Schlatter, Adolf - 22. Der Schriftbeweis

Beweisen heißt Gewißheit begründen. Von zwei Seiten her wird uns diese Aufgabe gestellt. Einmal ist die Gewißheit für uns selbst ein unentbehrliches Bedürfnis. Denn wir handeln nicht richtig, solange wir innerlich entzweit sind und mit uns selber streiten. Richtig wird unser Entschluß nur, wenn wir die innere Zersplitterung überwunden haben. Daß aus unserem Denken Uberzeugtheit und aus unseren Überlegungen Entschlossenheit entstehe, das ist aber für uns oft ein Ziel, das ernste Anstrengung und anhaltende Arbeit von uns verlangt. Wenn wir schwanken, wenden wir uns mit dem, was uns zur Frage geworden ist, an die Schrift und empfangen durch die Übereinstimmung mit ihr die Gewißheit, die uns entschlossen macht und uns das Recht zum Handeln gibt.

Eine ähnliche Aufgabe wächst uns aber auch im Verkehr mit den anderen zu. Wir haben die Gemeinschaft miteinander gewonnen, wenn Einheitlichkeit der Überzeugung und Festigkeit der alle bindenden Normen bei uns vorhanden sind. Was haben wir aber für ein Arbeitsmittel, das die Erinnerung an Gott in den anderen erweckt und ihnen Gottes Willen zeigt, und dies so, daß aus dem von Gott redenden Wort unser gemeinsamer Glaube und aus seinem Gebot unser gemeinsamer Gehorsam wird? Auch hier ist die Schrift dasjenige Mittel, das uns zur Begründung der uns alle einigenden Gewißheit unentbehrlich ist.

Warum kann uns nur die Schrift sowohl für uns selbst als für die anderen die Gewißheit geben? Die Gewißheit, die wir suchen, wird uns nicht schon durch die Natur zuteil und nicht einfach durch die Sinne gewährt. Für viele Handlungen bekommen wir dadurch die Regel, daß uns die Sinne leiten. Dann gehorchen wir der unzweideutigen Führung, die uns die Natur darreicht. Aber diejenigen Fragen, für die wir bei der Schrift die Antwort suchen, erwachsen aus unserem inwendigen Leben. Hier kann aber Gewißheit nur dadurch entstehen, daß wir Gottes bewußt werden. Ein Glaube, der ein gewisses Ja ist und unseren ganzen Willen bewegt, entsteht nur dann, wenn sich das Gottesbewußtsein mit unserer Wahrnehmung vereint. Was uns als Gottes Werk sichtbar wird, dessen sind wir gewiß, und was wir als Gottes Willen vernommen haben, das schließt jeden Widerspruch aus. Der Beweiswert der Schrift beruht darauf, daß sie uns Gottes Wort sagt, und weil es nichts anderes gibt, was uns Gott gegenwärtig und erkennbar macht als sein Wort, deshalb ist die Schrift das unersetzliche Beweismittel der Christenheit. Darum führt jede Kirche und jede Theologie für sich einen Schriftbeweis, jede entsprechend dem sie leitenden Grundgedanken nach ihrer besonderen Art. Dasselbe geschieht in jedem Gespräch über christliche Dinge, in jedem Verkehr, der unsere innersten Anliegen berührt. Immer erscheint irgendwie das Schriftwort als die uns bindende Autorität, durch die uns der Entschluß und die Gewißheit gegeben werden.

Wann bedürfen wir für uns einer Gewißheit, die uns nur durch die Schrift zuteil werden kann? Zuerst dann, wenn unsere Lage uns zum Glauben beruft. Dies geschieht in zwiefacher Weise, einmal dann, wenn wir den gesamten Bestand unseres Lebens überblicken und vor die Frage gestellt sind, wie es mit unserem Verhältnis zu Gott stehe, ob er uns die Wirklichkeit geworden sei, auf die wir alles gründen, was wir sind und tun, wie wir uns zu Jesus stellen, ob er der Mann sei, dem wir uns zum Leben und zum Sterben übergeben wollen. Aber aus der großen Frage, die unser ganzes Leben umfaßt, entstehen beständig in nie endender Reihe die besonderen Anliegen, die uns unsere wechselnde Lage zuträgt. Sie nötigen uns zur Frage, wie wir jetzt in dieser unserer besonderen Lage Gott Glauben halten, was wir jetzt ihm zuzutrauen haben und zum Inhalt unseres Bittens und Begehrens machen dürfen. Alles, was uns zum Glauben beruft, sei es die an alle gerichtete göttliche Botschaft, sei es der Glauben fordernde Anspruch unserer eigenen Lage, treibt uns zum Verkehr mit der Schrift. Denn dann haben wir echte, in Gott begründete Gewißheit gewonnen, wenn wir sie von der Schrift empfangen.

