die Unwiederholbarkeit der Geschichte. Der unhistorische Gedanke wird auch unethisch. Das apostolische Amt bestand in einem Dienst, der die Person mit allen ihren ethischen Kräften in Tätigkeit versetzte. Hierfür Nachfolger zu schaffen, getraute sich die Kirche nicht. Die Nachfolge der Apostel soll nach der späteren Lehre ein Amt sein, das von der Person unabhängig die apostolische Wirkung und Geltung besitze. Damit ist das Wort Jesu in seinem Kern verletzt, weil so eine unpersönliche Religion entsteht, statt des Glaubens der Zauber, statt der Gnade Gottes eine mit Dingen arbeitende Heilsanstalt. Um die Lücke zu ergänzen, wird die geistliche Begründung des Amts gesteigert; die geschichtliche Situation der Apostel sei freilich nicht wiederholbar; aber der Geist bleibe, der auch die ethische Ohnmacht der Personen ersetzen soll. Allein die Vorstellung vom Geist, die hierbei verwendet wird, ist ungeistlich, da der Geist ins Sakrament der Amtserteilung eingeschlossen und von der Persönlichkeit ferngehalten wird.

Diejenigen Nachahmungen des Apostolats, die im Gegensatz gegen ihre römische Form entstanden, z. B. bei den Waldensern und den Alt-Irvingianern, anerkennen die an ihm haftende sittliche Verpflichtung und verlangen vom Träger des Apostelnamens ein apostolisches Glauben und Lieben. Weil aber der geschichtliche Zusammenhang mit Jesu Werk nicht herstellbar ist, wird auch hier nur die geistliche Begründung des Apostolats anerkannt; der erhöhte Christus sende sie durch eine besondere Ausrüstung mit dem Geist. Damit entsteht nie das, was die Funktion der Apostel bildete. Diese sogenannten Apostel haben wie alle das Evangelium von denen zu empfangen, die die Boten Jesu gewesen sind.

Die Apostel begründen und führen in jeder Zeit die Kirche durch die Schrift, sowohl durch das Neue Testament, das sie verfaßten, als durch das Alte Testament, das sie der Kirche als das für sie geschriebene Wort Gottes übergaben. Da die Kirche die Schriften der Apostel besitzt, entbehrt sie das Apostolat nicht, sondern steht immer unter seiner Leitung. Das Urteil über die Schrift ergibt sich aus dem Werk, das den Aposteln und den Propheten zugeteilt worden ist.

Die Herkunft der Schrift aus dem Geist

Wie jede personhafte Beziehung zu Gott durch den Geist vermittelt ist, so hat der apostolische und prophetische Dienst seine Voraussetzung darin, daß der Geist Gottes den Berufenen ihr Denken, Wollen und Handeln gebe. Nur so kommt es zu einer Geschichte, die in Gott ihren Grund hat, zu einem Wort, durch das Gott den Menschen beruft.

Die Inspiration der Schrift wird somit mißverstanden, wenn sie einzig den von der Schrift ausgesprochenen Gedanken die Richtigkeit verschaffen soll. Diese Wendung bekam die Lehre zuerst in der Synagoge4) und von ihr aus auch in der Kirche, weil ihre Lehrer in der Schrift vor allem das Erkenntnismittel sahen, mit dem sie ihre Vorstellungen über unser Verhältnis zu Gott erwarben und begründeten. Aus dieser Betrachtung der Schrift ergab sich für die Inspiration, daß sie den Verfassern der Schrift ihre Erkenntnisse verschafft habe. Diese Beurteilung der Schrift beruht auf der richtigen Wahrnehmung, daß die ganze Arbeit Jesu unter die Wahrheitsregel gestellt ist, und die Wahrheit als Gottes Gabe heiligt. Sie stiftet eine bewußte, also eine denkende Zuwendung zu Gott und führt das Bewußtsein zur Gewißheit, das Denken zum Erkennen empor. Die Schrift ist deshalb, weil sie Gnadenmittel ist, auch Erkenntnismittel. Allein es entsteht doch eine gefährliche Verdunkelung des Tatbestands, wenn sie nur als Erkenntnismittel benützt werden soll. Sie gibt Wissen nicht bloß zu unserer Erleuchtung, nicht bloß als Begabung unseres Intellekts, sondern sie will Glauben stiften und Liebe schaffen und bietet uns Gottes Gnade in ihrer Vollständigkeit dar, so daß sie nicht nur unser Wissen, sondern den gesamten Lebensstand bestimmt. Die Schrift ist deshalb Lehrbuch, weil sie uns in Gottes Gnade beruft. Dadurch, daß sie das Kind Gottes macht, macht sie den Theologen und belehrt uns dadurch, daß sie uns den für uns handelnden Gott zeigt, nicht bloß den uns belehrenden.

Die Inspiration bringt daher nicht einzelne Bewußtseinsvorgänge hervor, sondern sie gestaltet den Menschen so, daß er Gottes Wort zu sagen vermag. Solange die Inspiration nur als Mitteilung von Erkenntnissen gefaßt wird, hat die Inspirationslehre noch die Entzweiung zwischen Gott und den Menschen in sich und arbeitet mit der aus der vorchristlichen Zeit stammenden Gedankenform, die sich Gott und den Menschen als verfeindet denkt. Darum wird der Geist, weil er heilig und Gottes ist, zum Zerstörer des Menschlichen. Zur Wirksamkeit des Geistes sei die Passivität des Inspirierten erforderlich; sein eigenes Bewußtsein gehe unter, und sein eigener „Wille höre auf; er werde bewegt wie die Leier durch den Spieler, wie die Feder durch den Schreibenden. So gefaßt, bleibt der Inspirationsvorgang ein vereinzeltes Erlebnis, das sich zwischen die übrigen seelischen Vorgänge hineinschiebt. Der einheitliche Zusammenhang der Lebensakte wird durch ihn unterbrochen.

Hier ist der Geistbegriff noch nicht am Christus gemessen, weder an dem, was wir an ihm selber wahrnehmen, noch an dem, was er uns als Gnade Gottes gewährt. An Jesus tritt uns die Beziehung des göttlichen Gebens zum menschlichen Empfangen in ihrem normalen Bestand entgegen; der Geist in seiner Fülle schafft an ihm die Menschlichkeit in ihrer Vollständigkeit. Diese entsteht aus dem Geist als von Gott gewollt und wird in die lebendige Aktivität versetzt, so daß sie ihm dient. Daher wird der Mensch in der Gottmenschheit nicht zur Bewußtlosigkeit und Passivität entkräftet, sondern zur Tat befähigt berufen, durch die der Welt die göttliche Gnade widerfährt. Ebenso teilt die Verheißung Jesu den Glaubenden den Geist so zu, daß sie durch ihn geboren, nicht vernichtet werden. Sie sollen vom Geist ihr Leben haben, nicht als willenlose Werkzeuge zu Leistungen gebraucht werden, die ihrem eigenen Bewußtsein und Willen fremd bleiben.

Solange der unversöhnte Zustand das Bewußtsein des Menschen bestimmt, erscheint der Gedanke, daß Gott den Menschen so berühre, daß der Mensch lebendig werde, als unglaublich; nur dann sei eine göttliche Offenbarung denkbar, wenn der Mensch in der Gemeinschaft mit Gott zum dinglichen Werkzeug entwertet wurde. Darum beschränkt dieser Inspirationsbegriff das Wirken des Geistes nur auf den Intellekt und kann sich als Gottes Gabe nur die Spendung von Gedanken denken. Wenn nur das Denkvermögen den Ort bildet, in dem sich Gott bezeugt, so ist es möglich und sogar wünschbar, daß der Mensch selbst entschlafe und einzig sein Denkvermögen funktioniere, jetzt unter der Leitung des Geistes. Weil aber Gottes Gnade nicht bloß unseren Gedanken, sondern uns gilt und seine Berufung uns nicht nur Erkenntnis, sondern Gemeinschaft des Willens und des Werks mit ihm verleiht, wirkt Gottes Geist auf den Menschen nicht so, daß er ihn tötet, sondern so, daß er ihn belebt.

Ein religiöser Wille wird auch in der antiken Inspirationslehre sichtbar; denn sie leitet den Leser der Schrift an, seinen Blick ernsthaft und ausschließlich auf Gott zu richten. Er hat bei der Schrift nicht an den Menschen und seine Besonderheiten zu denken, sondern einzig und vollständig durch ihn Gott zu hören. Soweit kommt in dieser Fassung der Schriftlehre der Glaube zum Ausdruck5). Ihm erschien aber alles, was in der Schrift an die menschlichen Boten Gottes erinnert, nur als eine Schwierigkeit, über die er hinwegsieht, damit er den Anschluß an den gewinne, nach dem er einzig verlangt, an Gott.

