Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Das Kreuz offenbart uns die Liebe Gottes.

(Den 23. Dezember 1855.)

Psalm 88:
Herr Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir. Lass mein Gebet vor dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Geschrei. Denn meine Seele ist voll Jammer, und mein Leben ist nahe bei der Hölle. Ich bin geachtet gleich denen, die zu der Hölle fahren; ich bin wie ein Mann, der keine Hilfe hat. Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grab liegen, deren du nicht mehr gedenkst, und sie von deiner Hand abgesondert sind. Du hast mich in die Grube hinunter gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. Dein Grimm drückt mich, und drängst mich mit allen deinen Fluten, Sela. Meine Freunde hast du ferne von mir getan, du hast mich ihnen zum Gräuel gemacht. Ich liege gefangen, und kann nicht auskommen. Meine Gestalt ist jämmerlich vor Elend. Herr, ich rufe dich an täglich, ich breite meine Hände aus zu dir. Wirst du denn unter den Toten Wunder tun? Oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken? Sela. Wird man in Gräbern erzählen deine Güte, und deine Treue im Verderben? Mögen denn deine Wunder in der Finsternis erkannt werden? Oder deine Gerechtigkeit im Lande, da man nichts gedenkt? Aber ich schreie zu dir, Herr, und mein Gebet kommt frühe vor dich. Warum verstößt du, Herr, meine Seele, und verbirgst dein Antlitz vor mir? Ich bin elend und ohnmächtig, dass ich so verstoßen bin; ich leide dein Schrecken, dass ich schier verzage. Dein Grimm geht über mich, dein Schrecken drückt mich. Sie umgeben mich täglich wie Wasser, und umringen mich miteinander. Du machst, dass meine Freunde und Nächsten und meine Verwandten sich ferne von mir tun, um solches Elends willen.

Meine lieben Freunde, die Ihr mir einen so rührenden Beweis Eurer Liebe und Eurer brüderlichen Teilnahme gebt, indem Ihr dieses Mahl des Herrn mit mir feiert, das von Woche zu Woche meine Nahrung und die Kraft meines Geistes und meines Leibes ist; - in dem zu Anfang vorgelesenen 88. Psalm finden wir einen Zug, der uns in allen andern Psalmen nicht wieder begegnet: Dieser Psalm ist nämlich der einzige, der ganz und gar in Schmerz versenkt bleibt, und mit keinem Worte, mit keinem Zug des Trostes endet. Er ist ganz Nacht, ganz Dunkel, und man muss sehr genau hinsehen, um darin einen Keim von Trost zu entdecken, nämlich in einem Namen, der Gott in einem der ersten Vers beigelegt ist: „Herr Gott, mein Heiland.“ Warum dieses erstaunliche Geheimnis? Ich kann mir dies auf doppelte Weise erklären. Erstens: Gott hat uns sehen lassen wollen, dass, obgleich wir nach der Weise seiner Barmherzigkeit nie zu ihm schreien, ohne erhört zu werden, und obgleich es oft nur der Zeit zwischen einigen Psalmversen bedarf, um den Zwischenraum, welcher die schrecklichste Angst vor dem überreichsten Trost trennt, zu überspringen, wie z. B. in dem 13. Psalm, es doch manchmal in den Absichten des Herrn liegen kann, uns eine gewisse Zeit lang schreien zu lassen, ohne Antwort, ohne Trost, ohne dass ein kleiner armseliger Lichtstrahl gesandt werde, die Nacht unserer Angst zu erhellen. In solchen Augenblicken muss man sich mit dem Glauben allein nähren und mit Jeremias, mit David, mit allen in solcher Weise geprüften Heiligen auf Gott harren, ihn fragen, warum er sich verbirgt, und ungeachtet der Wolke, die ihn unseren Augen entzieht, niemals an ihm zweifeln. Unter hundert und fünfzig Psalmen ist nur einer, der uns diese Lehre gibt, gleichsam als ob es der Liebe des Herrn etwas kostete, uns diese Lehre zu geben. Aber es gibt noch eine zweite Erklärung für diesen Psalm, die sich übrigens an die erste anschließt. Ihr wisst, dass die Psalmen voll vom Messias sind; Christus spricht, er schildert seine Schmerzen, und wir finden in dem 88. Psalm denselben Heiland, der im 22. Psalm spricht: „Eli, Eli, lama asabthani - mein Gott, mein Gott, Warum hast du mich verlassen?“ worauf eben so schnell das Andere folgt: „Aber du bist heilig - du erhörst den Betrübten, der zu dir schreit.“ So zeigt uns dieser Psalm in dem Herrn ein Übermaß von Herzensangst, das Alles übersteigt, was die Menschen, und selbst seine am meisten heimgesuchten Diener, ich will nicht bloß sagen, fühlen, sondern auch nur begreifen können. Und warum das? Weil Gott die Liebe ist. Eine seltsame und doch wahre Antwort! Gott ist die Liebe, aber für uns, meine lieben Freunde, wir mögen noch so überreich gesegnet sein mit Gaben Gottes, mit irdischen und himmlischen Gütern aller Art, mit seinem Wort, seinen Verheißungen und allem Andern: für uns fehlt der Liebe Gottes so zu sagen immer noch etwas, damit sie den Weg zu unseren Herzen finde; nämlich das Leiden. Wir wissen, dass Gott nicht leidet, dass er nicht im Stande ist zu leiden, dass er über allen Schmerz erhaben ist, wie über alle Versuchung und Angst dieser Erde; damit wir die Liebe Gottes in ihrer Fülle und Wesenheit fassen können, musste Gott sich selbst und so zeigen, dass er und seine Liebe durch sein Leiden beweisen konnte, weil der Mensch auf eine andere Weise nie hätte überzeugt oder vielmehr gewonnen werden können.

