Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Rückblicke - 5. Die Hingabe an das Niedrige.

(Den 10. Februar 1856.)

Meine Geliebten, die Ihr mir einen Beweis Eurer brüderlichen Liebe dadurch gebt, dass Ihr Euch mir wieder anschließt, um an dem Liebesmahl des Herrn Teil zu nehmen, - einer der Gegenstände, welche die Seele eines Menschen, der sich dem Tod nahe fühlt, verwirren könnten, wenn sie nicht dagegen, wie gegen alles Übrige, durch die ganz freie Gnade Gottes in Jesu Christo gesichert wäre, ist die Rückerinnerung an den Teil seines Lebens, den er mit anderen Interessen verloren, wenn nicht mehr als verloren hat, anstatt sich mit den höheren Interessen beschäftigt zu haben, die allein einem Christen beständig vor Augen schweben sollten. Deshalb will ich einen Augenblick Eure Aufmerksamkeit darauf richten, was für ein großes Übel für den Christen in der Hingabe an das Niedrige liegt. Ich erkläre zum Voraus, dies ist nicht zu verwechseln mit dem Achten auf Kleinigkeiten. Wir sind von Gott dazu berufen, uns mit einer Menge von Kleinigkeiten zu beschäftigen, und besonders aus solchen besteht das Leben. Die Art und Weise, wie wir diese kleinen Pflichten erfüllen, ist ein eben so treuer und oft noch treuerer Maßstab unserer Frömmigkeit, als die, wie wir den großen Pflichten nachkommen, weil wir in den kleinen nur Gott, uns selbst und unsere Familie zu Zeugen haben, während wir bei der Erfüllung der großen gewissermaßen auf eine Schaubühne gestellt sind, eine Stellung, in der unser Hochmut manchmal sich nur zu sehr gefällt. Außerdem ist Nichts an sich klein oder groß; es wird dies nur durch den Geist, den wir dazu mitbringen. Vor Gott ist das, was wir klein nennen, eben so groß, als das, was wir das Größte nennen, und das, was wir groß nennen, ist eben so klein, als das, was wir das Kleinste nennen, denn Gott ist unendlich und ewig. Eine treue Magd, die aus Liebe zu Gott für ein Kind zärtlich besorgt ist, welches ihre Herrschaft ihr anvertraut hat, tut in Gottes Augen etwas sehr Großes, das seine Belohnung haben wird; und ein Staatsmann, der aus Eigenliebe nach den ersten Stellen der Weisheit und Beredsamkeit strebt, tut etwas vor Gott sehr Kleines, das ihm vielleicht mehr Schande im Himmel als Ruhm auf der Erde bringen wird. Das, worauf es also ankommt, ist, in Alles, was wir tun, einen großen erhabenen Sinn hineinzutragen, der immer auf Gott sieht und alles im Blick auf ihn und auf die Ewigkeit tut, so dass wir, Gott überall im Herzen, ihn auch überall in unsere Worte und Werke hineintragen, so dass nichts Niedriges, Irdisches, Vergängliches in unserem ganzen Leben sich finde.