Allein dieser Glaube verstand sich selber nicht, wenn er den Anschluß an Gott dadurch finden wollte, daß er den Menschen aus Gottes Offenbarung und Regierung entfernte. Denn der Glaube wird nur dadurch möglich, daß in Gottes Licht nicht alles andere dunkel wird, sondern der Mensch zum Leuchten kommt und an Gottes Sprechen der Mensch nicht verstummt, sondern selbst zum Sprechen gelangt und in Gottes Dienst denken und reden lernt und aus Gottes Offenbarung nicht die Einsamkeit Gottes erfolgt, so daß er für nichts Raum hätte als für sich selbst, sondern die Versetzung des Menschen in die Lebendigkeit und Tätigkeit, die Gott ihm verleiht. Verliefe Gottes Offenbarung anders, so könnten wir ihm nicht glauben, nicht Gottes Gnade als den Grund erfassen, aus dem sich unser Leben ergibt.

Freilich wird unser Verkehr mit der Schrift fruchtlos und unwahr, wenn wir in ihr nur die Menschen hören, interessante Charaktere aus der antiken Religionsgeschichte, religöse Genien und ähnliches. Die Propheten und Apostel reden als Gottes Zeugen und werden nur dann gehört, wenn sie in ihrer Sendung von uns erkannt werden. Unser Denken und Wollen hat sich im Verkehr mit der Schrift auf Gott zu richten, aber nicht über dre Menschen hinweg, sondern durch ihren Dienst hindurch.

Aus der vom menschlichen Lebensakt abgeschiedenen Inspiration entstand die Absonderung der Schrift von der Geschichte, die so für das Wirken des Geistes nicht nur als gleichgültig, sondern als hinderlich erscheint und darum nicht nur unbeachtet bleibt, sondern bestritten wird. Darum erfolgte der Gegenstoß gegen die alte Inspirationslehre von der Beobachtung aus, daß an den biblischen Männern und Büchern eine Fülle geschichtlicher Beziehungen und Abhängigkeiten sichtbar sind und Werdeprozesse sie formen.

Das führte die Einrede gegen die ältere, aus dem Geist abgeleitete Schriftlehre zu Formeln, die die Bedeutung der Bibel nur durch ihre geschichtlichen Eigenschaften begründen, nur dadurch, daß sie Urkunden über die Offenbarung enthalte und aus Dokumenten bestehe, die uns die Anfänge der Kirche erkennbar machen6). Allein die Annahme eines Gegensatzes zwischen der Geschichte und dem Werk des Geistes ist ebenso falsch, wenn der Geschichte wegen der Geist bestritten, als wenn des Geistes wegen die Geschichte beseitigt wird.

Das Verständnis der Geschichte und die Wahrnehmung der Wirksamkeit des Heiligen Geistes sind vielmehr untrennbar verbunden. Durch die Geschichte, in der die biblischen Männer stehen, werden sie die Empfänger des Geistes. Die Inspiration der Apostel hat ihre Sendung durch den Christus zur Voraussetzung und erwächst aus dieser Geschichte. Wiederum führt sie der Geist in die Geschichte hinein, nicht aus ihr heraus, weil er keine Entleerung und Unterbindung des menschlichen Lebens wirkt, sondern Menschen hervorbringt, deren Denken und Wollen aus Gott stammt, weil sie denken, was Gott denkt, und wollen, was Gott will. Darum schafft er auch Geschichte, d. h. Zusammenhang und Bedingtheit des einen durch den anderen, ihre Vereinigung in eine Gemeinde, in der die vielen mit- und nacheinander in eine Traditionskette eingefügt und durch das Gesamt-Icben gestaltet sind. Das ist keine Minderung ihrer geistlichen Art und Kraft, sondern das vom Heiligen Geist Gewollte und Hervorgebrachte. Deshalb besteht auch die wirksame Macht der Schrift darin, daß sie, wie sie aus der Geschichte stammt, auch wieder Geschichte schafft, und unseren Gedanken- und Willenslauf so an das dort Geschehene anheftet, daß unser eigenes Leben aus ihm seinen Grund und Inhalt bekommt.

Daher reichen die bloß geschichtlichen Formeln (Urkunden, Zeugnisse) nicht aus, um die Bedeutung der Bibel auszusprechen. Denn sie hält uns nicht bloß Vergangenes vor, damit wir uns daran erinnern, sondern bestimmt durch die einst geschehene Geschichte unsere eigene Geschichte, und zwar so, daß sie in Gottes Gemeinschaft verläuft. Aus jenen alten Erlebnissen werden unsere eigenen Erlebnisse, und darin, daß die Schrift uns selbst das Erleben der göttlichen Gnade bereitet, erweist sie sich als das Werk des Geistes.

Solange dagegen die Inspirationslehre und das geschichtliche Verständnis der Schrift sich gegenseitig stören, ist der von der Schrift uns vorgelegte Tatbestand noch nicht zur klaren Wahrnehmung gelangt. Dann erträumen wir uns entweder eine sogenannte Geschichte, etwa eine solche, bei der der Mensch sich die Religion macht und sich seinen Gott erfindet, oder wir erträumen uns einen sogenannten Geist, etwa einen solchen, der sich vom konkreten Inhalt des menschlichen Lebens abseitshalten muß. Die „geistlose“ und darum gottlose Deutung der Schrift ist nicht Wissenschaft und ihre geschichtslose und darum unmenschliche Deutung ebenfalls nicht.

Um Platz zu bekommen für die menschliche Lebendigkeit im Verhältnis Gottes zu seinen Boten, wurde die Beziehung der Inspiration auf die Wörter, die „Verbaiinspiration“, abgelehnt und als ihr Empfänger die Person beschrieben. Die Vorstellung, die die Wörter am persönlichen Lebensakt vorbei in den Menschen hineingelangen läßt, ist zweifellos zu beseitigen. Aber mit dem Verzicht auf die Worte verbindet sich leicht wieder ein dunkler Gedanke, der das, was uns durch die Schrift gegeben ist, hinter ihrem Wort in einem erst noch zu entdeckenden „Kern„ desselben sucht und sich damit verbirgt, daß wir an diesen Worten fromm und unfromm, mit Gott verbunden oder von ihm geschieden, durch den Geist regiert oder für ihn verschlossen werden7). Wird der Geist von den Worten der Apostel ferngehalten, so bleibt er vom bewußten Lebensakt derer, die Gottes „Werk zu tun hatten, abgeschieden; denn diesen vollziehen sie durch das Wort. Dadurch würde er auch von ihrer Arbeit und ihrem Verkehr mit den Menschen getrennt, da dieser durch das Wort geschieht. „Weil aber der Geist die Boten Gottes zu ihrem Dienst beruft und befähigt, darum besteht seine Gabe an sie im Wort.

Die Einheit der Schrift

Einheit ist für die Schrift nötig, damit sie uns als Gottes Wort erkennbar sei und diene. Denn Einheit ist Gottes Merkmal, darum das Gesetz, das unserem Denken gegeben ist, das am Widerspruch verdirbt, und das Gesetz, das unserem Willen gegeben ist, der nicht gut ist, wenn er uns entzweit und den Hader schafft, und das Gesetz, das der Gemeinde des Christus gegeben ist, der dazu gekommen ist, damit er die in Gott geeinigte Menschheit schaffe. Soll uns die Schrift zu unserem Ziel helfen, so darf sie nicht durch Widersprüche ihr eigenes Wort zerstören und in uns den Hader hervorbringen.

Das dagegen gehört nicht zur Aufgabe der Schrift, daß sie jener Verderbnis unseres Denkens diene, bei der wir die Vollständigkeit und einheitliche Geschlossenheit unseres Gedankenlaufs zu unserem wichtigsten Anliegen machen, als hätte unser Leben darin seinen Zweck, daß wir ein vollständiges System von Begriffen hervorbringen. Die Bibel unterstützt die Entleerung unseres Lebens zum kunstvollen Spiel mit inhaltsleeren Begriffen nicht. Sie läßt Lücken in unserem Gedankengang und weiß auch wohl, daß sie solche hat, und sieht darin keinen Mangel. Da aber nicht nur die erträumten Ideale der alten griechischen Denklehre uns die Einheit für unser geistiges Leben als ein unentbehrliches Gut und Ziel darstellen, sondern das Bedürfnis nach ihr aus unserer inwendigen Organisation entsteht, wäre die Schrift für uns eine Erschwerung der Lebensführung, nicht eine Gabe, wenn sie Widersprüche in uns hineintrüge.