Aber ebenso dringend wird das Verlangen nach dem Schriftbeweis, wenn wir vor der Frage stehen, was wir tun sollen, wenn unser Zustand uns zur Buße beruft, das heißt zur Anerkennung, daß unser Verhalten verwerflich war, und wenn der Gehorsam von uns verlangt wird, der den guten Willen Gottes tut. Auch hier hat die Frage bald umfassende Größe, bald den jetzigen Augenblick erfassende Bestimmtheit. Wir erwägen, ob wir genötigt seien, bei uns und allen anderen von Sünde zu sprechen, das heißt, ob unser Verhalten unter einer völligen Verurteilung stehe, ob es für den schuldig Gewordenen Vergebung und Umkehr gebe, worin wir unsere Gerechtigkeit finden können, womit wir also vor Gott und den Menschen an den richtigen Ort treten, ob es wirklich unser Beruf sei, von uns selbst frei zu werden und nach der Liebe zu begehren, die aus unserem Leben den Dienst für die anderen macht. Alle solche Fragen zwingen uns zum Verkehr mit der Schrift und nötigen uns, sie zu hören, und dann, wenn wir mit ihr eins geworden sind, ist uns der Beweis für die Richtigkeit unseres Urteils gegeben. Aber auch hier zerlegt sich die große Hauptfrage in viele Einzelfragen. Wir haben immer wieder zu erwägen, was hier und jetzt für uns Sünde sei, und wie wir jetzt die Vergebung und die Gerechtigkeit erlangen, was hier und jetzt die Liebe von uns verlange, wie wir jetzt in unserer Lage den Weg Gottes gehen, und immer wieder wird uns die Gewißheit, daß wir Gott gehorchen, dadurch zuteil, daß die Schrift uns unseren Willen gibt.

Die dritte Stelle, an der wir der Schrift bedürftig sind, ist das nach Erkenntnis strebende Verlangen in seiner über den Glauben und den Gehorsam hinausstrebenden Bewegung. Die unserem Geist gegebene Gestalt treibt unser Denkvermögen, aus unseren Gedanken etwas Ganzes zu machen, indem wir sie zur Einheit miteinander verbinden. Wenn wir nur ein Häuflein von Vorstellungen besitzen, die unverbunden nebeneinanderstehen und sich oft gegenseitig bestreiten, empfinden wir dies als Unvollkommenheit, die uns schwächt. Darum sammeln wir unsere sinnlichen Eindrücke in ein Gesamtbild, das wir „die Natur„ heißen, und formen aus den Beobachtungen, die uns die geschichtlichen Ereignisse zutragen, eine „Weltanschauung“, mit der wir uns den stetigen Bestand und Verlauf des menschlichen Lebens verdeutlichen. Wir können aber unsere Gottesgewißheit nicht unverbunden neben unser Naturbild und unsere Weltanschauung stellen, sondern müssen diese mit unserer Gotteserkenntnis vereinen. Dadurch erwerben sich die Kirchen eine „Lehre„, eine „Theologie“, an der jeder Christ in abgestuftem Maß Anteil hat. Bei dieser Arbeit gehorchen wir dem Gesetz, das jede Bewegung unseres Denkens formt, können aber dadurch allein, auch wenn wir unser Denken zur größten Kunstfertigkeit ausbilden, nie Gewißheit erzeugen. Denn diese entsteht nirgends bloß durch die formale Richtigkeit unserer Schlüsse, sondern durch den Zusammenhang, in dem unsere Gedanken mit unserem Erlebnis stehen. Zum Erlebnis wird uns aber Gott nicht dadurch, daß wir in uns selbst versinken, sondern dadurch, daß sein Wort zu uns kommt. Deshalb empfängt jede theologische Lehrbildung die überzeugende Kraft, durch die sie Gewißheit erzeugt, durch ihre Übereinstimmung mit der Schrift.