Jesus Christus, Gottessohn und selbst Gott, ist also Menschensohn geworden, um leiden zu können, um uns die Liebe Gottes in solchen Zügen zeigen zu können, welche die härtesten Herzen, sobald sie nur im mindesten darauf aufmerksam sind, zu zerschlagen vermögen. Jesus Christus ist auf die Erde gekommen, um zu leiden. Wie gut hat er diese Aufgabe erfüllt! Er hat damit angefangen, ein unserem sündlichen Fleisch ähnliches Fleisch anzuziehen; und wer von uns kann begreifen, wie viel Erniedrigung, Selbstverleugnung und Opfer es für den Herrn der Herrlichkeit, für den Fürsten des Lebens war, in das Elend unserer armen Natur herabzusteigen und von derselben alle Erniedrigungen bis zu der des Grabes auf sich zu nehmen? „Ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein; sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch, und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz.“ Merkt wohl, das Unterscheidende seiner Leiden und seiner Opfer von dem unsrigen ist dies, dass er sie freiwillig gewählt und herbeigerufen hat. Nichts verpflichtete ihn dazu: Er hat sie gewählt, herbeigerufen, eins nach dem anderen, um den Willen des Vaters zu erfüllen, aber um ihn von freien Stücken zu erfüllen. Und wofür? Für uns, weil er den Gedanken an das ewige Elend nicht ertragen konnte, dem uns die Sünde anheim gegeben hatte. Welch eine Liebe, mein Gott, welch eine Liebe! - Ich gehe schnell über seine ganze Laufbahn von Leiden und Erniedrigungen hinweg und komme nur zu seinem Gethsemane. Ihr tretet mitten in der Nacht in einen Garten mit Ölbäumen, da seht Ihr einen Menschen liegen, das Antlitz auf der Erde; er weint, er schreit, Ihr haltet ihn vielleicht für einen Wahnsinnigen: das ist Euer Heiland. Schon an seiner Haltung, an seinem Gebet, an den zarten Vorwürfen, die er seinen Jüngern macht, könnt Ihr das Ungeheure seines Leidens ermessen, eines Leidens, das wir eben so wenig zu fühlen und zu fassen vermögen, als wir Gott und die Unendlichkeit fassen können; denn dieses Leiden ist nicht nur ein physisches und äußerliches, sondern ein geistiges Leiden, von dem wir uns keine Vorstellung machen können. Nicht nur Heilige, sondern selbst Menschen, die den Herrn nicht kannten, haben die grausamsten Schmerzen geduldig ertragen; aber in Jesu gibt es außer seinen unendlichen Schmerzen noch ein geheimes und inneres Leiden, das wir nicht fassen können: dass er allein vor dem heiligen Gott, er, der Unschuldige, für uns Schuldige die Last unserer Sünden zu tragen hat; dass er dadurch (kaum wage ich diesem Geheimnis zu nahen) sich für einen Augenblick gleichsam getrennt sieht von der Liebe des Vaters, wenn man so sagen darf, da er ja Eins mit ihm ist, dass er sich gezwungen sieht, auszurufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Warum leidet er so? Armer Sünder, für Dich, für Dich! Er hat Dich so sehr geliebt, dass, wenn auf der Erde nichts zu retten gewesen wäre, als Du, er für Dich nach seinem Gethsemane gegangen wäre. Welch eine Liebe, mein Gott, welch eine Liebe!