Wie überall, so wendet sich auch hier das Verlangen nach der Einheit oft zur leeren Eins, die die Fülle von sich ausstößt. Der reformatorische Schriftgebrauch hat die Neigung nicht überwunden, die alles in der Bibel auf dieselbe Fläche legt und jedes Schriftwort das gleiche wie jedes andere sagen und bedeuten läßt. Da ja alles die absolute Autorität Gottes hat, scheint eine Gliederung hier ausgeschlossen zu sein. Daß sich aber dieser Gebrauch der Schrift an ihr vergreift, wurde dadurch offenbar, daß er durch seine gewaltsamen Gleichungen die Aneignung ihres Worts schwächte und hinderte.

Die Einheit der Schrift ergibt sich daraus, daß die Geschichte, die sie schuf und die sich in ihr bezeugt, im Christus ihre Einheit hat. Mit dem Christusnamen Jesu ist die Unterordnung der Propheten und Apostel unter ihn ausgesprochen. Der Mittelpunkt der Schrift, der aus ihr eine Einheit macht, läßt sich somit mit Luther so formulieren: was Christus treibe, sei kanonisch8). Das ergibt nicht nur die Grenze zwischen der Schrift und anderen Stimmen, sondern gibt auch innerhalb der Schrift ihren einzelnen Teilen ihren Platz und ordnet ihre Wichtigkeit und Wirksamkeit. Nur wäre dieser Satz mißbraucht, wenn mit ihm bewiesen werden sollte, daß einzig die ausdrückliche Verkündigung des Christus als das göttliche Wort zu gelten habe, so daß im Alten Testament nur das Bedeutung hätte, was direkt die messianische Verheißung enthalte, im Neuen Testament nur das, wodurch unmittelbar auf Jesus hingewiesen werde. So gefaßt, würde sich der Gedanke jener Vorstellung vom königlichen Amt des Christus nähern, nach der es alles neben ihm entrechtet und vernichtet, so daß der Prophet nichts wäre, wofern er nicht von ihm spräche, der Apostel nichts, wofern er nicht ihn beschriebe. Damit wäre die Einheit der Schrift, die die Fülle des Lebens umfaßt, wieder durch einen entleerten Begriff zur Einerleiheit entstellt.

Bei der Bildung des Urteils, wiefern ein Teil der Schrift den Christus bezeuge, ist auf die wirksamen Beziehungen zu achten, in der sein Gedanke zum Werk des Christus steht. Auch das Gesetz dient ihm; denn es gibt kein Verständnis seiner Sendung, wenn sich uns nicht Gottes Wille in seinem Gegensatz gegen unseren Willen enthüllt. Auch Jakobus führt zu ihm mit seiner Buße, die allem religiösen Übermut widerspricht und uns aufrichtig vor Gott beugt. Es bestehen hier aber zwischen den verschiedenen Männern und Zeiten deutliche Abstufungen, da ihr Auftrag und ihre Gabe durch ihren persönlichen Lebensstand bestimmt sind. Sie führen nicht alle in derselben Vollständigkeit und Deutlichkeit in das Ziel des Christus ein, und darnach bemißt sich die ihnen zustehende Wichtigkeit.

Da die Schrift Teile von geringerer und größerer Wichtigkeit hat, läßt sich fragen, ob sich an ihr Stufen der Inspiration unterscheiden lassen. Die Verschiedenheit fällt aber nicht in die Beziehung der schaffenden Kausalität Gottes zum Empfänger seines Wortes, sondern entsteht durch die Bemessung seines Dienstes, durch die Begrenzung seiner Funktion. Nicht alle Boten Gottes haben dieselbe Pflicht; darum haben sie auch ein verschiedenes Vermögen. Hier gilt aber die von Paulus formulierte Regel, daß ein Glied, das eine geringere Funktion besorge, deshalb doch ein Glied des Leibes sei. Der Inspirationsvorgang ist ein schöpferisches Geben Gottes, also ein in sich vollendeter Akt, von dem sich Abstufungen nicht aussagen lassen. Ob er wenig oder viel gibt: Gott ist der Gebende.

Synergistische Vorstellungen, die das menschliche „Wirken neben das göttliche setzen und dieses von jenem abhängig machen, sind hier nicht anwendbar; denn die Wirksamkeit Gottes steht nicht neben der menschlichen Tätigkeit, sondern über und vor ihr und ist für sie die Ursache, aus der sie entsteht.

Psalm 19 drückt einen einfachen Gedanken aus; darf man aber die Wirkung des Geistes, die ihn erzeugt, schwächer heißen als z. B. die, die in Römer 8 die Formulierung des vollen christlichen Glaubens geschaffen hat? Braucht es mehr Geist, um angesichts des Christus Gott anzubeten oder angesichts des Aufgangs der Sonne? Zu beidem war die Befreiung des Blicks von der Gebundenheit an die Welt nötig, dort die Befreiung vom Baal, durch den die Anbetung auf die Sonne selbst gerichtet wird, hier die Befreiung vom Anstoß, den Jesu Kreuz und seine Verachtung durch Israel schufen. Hier und dort ist die Erkenntnis Gottes sein eigenes Werk, ein Geschenk, das durch die Schöpfermacht seiner Gnade in den Menschen tritt. Aber der Dienst, den uns dieser und jener Abschnitt leistet, ist nicht derselbe; denn der, der uns den Christus zeigen kann als den Geber des Geistes und der Gerechtigkeit, zeigt uns mehr als der, der uns die Sonne als den Boten Gottes beschreibt. Der „Prediger“, der schwer Leidende, der nur noch die Furcht Gottes hat und alle menschlichen Werte auf nichts reduziert, tut uns nicht denselben Dienst wie etwa der Brief des Johannes, der uns die vollendete Freude und Liebe beschreibt. Ist aber dort eine schwächere Wirkung Gottes als hier geschehen? Auch um die Leere des menschlichen Daseins zu sehen und doch Gott nicht zu verleugnen, bedarf es der Gegenwart der allmächtigen göttlichen Gnade beim menschlichen Geist9).

Der Einheit der Schrift in ihrem Grund entspricht die Einheit in ihrem Erfolg. Von jedem Punkt aus, an dem wir sie erfassen, werden wir in ihr Ganzes geführt. Sie erweckt mit der einen Funktion in uns auch die anderen, die zusammen das Vollmaß der göttlichen Gabe ergeben. In den einzelnen Lebensläufen mag sich das oft langsam vollziehen und durch mancherlei Schwierigkeiten aufgehalten werden; die Kirche hat gleichwohl die deutliche Erfahrung gemacht, daß ein aufrichtiger Anschluß an die Schrift nicht auf einen ihrer Teile beschränkt bleibt, wie sich auch die Entfernung von einem ihrer Teile nicht auf diesen allein beschränkt. Ihre Leitung führt uns, sowie nur irgendwo der Anschluß an sie vollzogen ist, in das Ganze der göttlichen Gnade ein.

Die Autorität der Schrift

Mit dem Satz, der den Geist den in der Schrift Redenden nennt, ist die Beziehung beschrieben, in der sie zu Gott steht; aus ihr ergibt sich ihre Autorität, womit wir ihr Verhältnis zu uns ordnen. Die, die Gott sendet, sind dadurch die Träger eines Amts, das sie über die setzt, die durch sie zu Gott berufen und zur Gemeinde vereinigt werden, und weil hier das Amt durch Gott entsteht und durch den Geist verliehen wird, ist ihre Autorität vollständig. Das richtige Verhalten besteht für uns somit darin, daß wir unser Denken und Wollen für die Schrift öffnen, ihr glauben und gehorchen. Gebrochene Formeln, die der Schrift nur eine halbe Autorität zuschreiben und uns bloß einen halben Glauben und Gehorsam gegen sie zumuten, entsprechen nicht dem vor uns stehenden Tatbestand; alle gebrochenen Formeln sind beseitigt, sowie uns durch die Schrift die göttliche Wahrheit und Gnade vermittelt wird, und das tut sie so gewiß, als sie uns den Christus zeigt.