Die Hilfe der Bibel ist uns aber auch dann unentbehrlich und wird uns auch dann zuteil, wenn wir das an Frucht und Not reiche Arbeitsfeld betreten, das uns der Verkehr mit den anderen verschafft, sei es, daß die Erweckung des Glaubens und der Buße in den anderen das Ziel ist, dem unser Verkehr mit ihnen dient, sei es, daß wir uns durch gemeinsame Überzeugungen und gemeinsam getane Pflicht zur Gemeinschaft vereinen. Dafür ist uns das Schriftwort unentbehrlich, nicht nur weil es heller und stärker ist als unser Wort, auch nicht nur, weil es unserem gemeinsamen Besitz entnommen ist und darum, wenigstens früher, für alle vertraute Verständlichkeit hatte, sondern vor allem deshalb, weil das Ziel des religiösen Verkehrs unerreichbar wird, wenn sich das, was wir den anderen bieten, als unser eigener Erwerb darstellt. Wie wir im Verkehr mit uns selbst deshalb nach der Schrift greifen, damit unsere Meinung nicht nur die unsrige sei und vom Verdacht befreit werde, sie sei ein Geschöpf unserer Wünsche und ein Gebilde unserer Phantasie, so hat es auch im Verkehr mit den anderen die größte Wichtigkeit, daß sich ihnen unser Gedanke nicht als der unsere darstelle und nicht nur aus unserem eigenen Denken und Wollen abgeleitet werde. Wir wollen ja nicht Glauben an uns erwecken oder andere zu unserer Lebensführung bekehren und ebenso unsere Gemeinschaft miteinander nicht darauf begründen, daß unsere Überzeugung die herrschende sei. Jede Verlegung des Ziels in unseren eigenen Besitz ergibt eine gründliche Verderbnis des religiösen Verkehrs. Diese Gefahr ist in dem Maß abgewehrt, als es deutlich ist, daß das, was wir den anderen geben, uns selbst durch die Schrift gegeben ist.

Bei jeder Verwendung der Schrift, durch die wir uns die Gewißheit erwerben, stoßen wir auf diejenige Frage, die im Kampf der Reformationszeit eine weltgeschichtliche Ausprägung erhalten hat. Der mittelalterlichen Kirche hielten die, die ihre Reformation begehrten, die Schrift entgegen als die Autorität, an die sie gebunden sei; ihre Abweichung von der Schrift sei ihre Sünde, und ihre Rückkehr zur Schrift sei ihre Reformation. Diesem Anspruch wurde geantwortet, es sei niemals möglich, die Schrift allein als Beweis zu verwenden, der unserem Denken und Handeln die Gewißheit gebe; freilich sei sie heilig und unentbehrlich; sie gebe uns aber die Leitung nur zusammen mit demjenigen Unterricht, den die Kirche jetzt ihren Gliedern gebe in Eintracht mit der früheren Kirche und ihrer Überlieferung. In der Tat handeln wir nie allein nach der Schrift, weil wir uns in einer anderen Lage befinden als die erste Christenheit. Die Bibel beschreibt uns in allen ihren Teilen Geschichte; vor den wirkenden Gott stellt sie uns, der mit den Menschen verkehrt und ihnen zu ihrer Zeit an ihrem Ort in ihrer bestimmten Lage seine Gabe gibt. Das göttliche Wort, das sie empfingen, bekam seinen Inhalt durch das, was seine Hörer gewesen sind, und zeigte ihnen Gottes Willen so, wie er von ihnen an ihrem Ort in derjenigen Gemeinschaft, in der sie standen, getan werden sollte. Das gab dem Dienst, der ihnen aufgetragen war, Einmaligkeit; wiederholt werden kann er nicht. Genau dasselbe gilt aber auch von uns, sowohl von unserer Kirche als von jedem einzelnen Christen in ihr. Wir sind in unserem Denken und Handeln an unsere Lage gebunden, und jeder Versuch, uns von ihr zu lösen, ist falsch, vergeblich und verderblich; denn er widersetzt sich dem von Gott geordneten Gesetz unseres Lebens. Weil unser Denken und Wollen aus unserem Erleben entsteht, empfangen wir durch unsere Geschichte, die uns an diesen und keinen anderen Ort gesetzt hat, unseren geistigen Besitz und den von uns zu erfüllenden Beruf.

