Lang, Heinrich - 12. Betrachtungen in der Passionszeit.

Lang, Heinrich - 12. Betrachtungen in der Passionszeit.

I.

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun.

O wie viel verträglicher, duldsamer und sanftmüthiger würden wir werden, wenn wir die Fehler unsrer Mitmenschen betrachten lernten, wie sie Christus betrachtet hat! Wie viel öfter würden wir beten: „Vater, vergib ihnen,“ wenn wir bedächten, daß die Menschen, wenn sie fehlen, „nicht wissen, was sie thun!“ Dort ist Einer, der mit wahrer Satansfreude anderen Menschen zu schaden sucht, ihnen durch Kränkungen und Verläumdungen das Leben verbittert. Ihr denket vielleicht an den oder jenen aus eurer Bekanntschaft und sprechet: „O, die wissen, was sie thun; mit absichtlicher Bosheit legen sie dem Nächsten Schlingen, Schaden und Kränken ist ihre Freude;“ aber ich sage: Nein, sie wissen nicht, was sie thun. Wüßten sie es, wüßten sie, welch eine schwere und drückende Last es ist, ein von Bitterkeit und Groll erfülltes Herz mit sich herumzutragen; wüßten sie, welch ein Glück es ist um ein christlich Gemüth, das des Morgens beim Erwachen Heil und Segen erfleht für alle Menschen und des Abends beim „Unser Vater“ Alle, Nahe und Ferne, Freund' und Feinde, in sein Gebet einschließt; welch eine Seligkeit es ist um ein Herz, das rufen kann: „Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt!“ wüßten sie das, hätten sie das jemals an sich erfahren, von Stund an würden sie Haß und Bitterkeit von sich werfen. Dort sind Eheleute, die leben vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein in Zank und Hader. „Die wissen, was sie thun,“ saget ihr; „denn sie suchen ja geflissentlich alle Veranlassungen, einander zu kränken, und wenn keine vorhanden sind, so erdichten sie dieselben;“ ich aber sage: Sie wissen nicht, was sie thun; denn, wüßten sie's, wüßten sie, welch ein Segen es ist um eine christliche Haushaltung, wo Mann und Weib Ein Leib und Eine Seele sind, und die Kinder um den Tisch herumstehen wie Bäume, gepflanzt an frischen Wasserbächen. Hätten sie den Frieden und das Glück eines häuslichen Herdes an sich erfahren, wo den von der Arbeit Heimkehrenden stets freundliche Herzen und frohe Blicke empfangen, so würden sie von Stund an sagen: Da ist Herz und Hand; von heut an soll Zank und Hader schweigen. Oder wüßte das auch nur das Eine von beiden, es würde, anstatt in Bitterkeit und Scheltwort auszubrechen, vielmehr die Fehler des Anderen mit Sanftmuth tragen, die Kraft der tröstenden, erziehenden, bessernden, Tage und Jahre mit Geduld ausharrenden Liebe üben, bis endlich auch das Eis vom Herzen des Andern gebrochen wäre. Aber sie wissen eben nicht, was sie thun.