Dadurch ist aber auch der Autoritätsbegriff, mit dem wir unser Verhältnis zur Schrift ordnen, dagegen geschützt, daß er nach dem eigensüchtigen Herrscherwillen des Menschen bestimmt werde. Mit der alten Inspirationslehre war diese Verkehrung des Autoritätsbegriffs untrennbar verbunden; wie sie durch die Aussagen über das Wirken des Geistes die Gnade Gottes bestritt, so dachte sie auch bei der Herrschaft der Schrift nur an die Machtübung. Aber nur dann, wenn wir der Autorität der Schrift in der göttlichen Gnade ihren Grund und ihre Regel geben, ist sie schriftgemäß bestimmt und so gefaßt, wie sie sie für sich beansprucht und ausübt. Die falsche, zur herrischen Sucht verdorbene Autorität übt ihre Macht gegen uns aus, uns zur Bindung und Verarmung; die echte, aus Gott stammende Autorität begründet sich dadurch, daß sie belebt und kräftigt, und gewinnt durch ihre Gabe ihr Recht an uns und ihre Macht über uns.

Fleischlich ist die Autorität der Schrift verstanden, wenn ihr Wort uns als Ersatz für unsere Erkenntnis dienen soll, so daß wir selber nichts von Gott wissen, aber den Bibelspruch nachsagen und, statt zu erkennen und anderen zur Erkenntnis zu helfen, bloß zitieren. Göttlich ist die Autorität der Schrift, weil sie uns das Mittel darreicht, durch das wir selber Gottes Regierung sehen. Fleischlich ist die Autorität der Schrift mißbraucht, wenn wir uns zu einem Gehorsam gegen sie zwingen oder zwingen lassen, der keine Begründung in uns hat, sondern in einer blinden Unterwerfung unter ein fremdes Gebot besteht. Göttlich ist ihre Autorität deshalb, weil sie uns zum eigenen guten Willen hilft, durch den wir Gott und den Nächsten dienen. Darum ist die Ausbildung derjenigen Funktionen, durch die wir uns das Schriftwort aneignen, sowohl die der Beobachtung als des Urteils, niemals eine Schädigung ihrer Autorität, sondern sie verlangt von uns diese Arbeit, macht sie uns zur Pflicht und befähigt uns für sie. Der Schriftgebrauch des alten Protestantismus war in dieser Richtung nicht normal; denn das nur nach Ruhe verlangende Streben hat sich auch hier vorgedrängt. Gottes Geist soll den Menschen zur Ruhe bringen, wie den Schreibenden, so auch den Lesenden. Er hat nur zu hören. Das Wort wird zeitlos gemacht, ist also unmittelbar zu ihm geredet, so daß er sich sofort unter dasselbe glaubend zu beugen hat. Das Urteil, das erst durch eine verstehende Vermittlung hindurch die Aneignung des Schriftworts vollzieht, weil es im Vergangenen das Gegenwärtige und im Menschlichen das Göttliche erkennen muß, wird nur als Erschwerung des Glaubens empfunden und möglichst beschränkt. Die Führer der Reformation, Luther und Calvin, haben die Nötigung, ein Urteil zu bilden, in sich erlebt und, da sie die befreiende Macht des Glaubens erfahren haben, auch den Willen und das Vermögen zum Urteil besessen. Ihre Genossen und Nachfolger waren aber schwächer; nun überwiegt die Gebundenheit. Aber durch die Lähmung der aneignenden Funktionen entgeht uns die Schrift und wird zum toten Besitz, der kein Eigentum herstellt, weder im Erkennen noch im Wollen. So wird die Autorität der Schrift gebrochen, da sie so nicht mehr als Autor und Urheber unserer Lebensbewegung an uns wirksam werden kann. Die Beugung, in die sie uns sich gegenüber versetzt, ist nur dann normal, wenn sie mit der Anspannung der Energie, die nach ihr greift, verbunden ist.

Wenn wir im Glauben nur die Versetzung in die Ruhe suchen, so entsteht die Unfähigkeit zur kritischen Arbeit, die immer und notwendig ein Widerspruch gegen die Autorität der Schrift sein soll10). Die Kritik der Bibel wird aber auf zwei Stufen zu unserem Beruf, als historische und als dogmatische Kritik. Die historische Kritik stellt das Verhältnis der biblischen Aussagen zu dem sie formenden Geschichtslauf fest. Indem wir uns ihren Ort in der Geschichte verdeutlichen, machen wir uns klar, wie weit ihre Wahrheit reicht und wo sie endet, welche Geltung der uns beschäftigenden Aussage zukommt und welche ihr nicht zukommt. Wir brauchen aber auch dann ein messendes Urteil, wenn wir das Schriftwort auf uns selbst beziehen; da muß wieder festgestellt werden, was es im Verhältnis zu der uns selbst gestaltenden Geschichte bedeutet, und das Urteil ist auch hier nach seinen beiden Zweigen zu entfalten, so daß wir uns sowohl verdeutlichen, wenn und warum das Schriftwort für uns gilt, als wann und weshalb es nicht für uns gilt11).

Diese Arbeit wird oft zweckwidrig und schlecht besorgt. Die historische Kritik erzeugt willkürliche Gebilde, setzt an die Stelle des Geschehenen Vermutungen und bedeckt die Schrift mit wissenschaftlichen Dichtungen. Die dogmatische Kritik ist von der Gefahr begleitet, daß das Urteil durch unseren falschen Willen bestimmt sei und die Geltung der Schrift gerade da außer Kraft setze, wo der Gehorsam gegen sie für uns die dringende Wichtigkeit hätte. Dann haben wir uns, vielleicht ohne Einrede gegen ihre Autorität, vielmehr zusammen mit ihrer theoretischen Anerkennung, die Überordnung unseres Dogmas über das Schriftwort erlaubt. Die Tatsache ist offenkundig, daß sich die Christenheit beständig durch Auflehnung und Kampf gegen die Schrift verfehlt.

Wir überwinden jedoch die Gefahr, die aus der auf das Verständnis der Schrift gerichteten Arbeit entsteht, nicht dadurch, daß wir die Arbeit einstellen. So ginge uns die Schrift vollends verloren und würde, wenn auch vielleicht formell verehrt, tatsächlich aus der Reihe der uns bestimmenden Beweggründe ausgeschlossen. Um das Schriftwort in uns zu empfangen, müssen wir es hören, und dies so, daß wir im Hören unterscheiden lernen zwischen dem, was wir zu bejahen haben, und dem, was für uns entweder überhaupt vergangen oder jetzt noch nicht verwendbar ist.

Da aber diese Arbeit dazu geschieht und dazu unerläßlich ist, damit wir mit begründetem Glauben und freiem Gehorsam das Schriftwort in uns tragen, ist sie keine Schmälerung, vielmehr die Anerkennung ihrer Autorität. Dazu ist nur erforderlich, daß der die Kritik leitende Wille darauf ziele, die uns von der Schrift angebotene Gabe in unseren Besitz zu bringen, und nicht darauf, uns von der Schrift zu befreien12).

Da die Geltung der Schrift auf ihrem Inhalt beruht, empfängt sie ihre Autorität nicht durch uns, weder durch den einzelnen noch durch die Kirche, sondern unsere Pflicht ist, anzuerkennen und für uns wirksam zu machen, was uns mit der Schrift gegeben ist. Die Einrede, die Kirche sei älter als der Kanon und der Kanon durch die Kirche geworden, setzt die Grundlosigkeit der von der Schrift beanspruchten Autorität voraus. Allerdings kann der Kanon weder entstehen noch bleiben, ohne daß die Kirche ihn als solchen erkennt und braucht. Sie schafft aber nicht sein Herrscherrecht, so wenig, als sie Jesus zum Christus macht oder Gott sein Reich bereitet, sondern sie hat zu erkennen und dankbar zu ehren, was ihr anvertraut ist. Darum läßt sich die kanonische Geltung der Bibel nicht durch eine bloß rechtliche Begründung herstellen, sondern ihr Beweis liegt immer neu in dem, was sie uns gibt. Für den ist sie zum Kanon geworden, dem sie Gottes „Willen zeigt.

Einwände gegen die Autorität der Schrift und die Möglichkeit des christlichen Glaubens

Der Zweifel, ob es überhaupt möglich sei, zur Gewißheit über die Sendung Jesu zu kommen, hat die Festigkeit der Beziehung im Auge, die sich zwischen uns und dem Geglaubten herstellen soll. Dazu sei aber die Überlieferung über Jesus nicht geeignet, weil geschichtliche Überlieferungen nie in einer solchen Gestalt an uns herantreten, daß sie einer sicheren Bejahung fähig seien, und weil uns auch die Jünger Jesu kein fehlloses und vollständiges Wissen über ihn darbieten. Dennoch verlange die Kirche für die Geschichte Jesu eine vollständige Zustimmung und mühe sich mit der künstlichen Erzeugung von historischen Gewißheiten ab; aber alle unsere Versuche, uns über ihn eine Gewißheit einzubilden, die ohne Schwankung wäre, müßten vergeblich sein13).