Um den Schriftbeweis zu gewinnen, müssen uns darum immer zwei Erkenntnisse gegeben sein. Das Schriftwort steht vor uns in seiner eigenen Gestalt. Dieses so zu hören, daß es selber zu uns spricht und uns seinen Sinn und Willen enthüllt, ist der eine herrliche und zugleich ernste Teil unserer Pflicht. Der andere Teil derselben ist die Erfassung unseres eigenen Zustandes; wir überblicken das uns gegebene Sehfeld und verdeutlichen uns die uns bereiteten Möglichkeiten. Indem beides vor uns steht, sehen wir, in welchem Verhältnis die beiden Tatbestände zueinander stehen, und nun gewinnen wir den Schriftbeweis dann, wenn wir den Streit zwischen den beiden Erkenntnissen zu entfernen und sie zu einigen imstande sind. Die Einigung erreichen wir aber nur dann, wenn wir dem Schriftwort die Leitung übergeben. Denn das Schriftwort ist nicht beweglich; beweglich sind dagegen wir, unsere Absichten und Meinungen.

In jeder Gruppe der Christenheit, auch in der evangelischen Kirche, geschieht vieles, wovon das Neue Testament nichts weiß. Wir feiern unsere Feste und den Sonntag, obwohl es in der ersten Christenheit keinen christlichen Kalender gab, und teilen die Kirche ein in Geistliche und Laien, während es im Anfang der Kirche einen solchen Unterschied nicht gab. Wir halten unsern Gottesdienst und tun unsere christliche Arbeit in bestimmten Formen, die aus unseren Verhältnissen herausgewachsen sind. Daher ordnen wir unser christliches Verhalten beständig nach zwei verschiedenen Maßstäben; den einen gibt uns die Schrift, den anderen die kirchliche Sitte. Das bringt uns freilich mancherlei Schwierigkeit und Not, ist aber kein verwerflicher, sondern ein notwendiger Zustand. Er macht uns nur das zur Pflicht, daß wir uns dieses Unterschiedes bewußt bleiben und nicht das, was biblisch ist, und das, was kirchlich ist, vermengen. Unheil ist allerdings viel aus der Wertschätzung der kirchlichen Sitte entstanden. So schädigt sich z.B. die katholische Kirche schwer, daß sie das, was die früheren Geschlechter der Kirche sagten und taten, als Gesetz auf die späteren legt. Zuerst machte sie aus der Schrift ein Gesetzbuch und schuf nun dazu noch ein zweites Gesetz, das vielfach mit der Schrift streitet und sie verdrängt. Wenn aber eine Kirche ihre Sitte heiligt und sie über die Schrift hinaufsetzt, macht sie sich unbußfertig, unwillig, sich zu reinigen, und selbstherrlich in der Weise, wie sie ihren Gottesdienst vollzieht.

Für das, was in einer Kirche von der Schrift abweicht, wird der „Schriftbeweis„ dann so geführt, daß auf irgendein Schriftwort mit kecker Forderung und ungehemmter Phantasie ein Schluß aufgebaut wird. An ihrem Anfang hatte die Kirche Apostel; solche müssen wir auch haben. Jesus hat Petrus verheißen, er werde auf ihn seine Gemeinde bauen, und hat diese Verheißung dadurch wahrgemacht, daß Petrus die erste Gemeinde in Jerusalem gesammelt und geleitet hat. Also wollen wir auch einen Petrus haben, der die Kirche mit apostolischer Vollmacht leitet und regiert. Bevor Jesus an das Kreuz ging, gab er seinen Jüngern seinen Leib und sein Blut; also muß sein Leib im Brot unseres Abendmahls verborgen und sein Blut in unserem Becher enthalten sein. Nach Gottes Gesetz war der Sabbat das Kennzeichen des Israeliten; also machen auch wir ihn zu unserem Merkmal. In der ersten Gemeinde verlor das Gebet bei der starken Bewegung des Geistes manchmal die Verständlichkeit; folglich müssen auch wir Beter haben, deren Gebet nur aus Tönen besteht. Im Anfang waren sie ermächtigt, auch wunderbar Heilung zu spenden. Also sei die Christenheit nicht im richtigen Stand, wenn sie der wunderbaren Heilungen entbehrt. Durch solche Schlüsse machen wir uns für das blind, was uns unsere Lage zeigt, und unterlassen die Erwägung, die das uns gegebene Vermögen mißt. Du willst Apostel oder doch der Nachfolger des Apostels sein? Kannst du das? Du willst Wunder tun; ist das, was du in dir trägst, wirklich Glaube? Du willst „mit der Zunge beten“; betest du so? Du suchst den Leib und das Blut Jesu im Brot und im Wein; ist nun dein Blick auf das gerichtet, was Jesu Sakrament seinen Jüngern zeigte? Er schloß ihnen auf, was er am Kreuz für sie und die ganze Welt vollbrachte; siehst du noch zum gekreuzigten Herrn empor, wenn du sein Blut im Abendmahlsbecher suchst?