Sehet dort die große Sünderschar derjenigen, die in Wollust und Unmäßigkeit ihre Lebenskraft vergeuden, derer, die in Trägheit und Müßiggang ihre Lebenszeit verträumen, derer, die, unter Sorgen und Freuden des vergänglichen Lebens begraben, ihr bestes Theil versäumen, derer, die auf irgend eine Art auf den Weg des Verbrechens geführt worden sind; die wissen doch, was sie thun, sie spotten ja des Frommen und rühmen sich ihrer Weltklugheit und Freiheit, aber ich sage: Sie wissen nicht, was sie thun. Wüßten sie's, wüßten sie, was es ist um die Freiheit der Kinder Gottes, um ein Herz, das den Sprung gewagt hat aus dem Reich der Finsterniß in das Reich der Liebe und des Lichtes und der Wahrheit; was es heißt, mit sich und seinem Gotte in Eintracht zu leben, anstatt ein Sklave der Begierde zu sein, und wüßten sie es, wie ein solcher aus dem Geiste Gottes wiedergeborner Mensch die Welt mit ihren Gütern und Freuden erst recht genießt - gewiß, sie würden von Stund an den Weg des Todes verlassen und den Weg des Lebens betreten. Aber sie wissen nicht, was sie thun. Die Menschen wissen oft so wenig, was sie thun, daß sie meinen, zur größeren Ehre Gottes zu handeln, wenn sie das Allerverkehrteste thun. Ihr habt ja gelesen von dem Apostel Paulus, welcher schnaubte und wüthete gegen die Christen und meinte, damit Gott einen Dienst zu thun, aber nachher gestand er: Ich eiferte um Gott, aber aus Unverstand; er wußte nicht, was er that. O, wenn wir das bedenken, daß die Menschen, wenn sie sündigen und fehlen, nicht wissen, was sie thun, dann werden wir viel milder und versöhnlicher gegen sie werden. Du wirst von einem Mitmenschen hartnäckig beleidigt und gekränkt, willst du aufbrausen und Feuer fangen und Böses mit Bösem vergelten? O bedenke, er ist ein Irrender, er weiß nicht, was er thut. Oder weiß er’s denn? Er meint, dir schaden zu können; aber du bist ja festgewurzelt in deinem Gott, du bist freudig und getrost in Noth und Trübsal, in Hunger, Blöße und Verfolgung. Du sprichst: Wenn ich nur Gott habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde; also dir kann er nicht schaden. Wem schadet er also? sich selbst; sich selbst macht er bittere Stunden durch sein bitteres, grollendes Herz; sich raubt er die schönsten Trostgründe der Religion; sich stößt er durch seine Herzenskälte immer mehr aus dem Reich der Liebe und Güte; also wußte er offenbar nicht, was er that; darum fühle Mitleid, Barmherzigkeit gegen ihn, statt Haß und Groll, und sprich: „Vater, vergib ihm, er weiß nicht, was er thut.“

Wenn wir Menschen erblicken, welche hartnäckig die Bahn der Sünde betreten, leichtfertige Mütter, die Gift in die Herzen der Töchter gießen, leichtsinnige Väter, die ihr Hauswesen versäumen, störrische Jünglinge, welche die Eltern mit Kummer in die Grube bringen, da ergrimmt uns oft das Herz in uns selbst und wir möchten, wie die Söhne Zebedäi, Feuer vom Himmel herab wünschen über solche verstockte Herzen; aber wie ganz anders wird unser Herz gestimmt, wenn wir denken, es sind Irrende, sie wissen nicht, was sie thun. Die Religion hat eben bei ihnen nur die Oberfläche berührt, ist nicht in's Herz eingedrungen; sie haben ihren Segen noch nie erfahren, die Decke Mosis hängt noch vor ihren Augen.

Wollen wir über Irrende uns erbittern? Wollen wir nicht lieber beten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun.“ Wollen wir nicht lieber an das Wort des Apostels Jakobus uns erinnern: „Wer einen Sünder bekehret vom Wege seines Irrthums, der hat einer Seele vom Tode geholfen und bedecket der Sünden Menge.“

O Christ, betrachte den Bruder, der gegen dich fehlt, als einen Irrenden, der nicht weiß, was er thut; nimm an seinem Fehler ein Beispiel und denk' an deine eigene Schwäche. Heute fällt er und bedarf deiner Geduld und Hülfe; morgen fällst vielleicht du und bedarfst des Gleichen. Du gehst auf demselben schlüpfrigen Weg, auf welchem dein Nächster gefallen ist; er bedarf Hülfe, um wieder aufzustehn, du ebenfalls, daß du nicht fallest und beides stehet in Einer Hand - in der Hand des gütigen, langmüthigen und barmherzigen Gottes.

II.

Es ist vollbracht!