Der Glaube an Jesus kommt aber dadurch zustande, daß uns Gott als der Wirker seiner Geschichte erkennbar wird. Damit sind ihre menschlichen Wirker und Erzähler nicht beseitigt, sind aber nicht isoliert von Gott, sondern als die Träger des göttlichen Worts und der göttlichen Gnade der Glaubensgrund. Somit stuft sich zwar unsere Gewißheit über das von Jesus Vollbrachte nach der Sicherheit und Deutlichkeit der Überlieferung ab, und in vielen Beziehungen gelangen wir über die Unwissenheit oder über unsichere Wahrscheinlichkeitsberechnungen nicht hinaus. Aber diese Unmöglichkeit, zu einem Urteil zu kommen, trifft nur die natürliche und menschliche Vermittlung des Geschehenen, nicht seine Beziehung zum göttlichen Willen und Werk. Wenn und weil uns diese erkennbar wird, steht über den Schwankungen unseres historischen Urteils ein geschlossenes Ja, das unser Verhältnis zu diesen Ereignissen fixiert und ihnen als den Gott offenbarenden Taten unser Ich erschließt.

Wenn die christliche Verkündigung nicht den Glauben, sondern statt desselben die Richtigkeit unseres geschichtlichen Wissens zur Heilsbedingung machte, dann freilich wäre etwas Unmögliches von uns gefordert und uns eine Bemühung zur Pflicht gemacht, die mit dem uns gegebenen Bericht der Jünger nicht auszuführen ist. Nun ist aber nicht die Richtigkeit unserer Gedanken, die wir uns über Jesus machen, unsere Gerechtigkeit vor Gott, sondern unser Glaube an ihn, d. h. die Weise, wie das, was wir von ihm wissen, sei es viel oder wenig, uns bewegt, und die Anbietung des Glaubens empfangen wir nicht dadurch, daß unser Wissen über Jesus vollendet ist, sondern dadurch, daß uns sein Ziel, das über allen seinen einzelnen Worten, Werken und Erlebnissen steht, wahrnehmbar geworden ist. Heften sich für einzelne oder ganze Generationen an gewisse Teile der Evangelien Zweifel, z. B. an das Wunder Jesu, an seinen Anfang und Ausgang, seine wunderbare Erzeugung und seine Auferstehung, so bestimmt dies freilich die Art und Kraft des ihnen gegebenen Glaubens; versagt ist ihnen der Glaube aber erst dann, wenn ihnen das Bekenntnis Jesu. mit dem er uns sein Ziel kundtut, undeutlich geworden ist. Die Peinlichkeiten, die solche Zweifel begleiten, haben immer die Gefahr bei sich, daß sie uns zu gewaltsamen Gegenmitteln verlocken. Wir sind aber dazu, daß wir unseren Zweifel so behandeln, wie es die Wahrheitsregel von uns verlangt, gerade dadurch befähigt, daß Jesus nicht auf den Zustand unserer neutestamentlichen Wissenschaft, sondern auf unseren Glauben seine Gnade stellt und sie ihm vollständig gibt, auch wenn er so klein wie ein Senfkorn ist14).

Mit der Betonung unserer Unwissenheit, die vieles an der christlichen Überlieferung unsicher macht, verbindet sich der Einwand, daß Vergangenes für uns nie eine ernsthafte Bedeutung erlangen könne. Was hinter uns liege, liege auch unter uns und könne unser Wollen nicht mehr bewegen. So ist es, wenn der Wirker der Geschichte tot ist; dann ist mit ihm auch seine Geschichte der Vergangenheit verfallen. Wenn sie aber den göttlichen Willen vollbracht hat, dann hat sie beständige und unzerstörbare Beziehungen zu jedem Ich und gestaltet sein reales Verhältnis zu Gott und sein Gottesbewußtsein. Jesus hat dafür den Tatbeweis erbracht, daß er unseren Willen und unsere Tat zu begründen vermag, und der absolute Inhalt seiner Aussage macht durchsichtig, warum er mit unvergänglicher Kraft die menschliche Geschichte bewegt.

Die Lage, in der wir uns alle befinden, ist somit die: die „Wirkung Jesu berührt uns durch seine „Worte, die Sakramente, die Bibel, die christliche Gemeinschaft und das kirchliche Amt. Daran entsteht unser Glaube; denn dadurch kommt unsere Berührung mit Jesus zustande.

Der Glaube erhält aber seine Vollständigkeit erst dann, wenn er nicht auf ein Etwas, das von Jesus stammt und von ihm zeugt, sondern auf ihn gerichtet ist. Denn erst mit dem Anschluß an ihn, den Lebenden, erhält der Glaube bewußt und vollständig die Richtung auf Gott. Dingliches reicht zur Offenbarung und Verherrlichung Gottes nicht aus, sondern wirkt zu ihr dadurch mit, daß es der Person als das Mittel für ihr Handeln dient. Der erste Gegenstand der göttlichen Liebe sind nicht Sachen, auch nicht Gedanken, wenn sie von der Person getrennt werden, nicht allgemeine „Wahrheiten oder Gesetze, sondern die Liebe des Vaters gehört dem Sohn, in dem sie die Liebe erweckt, so daß sie sich zur vollkommenen Gemeinschaft vollendet. Er ist deshalb die Gabe, mit der wir Gottes Gnade erleben, und nur er reicht aus, um Gott dargebrachten Glauben zu begründen. Nicht weil wir von Jesus Gesprochenes wissen, von ihm Gebotenes vollziehen oder von ihm hergestellte Dinge besitzen, ist uns die Einsetzung in Gottes Gnade gegeben, sondern weil wir mit ihm, dem ewigen Empfänger und Geber der göttlichen Liebe, verbunden sind. Er wird uns freilich zum Verborgenen, wenn wir die Vermittlungen verschmähen, die uns sein Wirken zutragen. Verachtung seiner Worte, Geringschätzung des Sakraments, Isolierung von seiner Kirche sind mit dem Glauben an ihn nicht vereinbar, da die Schätzung, die wir ihm geben, an dem entsteht, was von ihm stammt und zu ihm beruft. Es ergibt aber einen deutlichen Unterschied, ob unser Glaube sein Ziel in diesen dinglichen Mitteln findet oder durch sie hindurch und über sie empor zum Christus sieht. Nun erst befreit uns unser Glaube, während die Unterwerfung unter die Dinge uns immer beschränkt, weshalb jeder Glaube, der nur auf sachliche Heilmittel gerichtet ist, auch wenn sie die Träger der göttlichen Gnade sind, eine unfrei machende, von außen uns aufgelegte Bindung bewirkt. Der auf die Bibel, auf die Sakramente, auf die Kirche gerichtete Glaube bringt darum eine ängstliche Gesetzlichkeit hervor, solange er nicht im Gnadenmittel die Gnade, damit aber den, dessen Wille die Gnade ist, erfaßt15).

Die Unfehlbarkeit der Schrift

Die Sorge, die die Kritik der Schrift als unfromm meidet, hat ihren letzten, stärksten Grund in jenem Anspruch, der auch an Jesus gerichtet wird und zu dem uns der Gottesgedanke zu berechtigen scheint, daß die Schrift unfehlbar sei und uns deshalb zu keinem anderen Verhalten berufe als dazu, daß wir sie bejahen; jede Verneinung einer Schriftaussage sei in sich schon die Bestreitung ihrer Inspiration und ihres Ursprungs aus Gott. Wie kann das, was Gottes Gabe ist, unvollkommen, wie wir zur Ablehnung und Berichtigung des göttlichen Worts berechtigt sein? Der Glaube, den wir der Bibel schulden, bestehe also darin, daß wir ihr die Unfehlbarkeit Gottes zutrauen. Aber dieser Anspruch gestattet sich wie in der Beurteilung Jesu, so auch in der der Bibel den Streit gegen Gottes Gnade; denn er erfindet eine Offenbarung, die Gott abseits und geschieden vom Menschen enthüllen soll. Eine selche Offenbarung, bei der der Mensch verschwindet, hat uns Gott nicht gegeben wegen des Reichtums seiner Gnade, nicht aus Schwäche, sondern sich zur Verherrlichung. Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, daß er vor uns den Beweis führt, daß er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern daß er Menschen so mit sich verbindet, daß sie als Menschen sein Wort sagen. Nicht der Islam mit seinem unfehlbaren „Buch“ hat die große und reine Vorstellung von Gottes Herrlichkeit, sondern Jesus, der in seinem engen Bewußtsein als der Sohn Gottes lebte und dadurch den Reichtum der göttlichen Gnade offenbarte.