Das Beispiel Gottes selbst wird uns vollends über das aufklären, was ich eben gesagt habe, Gott macht keinen Unterschied in der Sorgfalt, die er dem Kleinen und die er dem Großen widmet. Er bildet einen Grashalm oder eine Schneeflocke mit eben so viel Sorgfalt, als er die Verhältnisse, Beziehungen und Bewegungen der Gestirne ordnet; und mag er ein Sandkorn machen oder einen Montblanc auftürmen, er tut Alles, was er tut, als Gott, d. h. mit einer vollkommenen Sorgfalt. Aber dieser Gott, welcher Nichts für seine Aufmerksamkeit zu klein findet, hat immer in seinen kleinen wie in seinen großen Werken die Ewigkeit, sein Reich, seine Ehre vor Augen, wie er selbst gesagt hat: „Der Herr hat Alles zu seinem Ruhm gemacht,“ und in allen Werken Gottes, seien sie geistig oder körperlich, gibt es durchaus Nichts, in das er nicht das ungeheure Gewicht eines unendlichen Gesichtspunktes und eines ewigen Interesses hineingelegt hätte. So auch Jesus, der sichtbar gewordene Gott. Nicht nur verachtet er arme kleine Kinder nicht, welche man ihm bringt und welche die Apostel für seinen Segen zu gering achteten, nein er vergisst selbst nicht die Überreste von Brot und Fisch und will, dass Nichts umkomme, und das in einem Augenblick, wo er gezeigt hat, dass er mit einem Wort und selbst ohne ein Wort die Brote und die Fische nach Willen vervielfältigen kann. Und dieser selbe Jesus ist der, welcher die größten Werke vollbringt in seiner Menschwerdung, seiner Erlösung, seinen Leiden, seiner Auferstehung und glorreichen Himmelfahrt. Aber er vollbringt alles dieses in demselben Sinn; und sei es, dass er Fleisch wird, dass er uns erlöst, dass er für uns leidet, dass er von den Toten aufersteht oder dass er gen Himmel fährt; sei es, dass er sich aufhält um diese kleinen Kinder zu segnen, oder um die Brocken Brot und Fisch sammeln zu lassen, oder um das geringste Wort des Trostes an einen Betrübten zu richten, oder um einem Dürstenden einen Trunk kühlen Wassers zu reichen; immer hat er bei all diesem Tun Gott, die Ewigkeit und die Ehre seines Vaters im Auge; dies macht, dass uns Christus in allen seinen Werken mit dem Haupt im Himmel erscheint, obgleich seine Füße auf der Erde wandeln; so nennt er sich selbst auch: „der im Himmel ist.“ Wie Alles groß ist in seiner Seele, so ist alles groß in allen seinen Werken und in allen seinen Gedanken.

Das ist also, meine lieben Freunde, das Beispiel, welches uns gegeben ist; und also müssen wir unseren Weg verfolgen, immer hingegeben nicht an die niederen Interessen der Erde, noch weniger an ihre Lüste und Sünden, sondern an Gott, an seine Ehre, an seine Liebe und an das Werk Jesu Christi zur Ehre Gottes, zum Heil der Menschheit und zu unserem Heil. Nach dem Bild Gottes erschaffen, müssen wir seine Nachfolger sein; und in den geringsten wie in den größten Sorgen immer den Gedanken an Gott und an die Ewigkeit herrschen lassen. Der Christ, was er auch sagen, was er auch tun mag, muss immer groß sein vor Gott, der die wirkliche Größe prüft. Die Maler haben die Heiligen von einem Lichtschein umgeben dargestellt: die heilige Schrift hat nichts der Art getan, mit Ausnahme eines Heiligen des Alten Testamentes, und da tut sie es allerdings auf eine ganz besondere Weise; die Heiligen tragen ihren Lichtschein in sich selbst, und verbreiten ihn überall, wohin sie gehen. Der Christ muss eine solche Meinung von sich hervorrufen, dass, wo man ihm auch begegnen mag, auf der Straße oder in einer Gesellschaft, am Tisch, im Gefängnis oder in den höchsten Ehrenämtern, man immer das Gefühl habe, dass er Gott sucht, die großen Interessen der Menschheit zu befördern bemüht ist, dass er es nicht der Mühe wert findet, für eine andere Sache zu leben, als zur Ehre Gottes, wozu er all sein Glück und Unglück beitragen lässt; dass er bereit ist, die Erde zu verlassen, so bald sein Werk in dieser Beziehung erfüllt sein wird, und dass er wie sein Herr von Ort zu Ort geht, indem er Gutes tut. O wie würde ein solcher Christ heilig, wie würde er glücklich sein, wenn er frei wäre von Lüsten, Neid und Unruhe, und von Allem, was die Seele verwirrt! immer mit Gott wandelnd, wie würde er das Evangelium zu Ehren bringen! wie siegreich würde er nicht den Widersachern den Mund schließen, wie viele Seelen würde er seinem Heiland zuführen, noch mehr durch den demütigen Glanz eines heiligen Lebens, als durch seine gewaltigsten Worte!