Nur dann, wenn wir auf die Erfassung der eigenen Lage verzichten, kann uns der Versuch locken, die alt- und neutestament-lichen Vorgänge und Zustände zu wiederholen, Jesus nachzuahmen und die erste Christengemeinde wiederherzustellen. Allein der Verzicht auf dasjenige Eigentum, das uns durch den eigenen Stand unseres Lebens geschenkt ist, ist Untreue, die Gottes Gabe mißachtet und sich der Leitung Gottes entzieht. Diese Untreue wird dadurch gestraft, daß wir unser Denken und Handeln verkünsteln und ihm die Wahrheit nehmen. Wer fremdes Leben zu kopieren sucht, macht aus sich ein Doppelwesen, das ein unüberwindlicher Zwiespalt zerreißt. Dadurch, daß das Schriftwort sich mit unserem eigenen Besitz verbindet, tritt es in die Gegenwart hinein und bleibt nicht eine tote Erinnerung an einst Gewesenes, nun aber längst Vergangenes. Nun «rfassen wir das göttliche Wort so und sagen es den anderen so, wie es heute gesagt werden muß, heute Wahrheit ist und uns heute den von uns zu tuenden Willen Gottes zeigt. Dadurch spricht Gottes Wort in unsere Gegenwart hinein.

Der unechte Schriftbeweis wird immer auch dadurch gerichtet, daß er zur Versündigung führt, weil gleichzeitig anderen Schriftworten der Gehorsam versagt wird. Keinen Bischof hätte die Neigung verführt, der Nachfolger des Petrus sein zu wollen, hätte er auf das gehört, was Jesus denen sagte, die groß sein und herrschen wollen, und keiner hätte um des Sabbats willen die Gemeinschaft mit der übrigen Christenheit zerrissen, wenn er verstanden hätte, was es bedeutet, daß „nicht das Gesetz, sondern die Gnade und die Wahrheit durch Jesus Christus geworden ist„. Ebenso bemüht sich keiner um das unverständliche Gebet, dem das Ohr für die Verheißung Jesu geöffnet ward, daß der Geist, den er den Jüngern sende, „der Geist der Wahrheit“ sei.

Wir führen den Schriftbeweis nicht schon dadurch, daß wir uns auf einen oder auch auf mehrere biblische Sprüche berufen; aber auch dadurch ist seine Richtigkeit noch nicht gesichert, daß wir eine lange Reihe von Sprüchen für uns haben. Es ist sehr wohl möglich, daß uns ein einzelnes Wort in unserem Gewissen ergreift und uns jetzt für diese unsere bestimmte Lage mit leuchtender Klarheit den Willen Gottes zeigt. Wenn wir uns aber aufrichtig an das Schriftwort binden, das jetzt unser Gewissen erweckt, so ist auch die Willigkeit vorhanden, auf die ganze Schrift zu hören. Fehlt sie, wählen wir uns nach unserer eigenen Neigung aus, was Gottes Wort für uns sein soll, so hat sich unser Glaube an die Schrift in Unglauben und unser Gehorsam gegen sie in Ungehorsam verkehrt.