Unfehlbarkeit ist das Merkmal Gottes; sie ist aber nur das Merkmal Gottes und überträgt sich nicht auf die Menschen, die in Gottes Dienst stehen. Nicht die Schrift, sondern der die Schrift gebende und durch sie uns berufende Gott ist unfehlbar. Der Apostel ist es dadurch, daß er von Gott gebraucht wird zu seinem Zweck über die Grenzen seiner Erkenntnis hinweg, so daß Gott nicht trotz seiner Schwachheit, sondern durch sie sein Werk tut. Demgemäß gibt auch, uns die Schrift Unfehlbarkeit nicht so, daß sie uns ein unbegrenztes Wissen gäbe, wohl aber dadurch, daß sie uns in die Verbundenheit mit Gott setzt, der Licht ohne Finsternis ist, und uns auf der geraden Straße zu Gottes sicherem Ziel führt. Darin besteht die Fehllosigkeit der Bibel, daß sie uns zu Gott beruft.

Das tut sie jedoch nicht bloß durch richtige Vorstellungen, als wäre die Berichtigung unserer Gedanken einzig oder zuerst unser Bedürfnis und die Gabe der Bibel, sondern das Erste, was sie will und tut, ist, daß sie den Kampf mit unserem Willen führt, damit er sich Gott ergebe.

Es entstehen deshalb falsche Urteile über die Schrift, wenn sie nur unserem Wunsch, uns Wissen zu erwerben, dienen soll, so daß wir ihre Brauchbarkeit, z. B. die des Alten Testaments oder die der Evangelien, vom Ideal eines Lehrbuches aus abschätzen. Dann werden wir freilich durch das starke poetische Element, das in der alttestament-lichen Überlieferung enthalten ist, verstimmt, ebenso dadurch, daß die Schrift nicht alle Ziele und Objekte, die unser Denken beschäftigen, pflegt, sondern ihr Ziel und ihre Gabe darin hat, daß sie die Gewißheit Gottes am Christus in uns schafft.

Den notwendigen und begründeten Widerspruch gegen die alte Fassung der Unfehlbarkeit der Schrift, die sich vor allem um die Lehre kümmerte, will auch die Formel ausdrücken, unfehlbar sei ihr religiöser Inhalt, nicht aber ihre Aussagen über die natürlichen Verhältnisse. Sie macht mit Recht geltend, daß die natürlichen und historischen Vorstellungen der Bibel eine dienende Bedeutung haben, während ihr Ziel unsere Erhebung zur Erkenntnis Gottes ist, nun aber nicht so, daß sie uns über dem natürlichen Bewußtsein ein Gottesbewußtsein geben wollte, das von jenem abgeschieden und unabhängig sei, während doch Gott am natürlichen und historischen Vorgang offenbar und der Geist im menschlichen Lebensakt wirksam wird. Deshalb ist das Natürliche hier nicht gleichgültig; es dient ja Gott zur Offenbarung; und ebensowenig ist der religiöse Gedanke zeitfrei und unmittelbar für uns wiederholbar; er erhält seinen Inhalt durch die Geschichte und bedarf daher in uns die unserer Geschichte entsprechende Erneuerung.

Einen ähnlichen Dualismus führt auch die Formel, nicht die Bibel sei Gottes Wort, sondern Gottes Wort sei in der Bibel, in den Schriftbegriff ein. Solche Formeln wiederholen die Fehlgriffe in der Deutung Jesu. Während die alte Inspirationslehre monophysitisch16) einen Gottesgedanken handhabt, nach dem der menschliche Akt vom göttlichen Wirken absorbiert wird, ist die Formel „Gottes Wort in der Bibel“ nestorianisch17), da sie ihr eine doppelte Natur zuschreibt, wobei jede neben der anderen und von ihr geschieden bleiben soll. In Wirklichkeit sind auch die reichsten Worte der Bibel geschichtlich begründet, und andererseits hat das, was uns vielleicht als sehr belanglos und vergänglich erscheint, im geschichtlichen Prozeß seine wichtige Funktion gehabt und war an seinem historischen Ort der Träger reicher geistlicher Kraft18).

Wir geben deshalb der Schrift die ihr gebührende Ehre noch nicht, wenn wir die Begrenzung des biblischen Gedankens zum Gegenstand der Apologetik und Entscheidung machen, etwa so, daß der Begriff der Zulassung auf sie angewendet wird; Gott habe es zugelassen, daß z. B. der Schöpfungsbericht keine fehllose Naturwissenschaft lehre oder der Bericht über Israels Auszug aus Ägypten uns den Hergang nur noch undeutlich erkennen lasse. Zweifellos ist die Beschattung des Bewußtseins Schwachheit; aber auch die menschliche Schwachheit dient der Regierung Gottes und seiner Verherrlichung. Von Zulassung ist nur der Bosheit gegenüber zu sprechen; wird dagegen diese Formel auch auf die Schwachheit und den Irrtum ausgedehnt, so wird der Wille der Gnade verdunkelt. Das Menschliche ist für Gott nicht bloß die geduldig getragene Last, nicht nur die hemmende Schranke, die vorerst noch nicht abgebrochen wird, sondern der Mensch ist von Gott geschätzt, gewollt, geliebt samt seiner Schwachheit. Mit allen Dunkelheiten seines historischen Rückblicks und seines prophetischen Vorblicks ist der biblische Erzähler der Diener Gottes, der die Erinnerung an ihn erweckt und seinen Willen kundtut. Tut er es nicht als der Wissende, so tut er es als der Träumende. Versagt sein Auge, so tritt die Phantasie ein und füllt notdürftig die Lücke, und auch so leitet er die göttliche Gabe weiter, die in den Geschichts-lauf eingetreten war, und macht sie für die Späteren fruchtbar. Daß er nicht nur als der Wissende und Denkende, sondern auch als der Dichtende und Träumende Gott zu dienen hat, ist darin begründet, daß er Mensch ist und wir Menschen den Übergang vom Denken ins Dichten nicht stillstellen können; diese Forderung streitet gegen das uns gegebene Lebensmaß.

Wir freilich haben nicht mit ihm zu träumen, dann, wenn uns durch das uns gegebene Wissen erkennbar ist, daß er träumt. Die Gleichgestaltung unseres Bewußtseins mit dem des biblischen Mannes bedeutet in diesem Fall seine gewaltsame Verbindung, wodurch wir aus der Autorität der Schrift eine Gewaltherrschaft machten und an ihr nicht mehr Gottes Gabe, sondern eine uns knechtende Fessel hätten. Unsere angebliche Schrifttreue schlüge dadurch im entscheidenden Hauptpunkt in die Verkennung des göttlichen Willens um, der uns die Schrift gegeben hat.

Um uns dieses Zusammensein von Kraft und Schwachheit, von Licht und Dunkelheit in der Schrift zu verdeutlichen, können wir an den Unterschied zwischen der Schöpfung und der Erhaltung denken. Die Empfänger eines göttlichen Berufs erhalten eine neue Gabe, die sie über die ihnen vorangehende und nachfolgende Gemeinde stellt. Ein schöpferischer Akt Gottes rüstet sie aus. Aber ein Teil ihres Bewußtseins steht gleichzeitig in Einheit mit dem, was ihnen vorangeht und um sie her besteht. Dahin gehören z. B. bei den Propheten nicht nur ihr Naturbild und die geschichtliche Tradition, die sie über die Vorzeit haben, sondern auch ein großer Teil der Vorstellungen, mit denen sie von der Gegenwart aus das Endziel Gottes benennen. Diese Zusammenhänge, die den Träger des göttlichen Worts mit seiner Zeit verbinden, werden durch das Wirken des Geistes in ihm nicht zerrissen, vielmehr gestiftet. Denn sie sind ihm unentbehrlich, weil dadurch die Gemeinschaft entsteht, die den Boten Gottes mit denen verbindet, die ihn hören sollen. So bleibt er ihnen verständlich und sie ihm, und es entsteht so Geschichte als ein zusammenhängender Lebensprozeß. Aber dieses das Vorhandene bewahrende Gestalten, das den Empfänger des göttlichen Worts mit seiner Umgebung in Verbindung erhält, hat zugleich einen schöpferischen Akt in sich, der ihn zum Erreger einer neuen Bewegung macht.