Was ist vollbracht? Die schwärzeste That, welche die Erde je gesehen hat; die Erde dampft vom Blute des Gerechten, dessen die Welt nicht werth war; die Luft erschallt vom Jubel der Gottlosen, von den Spottreden und Lästerungen derer, die das Heil der Welt ermordet haben; die alten finsteren Mächte der Erde, die eben noch vor dem Reinen und Heiligen das Haupt verbergen zu müssen schienen, klatschen in die Hände jubelnd, daß die Gefahr nun vorbei und sie wieder im ungestörten Besitz der Erde seien. Das war vollbracht. Ist das Alles? O nein, daran dachte der Heiland jetzt nicht mehr. Die Welt lag hinter ihm, er hatte ihr vergessen und verziehen; das Wuthgeschrei der Feinde drang nicht mehr an sein Ohr; andere Töne waren es, die in diesem heiligen Augenblicke sein Ohr berührten. Er hörte die Freudenstimmen sowohl derer, die in früheren Zeiten auf seinen Tag geharrt, als derer, die in Zukunft durch ihn sollten erlöst werden; er hörte das Jauchzen eines Abraham, der froh war, den Tag des Herrn zu schauen; die Lobgesänge der Propheten, die auf ihn gedeutet und nun Gott lobten über dem, das jetzt erfüllet war; er hörte die rührende Stimme des greisen Simeon, der sprach: „Nun, Herr, lassest du deinen Diener im Frieden fahren;“ das Frohlocken eines Johannes, der sich freute über die Stimme des Bräutigams und gerne abnehmen wollte, wenn nur dieser zunähme; er hörte durch die Jahrhunderte hinab die Freudengesänge derer, die durch ihn gestärkt für Licht, Wahrheit und Freiheit in die Kerker und auf die Scheiterhaufen gegangen sind, die Danksagungen Aller, die durch ihn aus dem Reich der Finsterniß in das milde Reich der Liebe und Güte hinübergeführt worden sind. Und als er so einsam auf Golgatha hinstarb, stand vor seinem geistigen Auge die herrliche Zukunft, die große Gemeinde der Gläubigen, wie Sand am Meer und wie der Thau aus der Morgenröthe und die zahllose Menge derer, die aus den Heiden hereingebracht werden sollten zu der Herrlichkeit des Herrn; da sprach er: „Es ist vollbracht!“

„Es ist vollbracht!“ Ja, Seele, da hat er auch dein gedacht! Er sah dich, umfangen von Sündennacht und Schatten des Todes, an die Erde gefesselt mit ehernen Ketten, bang um Trost und Licht, zitternd vor des Todes Richterschwerte; aber er wußte, daß er auch für dich eine Erlösung bereitet habe. Er hörte auch deinen Lobgesang zum himmlischen Vater, er sah deinen heiteren Frieden und deine Todesfreudigkeit; drum sprach er: „Es ist vollbracht!“

Es ist vollbracht! Alte Schlange, jauchzst du noch? Satan, wo sind deine Waffen? Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Der Schlangenkopf liegt zertreten, des Satans Waffen liegen gebrochen, die Werke der Finsterniß sind zerstört, die teuflischen Mächte, unter deren Druck die alte Welt verblutete, sind gerichtet, ein unversieglicher Strom ewigen Lebens ergießt sich über die von Todesnacht umfangene Welt; Alle, die an ihn glauben, haben die Macht, Gottes Kinder zu heißen, das Senfkorn wächst in die Höhe und Breite, bis einst Himmel und Erde vereiniget und Gott sein wird Alles in Allem. Große, herrliche Zeit! selig, wer sie erleben dürfte, selig auch, wer sie im Geiste schaut! „Dann wohnen die Völker im Frieden, es rauscht der Markt von vielem Volke, die Erde ist voll von der Erkenntniß des Herrn und feiert ein ewiges Pfingstfest, denn auf alles Fleisch ergießt sich täglich und stündlich der Geist. Die Kräfte des Abgrunds sind gebannt in ihre Finsterniß und stören nicht mehr Christi beglücktes Reich. Alle verstehen es dann, im Geist und in der Wahrheit anzubeten; die Schale kann brechen, die Hülle kann fallen. Gott läßt die Erde, die von alter Sünde schwül ist und vom Blute der Erschlagenen dampft, untergehen und zieht die geheiligte Menschheit als seines Sohnes erkorene Braut an sein großes Vaterherz.“

III.

Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.

Dem, der diese Worte gesprochen, erschien der Tod offenbar nicht als etwas Außerordentliches; wie der Lebenshauch in jeder nächsten Stunde, die dem Menschen doch eben so dunkel ist, wie das Todesthal, in der Hand Gottes steht, so befiehlt ihn Christus auch im Tode ruhig dieser Hand; er geht aus dem Leben in den Tod, wie er aus einem Augenblick des irdischen Lebens in den andern übergegangen ist. Hören wir nicht aus dieser Todesheiterkeit wieder die Stimme desjenigen heraus„, der im Leben die bekümmerten Menschen hinwies auf die Vögel unter dem Himmel und die Lilien aus dem Felde, der, obwohl er manchmal nicht hatte, wo er sein müdes Haupt hinlegen sollte, dennoch immer heiter und sorglos ausruhte im Schoße des himmlischen Vaters.