Weil die Schrift nicht über uns hinwegfährt, sondern zu uns spricht, damit wir selbst ihr glauben und mit eigenem Entschluß gehorchen, ist der Schriftbeweis von allem verschieden, was man einen „zwingenden„ Beweis nennt. Die Regel, die sich daraus für unseren Verkehr miteinander ergibt, hat große Wichtigkeit. Zwang gibt es nur im Bereich der Natur, und dort lassen sich in der Tat zwingende Beweise führen; denn die Funktion unserer Sinne tritt mit Notwendigkeit ein und zwingt uns zur Wahrnehmung, sowie das Objekt vor uns steht. Über die göttlichen Dinge entsteht aber die Gewißheit nie durch naturhaften Zwang. Was Gott wirkt, ist Leben, und dieses gibt uns die eigene Bewegung unserer inneren Vermögen, die eigene Wahrnehmung mit dem sie in uns befestigenden Urteil, den eigenen Entschluß in Kraft der Vollmacht, die uns über unser Begehren gegeben ist, den eigenen Glauben und die eigene Liebe, mit der wir uns selbst frei Gott ergeben. Jeder Schriftbeweis ruft deshalb die eigene Tätigkeit dessen an, der zur Gewißheit geführt werden soll. Er rechnet auf das, was im Hörer selbst vorhanden ist, und setzt es in Bewegung, und diese Bewegung bringt nicht nur Gedanken hervor, sondern hat immer auch den Ernst der sittlichen Tat. Die freie, eigene Zustimmung des Hörers läßt sich nie überspringen und nicht durch ein Gebot ersetzen, das nur von außen die Unterwerfung bewirken will.

Nun haben wir auch vor Augen, warum der Schriftbeweis so oft der Christenheit mißlungen ist. Er mißlingt, wenn z. B. in der Predigt der Hörer nur den Pfarrer hört, obwohl dieser für seine Predigt einen Text hat, oder wenn eine theologische Lehrschrift kraftlos bleibt, obwohl sie die Berufung auf die Bibel eifrig übt. Dann mißlang die Unterordnung des eignen Worts unter das Schriftwort, und der Streit zwischen dem „Willen des Redenden und dem Willen der Bibel blieb unversöhnt. Der Predigende sprach aus sich und für sich, und der Lehrende diente eigenen Zielen, z. B. solchen, die seine Kirche ihm vorschrieb, oder solchen, die moderne, eben jetzt gangbare Gedanken ihm zutrugen. Die Christenheit darf sich darum nicht beklagen, wenn ihren biblischen Beweisen oft nur ein Lächeln zur Antwort wird, vielleicht ein bitter spottendes, vielleicht ein mitleidig bedauerndes, das ihr sagt: ihr heißt die Bibel euren Beweis; aber ihr schmückt mit dem Bibelspruch nur eure eigenen Meinungen. Es ist in der Tat ein hohes Ziel und ernstes Unternehmen, daß wir unsere Meinungen und Ziele dem Schriftwort Untertan und mit ihm einig machen. Nicht das verfälscht unser Ziel, daß wir eine eigene Meinung haben, z. B. eine eigene Deutung der Natur oder ein eigenes Geschichtsbild. „Wir sollen sie haben und der uns gezeigten „Wahrheit gehorsam sein. „Wohl aber ist dann unser Schriftbeweis mißlungen, wenn wir die Verbindung unserer Gedanken mit dem Schriftwort so vollziehen, daß sich das Schriftwort ihnen fügen muß.

Daß uns der Schriftbeweis gelinge und wir unser Verhalten wirklich mit dem „Willen der Schrift einigen, dafür ist es unerläßlich, daß wir in der Schrift nicht nur das göttliche Gesetz hören. Das hat oft beides geschädigt, die Aufmerksamkeit, die sich um das Verständnis der Bibel müht, und die Tapferkeit, die die uns selbst gegebene Lage klar erfaßt. Ist denn die Schrift nicht das uns bindende Gesetz? O ja! Sie ist es aber deshalb, weil sie die Darbietung der göttlichen Gnade ist. Was kann uns mehr verpflichten als die göttliche Gnade? Aus dem Empfang ihrer Gabe entsteht die Bindung, die uns im Grund unseres Lebens erfaßt. Wenn uns Christus so begegnet, daß uns sein Werk sichtbar wird, dann sind wir zum Glauben verpflichtet. Was sich uns als Wahrheit enthüllt hat, fordert von uns die unbedingte Aneignung, die das Erkannte, ohne zu schwanken, bewahrt. Und wenn uns Jesu Wort ein helles und starkes Gewissen gab, das die Verwerflichkeit der Sünde fühlt und haßt, dann sind wir zur Buße verpflichtet, die den bösen Weg verläßt, und es entsteht Schuld, wenn wir uns dieser Forderung entziehen. Die Bibel ist aber nie nur Gesetz, auch nicht in der alttestamentlichen Gestalt des göttlichen Worts, sondern immer zuerst die Enthüllung des göttlichen Werkes, und dieses ist die Betätigung seiner gebenden Güte. Zuerst und zuletzt steht Gott nicht als der Fordernde, sondern als der Gebende vor uns. Wenn uns im Namen des göttlichen Gesetzes die eigene Urteils- und Willensbildung verboten wäre, dann gäbe es keinen Schriftbeweis mehr, und die Gewißheit würde für uns unerreichbar. Denn unser inneres Eigentum kann nicht vernichtet werden und widersetzt sich dem nur von außen uns aufgelegten Gebot. Daraus entsteht Schwankung, der innere Zwiespalt, die Ungewißheit. Hören wir in der Bibel nur ihr Gesetz, so schafft es in uns die Auflehnung gegen ihr Gebot, und es bleibt bei dem Wort, mit dem Paulus das Ergebnis der jüdischen Verehrung für das Gesetz der Schrift beschrieben hat: „Die Schrift tötet.“ Auch unsere evangelische Kirche hat dies im großen Gang ihrer Geschichte und in den Erlebnissen ihrer einzelnen Glieder deutlich erfahren. Dem als Gesetz gehandhabten Schriftwort entliefen die Kinder, auch wenn es die Eltern in herzlicher Frömmigkeit eifrig versuchten, ihnen das Schriftwort zu vermitteln, und dem regierenden Pfarrstand, dem niemand im Volke laut widersprach, entlief das Volk, obwohl dem Katechismus der Kirche die Schriftmäßigkeit nicht fehlte.