Die Wahrnehmung, die unseren Gebrauch der Schrift zu ordnen hat, ist die, daß sie sich in ihrer geschichtlichen Art und Bestimmtheit als die göttliche Gabe bewährt, durch die uns Gottes Wahrheit und Gnade vermittelt werden. Dadurch, daß sie uns zu Gott hinwendet und uns in seine Gemeinschaft stellt, verschafft sie uns die Leitung des Geistes, der in die ganze Wahrheit führt, und tut uns ihre Unfehlbarkeit kund, die darin besteht, daß sie uns zum Unfehlbaren bringt, zu Gott.

Die Verständlichkeit der Schrift

Die aus der Reformation entstandenen Kirchen begründeten den Glauben jedes einzelnen auf die Bibel und machten es deshalb jedem zur religiösen Pflicht, daß er selber in der Bibel Gott vernehme und an ihr die Regel für sein Handeln habe. Mit der Pflicht mußte auch ihre Erfüllbarkeit behauptet werden. Daher hat der alte Protestantismus eifrig gesagt, jeder könne die Schrift verstehen, jeder sie brauchen; bleibe sie für ihn unwirksam, so sei das nur seine Schuld.

Der starke Gegenstoß dagegen ging nicht nur von der theologischen Arbeit aus, für die sich die Aufgabe, anzugeben, was in der Bibel stehe; in immer neue, ungeahnte Probleme zerlegte, sondern auch die Gemeinde empfand es lebhaft als schwer, sich in das Schriftwort hineinzudenken, und brauchte deshalb lieber und leichter andere religiöse Unterweisung. Der historische Charakter der Bibel ergab diese Schwierigkeiten, da er sie für alle Späteren nicht mehr ganz verständlich macht, und ihre undurchdringliche Eigenart wird allen ihren Lesern in abgestuftem Grad je nach ihrem Sehvermögen fühlbar. Die historischen Schwierigkeiten erschweren aber auch den dogmatischen Gebrauch der Schrift, für den ebenfalls eine Arbeit notwendig wird, die nicht jedem gelingt. Wir müssen alle lernen, um die Schrift gebrauchen zu können, und damit treten Unterschiede und Abhängigkeiten ein, die die reformatorische Anweisung: „Lies die Bibel, so weißt du, woran du mit Gott bist“, begrenzen.

Unausführbar wird das reformatorische Schriftprinzip dann, wenn der einzelne für sich ohne die Hilfe der Gesamtheit seinen Verkehr mit der Schrift herstellen soll. Wir sind sowohl bei der geschichtlichen Deutung der Bibel als bei der Aneignung dessen, was sie uns zur Erweckung unseres Glaubens und unserer Liebe gibt, auf die Hilfe der anderen angewiesen, empfangen sie aber auch. Es wäre Einbildung, wenn wir uns mit der Vorstellung quälten, wir allein läsen die Bibel. Die Kirche liest sie und gewinnt in gemeinsamer Arbeit ihre Fähigkeit, sie zu verstehen und zu gebrauchen. Darin besteht die Wahrheit des katholischen Satzes, daß die Bibel der Besitz der Kirche sei.

Erschreckend wirkt diese Tatsache nur dann, wenn eine irreligiöse Schätzung der Kirche vorliegt, die oft mit der alten Inspirationslehre zusammengeht; die Kirche bestehe aus Menschen; von Menschen zu lernen, zieme uns nicht; in der Schrift rede dagegen einzig Gott. Aber der Unterschied zwischen den Boten Jesu und der späteren Kirche bekommt eine falsche Formulierung, wenn wir sagen, die Kirche bereite uns die Not und Gefahr, die an der Abhängigkeit von den Menschen hängt; an der Schrift hätten wir dagegen den Segen der unmittelbaren Berührung mit Gott. Als Glieder der Kirche reden die uns Lehrenden im Dienste Gottes zu uns und werden für uns zu Trägern einer göttlichen Gabe; andererseits bringt uns auch die Schrift so in Berührung mit Gott, daß sie uns auf die von ihm berufenen Menschen hören macht.

Der Schutz gegen eine knechtende Abhängigkeit vom kirchlichen Unterricht, mag er von den Pflegern der Wissenschaft an den Universitäten besorgt werden oder sich uns in der Predigt und erbaulichen Literatur als geistliche Unterweisung anbieten, ist allen dadurch verschafft, daß sie sich den Zugang zur Bibel erwerben können. Dadurch, daß wir uns den Verkehr mit ihr ermöglichen, ist uns gegenüber allen Betätigungen der Kirche Selbständigkeit verschafft, da wir so mit eigenem Wissen ihren Grund, den Christus und sein Wort, kennen. Wir haben den Dienst der Kirche nicht dazu zu benutzen, um uns die Schrift entbehrlich zu machen, sondern dazu, um uns ihren fruchtbaren Gebrauch zu verschaffen, und es bleibt die Pflicht der Kirche, daß sie ihre eigene Arbeit bewußt und keusch diesem Ziele unterordne. Eine theologische Wissenschaft, die von der Schrift wegführt, ist für die Kirche ein Unglück und eine Verschuldung, und dasselbe gilt von einer Erbauungsliteratur oder Predigt, die sich als Ersatz für die Schrift über sie stellt.

Die Schrift und das Wort der Kirche

Die Überordnung der Schrift über das Wort der Kirche, die sie allein als unentbehrlich, alles andere dagegen als entbehrlich beurteilt, ist in der Einzigkeit und Unersetzlichkeit des Christus begründet, mit dem uns nichts als die Schrift in Verkehr bringt. Alle Beziehungen zum erhöhten Christus haben ihren Grund und ihr Maß am irdischen Werk Jesu. Keine geistliche Gewißheit des Erkennens und Kraft des Handelns kann die irdische Arbeit Jesu ersetzen; sie versieht uns fürimmer mit dem Kanon, an dem wir zu messen haben, wie weit das, was uns bewegt, aus dem Geiste Gottes stammt.

Daraus folgt jedoch nicht, daß in der Kirche kein Gedanke und keine Handlung berechtigt sei, die das Neue Testament nicht schon enthält. Denn die Kirche besitzt ein Eigenleben, das durch ihren geschichtlichen Ort seine Gestalt bekommt. Wir müssen heute das sagen, was uns heute von der göttlichen Regierung erkennbar ist, und heute das tun, wodurch wir der göttlichen Gnade an den Menschen unseres Geschlechts dienen19). Wenn die Kirche nur das Neue Testament aufsagen wollte, würde sie ihren Beruf versäumen; denn so würde sie leugnen, daß Christus sie heute regiert, und dies so, daß sie durch ihn in der Leitung des heiligen Geistes steht.

Offenbarung sagte der alte Protestantismus, sei dies jedoch nicht; Gottes Offenbarung sei vollendet mit der Schrift. Der Satz ist zweideutig. Daß die Kirche nicht über den Christus hinauswächst und sich nicht von ihm löst, ist gewiß, so lange sie weiß, was sie bekennt, wenn sie Jesus den Christus nennt. Aber auch die Kirche führt ihr Leben nicht in der Geschiedenheit von Gott, sondern in seiner Gnade, die ihr das Wort so darreicht, wie sie es braucht. Gottes Gnade leuchtet auch heute über unserem Denken und gibt ihm die Wahrheit, die unserem Sehvermögen entspricht, und begnadet unseren Willen, damit wir das tun, was jetzt die Not der Zeit verlangt und die Kraft der Zeit zu leisten vermag20).

Die Unbeweglichkeit der Kirche beruht auf der Unvergänglichkeit des Amtes Jesu. Sie hat in ihm den Herrn, von dem sie abhängt „alle Tage bis an das Ende der Welt“. Aber darauf beruht zugleich ihre Beweglichkeit, denn sie hat Gott nicht nur in der Vergangenheit, sondern einen gegenwärtigen Gott, und nicht ein verstorbenes, sondern ein lebendes Haupt. Darum bewegt sich nicht nur der Lebenslauf der einzelnen, sondern auch die Gemeinschaft; sie behält aber, da ihre Bewegung von einem Punkt aus erweckt und geleitet wird, in der lebhaftesten Beweglichkeit zugleich die Beharrung und in der Mannigfaltigkeit ihrer Bildungen die Einheit, die ihr so lange und so weit gesichert ist, als das Wort Jesu und seiner Boten ernsthaft ihr Kanon ist.