Betrachtet ihn endlich am Kreuz. Ich will hierüber nicht weiter sprechen, selbst wenn ich die Kraft dazu hätte; denn wie könnte ich ein solches Geheimnis beschreiben? Ich stelle mich nur mit Euch unter das Kreuz und betrachte die Leiden meines Heilandes. Ich mache Euch hier nur auf dies aufmerksam: in dem Augenblick, wo er dieser schrecklichen Qual preisgegeben war, diesem Todeskampf, den kein Mensch hat erkennen oder fassen, ja kaum ahnen können, da beherrscht er diesen Schmerz, um bis an's Ende Gott zu verherrlichen und die Menschen zu erlösen; und mitten in diesem Todeskampf hört man ihn die Worte ausrufen; „Vater - vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun;“ und dann: „Weib, da ist dein Sohn …. Jünger, da ist deine Mutter.“ Welche Liebe, mein Gott, welche Liebe!

Letzten Sonntag betrachteten wir am Fuß des Kreuzes, welchen Blick es uns in den Gräuel, die entsetzliche Tiefe und den Schrecken der Sünde eröffnet. Wie süß ist es nicht, heute in den Leiden des Heilandes zu betrachten, welchen Blick sie uns eröffnen in die Größe und die unbegreifliche Tiefe der Barmherzigkeit Gottes! meine Freunde, möchten wir doch diese Liebe beständig vor Augen haben, dann wird uns Alles klar werden, selbst die grausamsten Leiden, weil sie bei den Seinigen nichts Anderes sind, als eine Fortsetzung von dem, was er gelitten hat; so wird uns Alles zugleich süß und leicht werden. Der Glaube macht Alles möglich, die Liebe macht Alles leicht: „Seine Gebote sind nicht schwer.“ Erfüllt mit diesem Bild der Liebe des Erlösers und der im Erlöser geoffenbarten Liebe Gottes, lesen wir in dem Vaterherzen die Liebe Gottes zu uns, und so werden wir uns dann dem Herrn hingeben, um Alles zu vollbringen und zu leiden, was der Herr uns für gut finden wird aufzulegen. Bittet Gott um die Gnade, Euch ganz mit diesem Gedanken; „Gott ist die Liebe,“ zu durchdringen; und um uns damit zu durchdringen, lasst uns beständig unter dem Kreuz unseres Erlösers weilen und es nie aus den Augen verlieren, bis er uns nach kurzen Leiden, weil dies so notwendig ist, an der Hand nehmen wird, uns vom Karfreitag zum Ostermorgen hinüberheben, uns mit sich auferwecken und mit sich in das Reich der Herrlichkeit einführen wird, wo er uns erwartet und wo wir ihn um so mehr preisen werden, je mehr wir gelitten, je mehr wir besonders für seinen Namen werden gelitten haben. Amen.

Ich bin durch manche Zeiten,
wohl gar durch Ewigkeiten
in meinem Geist gereift:
nichts hat mir's Herz genommen,
als da ich angekommen
auf Golgatha. Gott sei gepreist!

Auf diesem Orte steh ich,
von dieser Stelle geh ich
nun nimmermehr zurück.
HErr, fessle meine Blicke,
dass ich nicht kann zurücke,
bis ich Dich selig einst erblick!

Christian Renatus Graf von Zinzendorf, 1727 - 1752

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