Wenn die Schrift als das göttliche Gesetzbuch gedeutet wird, dann stellt sie sich dem nach, der Erkenntnis verlangenden Trieb als das mit Gesetzeskraft ausgestattete göttliche Lehrbuch dar. Damit gerät aber unser Verkehr mit der Schrift in eine große Gefahr. Gerade weil das Verlangen nach Erkenntnis eine der Gaben ist, mit denen uns Gottes gebende Hand begnadigt hat, entsteht aus der lockenden Herrlichkeit dieses Ziels die Versuchung, daß wir nichts anderes mehr als Erkenntnis begehren. Ist sie nicht unser köstlichster Besitz, und die Wahrheit Gottes größte Gabe? Wenn uns die Möglichkeit winkt, daß unser Forschen bis zur Erkenntnis Gottes vordringe, hat dann noch irgend ein anderes Anliegen neben ihr Wert und Raum? So wird das Wissen zum einzigen Ziel, das die neben ihm stehende Füllung unseres Lebens verdrängt. Nun werden alle Fragen, die uns bewegen, ungescheut an die Bibel herangetragen und von ihr verlangt, daß sie die Antwort für sie bereit halte. Wie sollen wir uns jetzt noch das offene Ohr für das Schriftwort bewahren und fähig bleiben, ihm unsere Gedanken unterzuordnen? Daher kam es in der Zeit, als die Griechen die Führung in der Kirche hatten, die in einer theologischen Weltanschauung das höchste Gut sahen, nach dem sie mit Eifer strebten, zur Vermengung des Schriftworts mit dem griechischen Gedanken in großem Stil. Aber die Unentbehrlichkeit und Fruchtbarkeit des religiösen Wissens darf uns nicht zu der Forderung verleiten, daß die Schrift das Lehrbuch sein müsse, durch das sich Gott als den geoffenbart habe, der uns durch die Erkenntnis seines Wesens und Wirkens begnadige. Eben dadurch, daß die Schrift diesem Anspruch widerspricht, zeigt sie uns Gottes Gnade in ihrer Herrlichkeit. Diese wird dadurch wahr, offenbar, heilsam und ganz, daß nicht unser Wissen unsere Gerechtigkeit ist. Unser Schriftbeweis geht irre, wenn er das vergißt. Das göttliche Wort bewegt nicht nur unsere Gedanken, so unentbehrlich sie uns sind und so gewiß auch unser Denkvermögen durch die Schrift die begabende Wirkung Gottes erfährt, sondern erfaßt uns im ganzen Bestand unseres Lebens. Das, was in uns vor allem Heilung, Befreiung und Einigung mit Gott bedarf, ist unser Wollen. Darum setzt die Schrift unsere Gerechtigkeit in unseren Glauben. Uns diesen zu verleihen, ist das Ziel, dem unser Schriftbeweis immer dienen muß. Denn die Gewißheit, zu der die Schrift uns führt, entsteht nicht dadurch, daß sie unsere theologischen Lehrsätze stützt, sondern dadurch, daß sie uns als die Glaubenden vor Gott stellt.

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