Aber diese Christen, wo sind sie? mein Gott, wo sind sie? Wie viel leichter würde es sein, Christen, ich meine wahre und aufrichtige Christen zu finden, die, wenn es an's Sterben ginge, ihren Geist in die Hände des Herrn befehlen würden, die im Grund sich auf ihn verlassen, aber durch niedrige Interessen von ihm abgezogen und hingenommen werden durch Geldliebe, durch den Durst nach Ruhm vor Menschen, durch Eifersucht über die Erfolge eines Mitbewerbers, durch brennendes Verlangen nach persönlichen Erfolgen, durch einen Ehrgeiz außerhalb der Wege, welche Gott ihnen gebahnt hat, durch Ungeduld im Leiden, durch Widerstreben gegen die Demütigungen und das Kreuz, durch heftige Verstimmung, welche sie empfinden können wegen eines Wortes, vielleicht wegen eines übel ausgelegten Wortes, oder wegen eines unbedeutenden Vorfalles, der im Tod oder vielleicht schon in einer Stunde keine Spuren zurücklassen wird! O mein Gott! wie ist die Zahl der beständig treuen Christen so klein! Dies ist der Grund, meine Freunde, warum das Evangelium durch seine Bekenner bloß gestellt wird, deshalb sagt man so oft von ihnen, dass sie am Ende doch dem nachjagen, welchen die Andern nachjagen, und dass das, was die Andern verwirrt, sie in gleicher Weise verwirrt. So wird das Evangelium eben durch Diejenigen verwundet, welche darin ihren Frieden und ihr Heil suchen, und die all ihre Kraft, all ihr Leben daran setzen sollten, es zu Ehren zu bringen, welche mit hoch erhobenem Haupt wandeln sollten, das Haupt im Himmel, wie Jesus, welche zwar auf Erden wandeln, aber im Himmel leben, von dort her sich in allen ihren Handlungen leiten lassen, und dort die Kraft ihres Lebens schöpfen sollten.

Wenn Ihr wüsstet, meine Freunde, wie alle diese Täuschungen im Angesicht des Todes verschwinden, wie Alles, was klein ist, klein erscheint, wie das allein, was vor Gott groß ist, groß erscheint, wie sehr man bedauert, nicht mehr als Christi Nachfolger für Gott gelebt zu haben, und wie sehr man das Leben, wenn man es wieder anzufangen hätte, ernster, mehr in Jesu Christo, seinem Wort und Beispiel zu führen wünscht, - ach, wüsstet Ihr es! Ihr würdet in diesem Augenblick Hand an's Werk legen, Ihr würdet Gott anflehen, Euer Leben mit Eurer Gesinnung und Eurem Glauben in Einklang zu bringen; es würde Euch gelingen, wie es so vielen Anderen am Ende gelungen ist, weil sie zu Gott geschrien, weil sie auch einen redlichen Willen vor Gott gehabt haben; und diese Handvoll Kinder Gottes, die hier in diesem Zimmer um dieses Kranken- und wahrscheinlich Totenbett versammelt ist, diese Christen mit ihren Schwächen und ihren Gebrechen würden mehr für die Ausbreitung des Reiches Gottes und für das Wohl der Menschheit tun, als eine große und mit allen möglichen Gaben ausgerüstete Menge; sie würden um so größere Taten verrichten, als jeder Gedanke an eitle Größe von jetzt an weit aus ihren Herzen gebannt sein würde. Das ist mein Wunsch für Euch, das ist mein brünstiges Gebet, und das ist auch das Gebet, welches ich Euch bitte für mich vor Gott darzubringen, damit ich während der Zeit, die mir noch bleiben mag, nur daran denke, zur Ehre Gottes und zum Wohl des Nächsten, und somit in gleicher Zeit zu meiner eigenen ewigen Freude zu leben! Amen.

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