1)
Die Hegeische Lehre suchte den Wirker der Geschichte im Gedanken, der sich selbst bewege und mit reicherem Inhalt fülle; aus dieser Bewegung der Ideen sollten dann die einander folgenden Stufen der Geschichte entstehen.
2)
Erwäge, was Matthäus als Heuchelei hinstellt und wie er sie beurteilt, sodann Joh. 3,19—21; 8,32; 14,17. 1. Joh. 1,5—8. Rom. 1, 18; 2,8. Jak. 1, 18. 1. Petr. 1, 22.
3)
Auch in den evangelischen Kirchen nähert sich dieser Gedanke denen leicht, die sich gegen die Profanation unseres kirchlichen Amtes wehren; z .B. Vilmar, Die Theologie der Tatsachen wider die Theologie der Rhetorik, 1816. Dort wird die Erkenntnis, daß das christliche Amt in allen seinen Formen darauf beruhe, daß Jesus seine Jünger als seine Boten ausgesandt hat, in den Satz umgesetzt, daß die Pastoren die Nachfolger der Apostel seien. Er kommt mit den Tatsachen dadurch in Streit, daß er das Pastorat von der Gemeinde isoliert. Weil und soweit die Gemeinde das Werk der Apostel ist, ist es auch ihr Amt, weiter nicht. Vgl. Schlatter, Werden der Kirche, Freizeiten-Verlag, S. 27 ff.
4)
Vgl. S. 68 ff.
5)
Das gläubige Motiv, das die alte Inspirationslehre bestimmte, bewirkte, daß sie ohne Wandlung, sogar noch verstärkt, durch die Reformation durchging. Ihre Verstärkung entstand deshalb, weil sich das Bußwort nur dann an die Kirche richten ließ, wenn es an dem von ihr als heilig verehrten Kanon seinen Grund und Beweis besaß. Darum wurde die Autorität der Schrift nie so ernsthaft gehandhabt wie in dem durch die Reformation erzeugten kirchlichen Kampf. Dieser Gedankengang wurde noch dadurch gestärkt, daß die Reformation ihr Ziel in der Begründung des Glaubens hat, den sie von der Kirche weg zum Christus und zu Gott wendet. Deshalb richtet sie ihn einzig auf die Schrift
6)
Es wird oft nachdrücklich hervorgehoben, daß für die evangelische Christenheit die Regelung ihres Verhältnisses zur Schrift gegenwärtig eine Lebensfrage sei. Dies trifft deshalb zu, weil die die Herkunft der Schrift beschreibenden Formeln zugleich auch ihren Gebrauch normieren. Neben der vorchristlichen Inspirationslehre stand ein regierender Lehrstand, sei es ein Rabbi-nat, eine Priesterschaft oder eine theologische Fakultät, die die richtige Deutung der Schrift besorgte; neben dem Inspirationsbegriff der Apostel stand die Gemeinde, der sie das Wort in der Überzeugung sagten, daß der Geist, in dem sie reden, auch in ihr wirksam sei; neben der Formel, die die Schrift als eine Sammlung historischer Dokumente beschreibt, steht der auf Geist und Glauben verzichtende Historiker, der die von der Schrift berichteten Vorgänge auf das, was immer und überall geschieht, zurückleitet. Das gibt dem weitverbreiteten Urteil Wahrheit, daß das Urteil über die Schrift zugleich die Entscheidung der Kirche in sich trage
7)
Wenn Paulus sein Wort Gottes Kraft zur Rettung für jeden Glaubenden nennt und es zum versöhnenden Wirken Gottes rechnet, daß ihm das Wort der Versöhnung übergeben sei, Rom. 1, 16; 2. Kor. 1, 19, so denkt er nicht an einen in seinen Worten verborgenen Stimmungswert, sondern genau an das, was er sagt. Ebenso ist's, wenn uns Gott durch das Wort der Wahrheit Leben verleiht, Jak. i, 18, oder wenn Jesus von seinem Wort den Anteil an der Herrschaft Gottes abhängig macht, Matth. 7, 24; 13, 3 ff., nicht ein vom Wort trennbarer Inhalt als das Gnadenmittel gewertet, sondern das zur Aussprache gelangte Wort in seinem vom Hörer vernommenen Bestand trägt ihm die göttliche Gnade zu.
8)
Vorrede zu Jakobus E. A. 63, 157
9)
Vgl. Schlatter, Briefe über das Christliche Dogma, Berteismann, 1912, Abschnitt: Inspiration. S. 67 ff
10)
Der normale Verkehr mit der Schrift wird uns durch die verworrenen Beschreibungen des Glaubens wesentlich erschwert. Wird die Regel, daß der Glaube die Erkenntnis begründe, dahin mißdeutet, daß für den Glauben die Begründung unmöglich oder unnötig sei, so wird die Benützung der Schrift unvermeidlich willkürlich, abwechselnd servil und anarchisch. Für jenes gibt der Pietismus, für dieses der Liberalismus die Belege. Vgl. Schlatter, Christliche Ethik, 2. Aufl., S. 71—73. 185. 188. 214. 217. 227. 258. 263
11)
Die dogmatische Kritik ist entstellt, wenn sie mit der Beschwerde gegen die göttliche Regierung und der Anpassung seines Wortes an unsere „Wünsche zusammengebracht wird. Daß wir uns verdeutlichen, wann und wie weit das den Propheten und Aposteln Gegebene auch für uns Wahrheit und Geltung hat, ist eine unentbehrliche Voraussetzung für unsern Gehorsam. Versäumen wir diese Arbeit, so tritt an die Stelle des Gehorsams die Nachahmung, die, indem sie tun will, was David oder Paulus taten, das nicht tut, was wir heute zu tun haben. Ein grelles Beispiel, wie die kritiklose Schrifttreue den Schriftinhalt verlieren kann, war das Zungenreden der „Pfingstleute“.
12)
Vgl. die gründliche Arbeit von E. Weber, Historisch-kritische Schriftforschung und Bibelglaube, 2. Aufl. Leipzig, Deichen.
13)
Vgl. Girgensohn, Der Schriftbeweis in der evangelischen Dogmatik, Leipzig, Deichert. ,t
14)
Vgl. die Literaturangaben S. 160
15)
Der Unterschied zwischen dem Protestantismus des 17. Jahrhunderts und der Reformation wird an den Definitionen des Glaubens deutlich sichtbar, wie sie z. B. Heppe in seiner Dogmatik der reformierten Kirche zusammenstellte. Eine Definition wie die: „Der Glaube ist die Zustimmung, durch die die von der Heiligen Schrift überlieferten Dinge angenommen werden“, drückt das nicht mehr richtig aus, was die Formel „an die Bibel glauben“ meint. Diese entspricht dem Ursprung der Bibel aus dem Geist Gottes und ihrem Zweck, uns in seine Gnade zu führen; wenn sie aber sagen soll, daß der Glaube einzig das Buch, nichts über ihm, zu seinem Gegenstand mache, so wird dem Zeugnis der Schrift der Glaube versagt. Der der Schrift gehorsame Glaube ist Glaube an Gott.
16) , 17)
Die Monophysiten lassen die menschliche Natur Jesu in seiner Gottheit verschwinden, die Nestorianer setzen die menschliche Art Jesu neben seine Gottheit.
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Der Neigung, aus Jesus einen idealen Menschen zu machen, entspricht die Beschreibung der apostolischen Kirche als der idealen Gemeinde und die Begründung der Autorität der Schrift auf den Satz, sie entwerfe das unveränderliche Urbild des Christentums; vgl. z. B. K. J. Nitzsch, Praktische Theologie 1, 180. Aber gerade die geschichtliche Bestimmtheit gibt dem Schriftwort die kausale, zum Herrschen berufene und befähigte Kraft.
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Wird der Zusammenhang zwischen dem Denk- und dem Lebensakt wahrgenommen, so ist die Vorstellung von einer Lehre, die unbeweglich übenden Zeiten schwebe, beseitigt. Sie ist eine schwere Bürde, mit der der griechische Rationalismus die Kirche belastet hat. Tritt der Satz, daß die Kirche jede Dogmatik rasch wieder überschreite, als Klage oder als Paradoxie auf, die auf einen rätselhaften Vorgang hinweisen will, dann befindet sich die Fabel von der reinen Vernunft und ihren ewigen Wahrheiten immer noch in der Nähe
20)
Vgl. den Abschnitt über den Schriftbeweis Seite 260ff. und die wertvollen Abhandlungen von M. Kahler in der Sammlung: Dogmatische Zeitfragen, Bd. I: Zur Bibelfrage, Bd. II: Angewandte Dogmen, Bd. III: Zeit und Ewigkeit, Deichen, mit ihrem tiefgründigen Schriftbeweis.
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