Ach, was gäben wir darum, wenn wir eine solche Heiterkeit im Leben und einen so sichern Trost im Tode hätten! Und warum haben wir diese Heiterkeit und lächelnde Sorglosigkeit nicht? Warum ist unsere geistige Stimmung oft so gedrückt? Warum haben wir so viel Angst in der Welt? Warum ermangeln wir dieses seligen Friedens, mit welchem wir unsere Seele lebend und sterbend, im Glück und im Unglück, in den rosigen Tagen der Jugend, wie im Silberhaar des Greisenalters Gott anbefehlen können, froh lächelnd, wie ein Kind? Das macht, wir sind nicht so einig mit Gott, wie Christus, der Name Vater geht uns nicht so leicht und natürlich von der Brust, das Gefühl, in Gottes Hand zu stehen, in seinem Namen zu leben und zu arbeiten, Gottes Geschäft in der Welt zu führen, ist uns nicht immer gegenwärtig; es ist nicht unsere Speise, den Willen dessen zu thun, der uns in die Welt gesandt hat. Welche Kraft, welche Sicherheit, welche männliche Unerschrockenheit, welcher Heldenmuth, welche selige Heiterkeit im Leben und Sterben würde uns überströmen, wenn das Bewußtsein, wo wir stehen und gehen, in Gottes Hand zu stehen, uns lebendiger durchdringen würde! Mit dieser Farbe zeichnet uns die heilige Schrift alle Gottesmänner. Wie steht ein Abraham, der doch auch nicht mehr als ein Hirt und ein Bauer gewesen ist, unter seinen Zeitgenossen da als eine herrliche Heldengestalt, so einfach und groß, so ruhig und sicher in allen seinen Gängen; eben so stark und tapfer, als barmherzig und mild; ausgestattet mit dem kindlichen Gottesfrieden eines frömmeren Zeitalters, und die Schrift eröffnet uns das Geheimniß seiner Größe in den Worten: Abraham wandelte vor Gott.

Und unser Luther - welche Gefahren mußte er bestehen, welche Verfolgungen leiden, wie drohte ihm die Welt mit ihren Schrecken; aber wie stand er so ruhig und sicher vor diese Welt hin und sprach: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Ach, wären wir uns nur unserer Gemeinschaft mit Gott mehr bewußt, trüge uns nur der Glaube, von einem Höheren gesendet auf Erden zu stehen und zu wirken, unser Leben würde viel ruhiger, sorgloser und seliger sein, und auch vor dem Tode würden wir dann nicht erschrecken. Wir würden in seinem Angesichte sagen: „Was soll ich fürchten, wovor sollte mir grauen, ist ja doch schon im Leben meine Seele in der Hand Gottes gestanden, und ist mir ja nur dann recht wohl gewesen, wenn ich sie dieser leitenden Hand anbefohlen hatte, warum sollte ich sie im Tode nicht auch seiner Hand anbefehlen? Sollte ich etwa fürchten, ich werde im Tode ein Raub unbekannter, böser Mächte werden, die in der Luft oder unter der Erde ihren Aufenthalt hätten? Gott ist ja allgegenwärtig, seine Güte reicht, so weit die Wolken gehen, in seiner Hand steht ja der Himmel und die Erde; ob ich da sei oder dort, ob ich dorthin komme oder dahin - ich grüble nicht vorwitzig über das Geheimniß - aber das weiß ich, daß Niemand mich weder lebend noch sterbend aus der Hand Gottes reißen kann.“

Sollten wir nicht im Stande sein, es zu dieser ungetrübten, im Leben und Sterben gleich seligen Heiterkeit des Gemüthes zu bringen? Wir, die doch immer neue Ströme des Geistes Christi in sich einsaugen können; wir, die aller Wohlthaten des versöhnenden Todes Christi theilhaftig sind.

Zwar der Mensch ist zum Streite geboren, zum Streit mit der Welt und ihren Widersprüchen; aber von Christus lernen wir die Welt überwinden und ihre Widersprüche lösen: begütert sein im Mangel, fröhlich in der Traurigkeit, unbelohnt und doch belohnt, reich ohne Geld, geehrt in der Unehre, selig in Noth und Tod, das ist die Inschrift, welche auf der Stirne eines jeden Christusjüngers zu lesen ist.

Amen.

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