Krummacher, Gottfried Daniel - Was ist evangelisch? (2)

Krummacher, Gottfried Daniel - Was ist evangelisch? (2)

Denn daß ich das Evangelium predigte, darf ich mich nicht rühmen, denn ich muß es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte! Tue ich es gern, so wird mir gelohnet, tue ich es aber ungern, so ist mir das Amt doch befohlen.
1. Korinther 9,16 und 17.

Wir haben uns, wie ihr euch erinnern werdet, die Aufgabe gestellt, die Frage: Was ist evangelisch? nach Möglichkeit zu beantworten. Das letzte Mal faßten wir dieses hauptsächlich in der Beziehung, da es einen Gegensatz bildet. Lasset uns jetzt mehr auf dasjenige achten, was es feststellt!

Das Evangelium im eigentlichsten Sinne enthält durchaus keine Forderungen und Gesetze, sondern erteilt vielmehr das Vermögen, die Gebote halten zu können. Sein eigentlicher Inhalt sind lauter Verheißungen. Das Evangelium nimmt dem Gesetze zuvörderst seine Macht und Recht, zu gebieten und an die Erfüllung des Gebotenen die Seligkeit zu knüpfen, die Übertretungen aber mit dem Fluch zu belegen. Ihr seid dem Gesetz getötet, schreibt der evangelische Paulus. Römer 7,4, durch den Leib Christi, daß ihr bei einem andern seid, nämlich bei dem, der von den Toten auferwecket ist, daß ihr Gott Furcht bringet. Es übernimmt dies Recht nicht so sehr, als es dasselbe auf eine ganz andere und ersprießliche Weise ausübt, indem es nämlich lebendig macht und das Mittel ist, wodurch der Heilige Geist uns tüchtig macht zu jeglichem guten Werk. Das Evangelium macht lebendig, das Gesetz tötet. Das Gesetz erregt allerlei Lust, das Evangelium tötet sie. Das Gesetz ist die Kraft der Sünde, das Evangelium befähigt den Sünder zur Heiligkeit. Jenes predigt die Verdammnis, dieses die Gerechtigkeit. Jenes donnert, blitzt, dräuet, flucht, bessert nichts und stürzt endlich in die ewige Verdammnis, dieses rettet, indem es sich wie ein milder Tau in die Herzen senkt. Ihr seid nicht unter dem Gesetz, wo es heißt: Gebot auf Gebot, Regel auf Regel, hie ein wenig, da ein wenig, sondern unter der Gnade, wo es heißt: Fordere von mir, so will ich dir geben! Die Sünde wird also nicht mehr über euch herrschen können, wenn ihr sie nicht wollt herrschen lassen. Freilich hebt die Gnade, hebt das Evangelium das Gesetz keineswegs auf, sondern befestigt es. Es mildert die Gebote eben so wenig, sondern steigert sie vielmehr. Es läßt nichts nach, als ob es so genau nicht hielte, sondern tut eher noch was hinzu. Aber es zeigt uns den, der uns mächtig macht, durch den uns alles möglich ist, der uns sogar Größeres tun. macht, als er selbst getan. Nun aber sollen die Gläubigen bestehen in der Freiheit, womit Christus sie befreiet hat, und sich nicht wiederum in das knechtische Joch fangen lassen. Das Gesetz hat ihnen um Christi willen nichts zu gebieten, als müßten sie das um ihre Seligkeit willen erfüllen. Sobald sie auf eine solche Idee eingehen, verlieren sie Christum, er ist ihnen kein nütze mehr, sie fallen von der Gnade, sie werden in ihrem Laufe aufgehalten, ja sie machen Rückschritte und Rückfälle und verleugnen beim Scheine der Gottseligkeit die Kraft derselben, daß sie wohl mit David beten möchten: Herr, suche deinen Knecht, denn ich bin wie ein verirrtes und verlornes Schaf (Psalm 119,176)! Die Sachen sind aber schwer zu verstehen, und nur Christus kann uns durch den heiligen Geist darüber erleuchten.

Das Evangelium nimmt dem Gesetz zweitens die Macht, zu verdammen. Alle die unter dem Gesetze sind, sind auch unter dem Fluche, denn es steht geschrieben: Verflucht sei jedermann, der nicht bleibet in allem dem, das geschrieben steht in dem Buche des Gesetzes, daß er's tue. Es ist aber niemand, der alles gehalten hätte, auch niemand, der alles halten könnte, und wenn er sich dessen noch so ernstlich beflisse, so wie keiner ist, der nicht dazu aufs Unerläßlichste verpflichtet wäre. Somit ist alle Welt Gott schuldig, und aller Mund gestopft. Da ist nicht der gerecht sei, auch nicht einer. Es gibt rechtschaffene, es gibt tugendhafte, es gibt gottselige Menschen, aber es gibt keine vollkommene. Hat jemand in einem Stücke gefehlt, so ist er des ganzen Gesetzes schuldig und muß ohne Barmherzigkeit sterben, gleichviel ob er sich seiner Übertretung bewußt geworden, oder ob sie ihm verborgen geblieben ist. Zwar läßt das Gesetz alle gegründeten Entschuldigungen gelten, so viel sie billigerweise gelten mögen. Aber sie können die Strafe nur mildern, nicht aufheben. So geht's der Sodomer Lande erträglicher denn dir. Von der verdammenden Kraft des Gesetzes können wir uns selbst nicht loswirken, nicht losarbeiten, nicht losweinen, noch ängstigen, noch bessern. Wohl aber kann der geängstete Sünder auf einem andern Wege der verdammenden Kraft entrinnen und zur Rechtfertigung des Lebens gelangen. Und diesen Weg weiset das teure Evangelium. Es zeigt dem bußfertigen Sünder, wie das Gesetz durch einen Mann entwaffnet ist, in welchem Gott es beschlossen hat, der ein Fluch ward für uns, auf daß er uns von dem Fluche erledigte, und wir den Segen empfingen. Es offenbart einen ganz andern Weg zur Rechtfertigung und Seligkeit, als die Vernunft kennt, oder wovon das Gesetz weiß, einen wunderbaren Weg, wo es nicht sowohl auf des Menschen eigenes als auf eines andern Thun, und nicht so sehr auf Thun als aufs Glauben ankommt. Freilich findet dieser Weg, wie es sich anders nicht erwarten läßt, viel Widerspruch, nicht nur von außen, sondern auch von innen, da das unter dem Werkbunde geborene Herz sich schwerlich in diesen neuen Weg findet. Es ist leicht, aus Gnaden selig zu werden, süß und bequem; es ist aber auch sauer und unbequem und erfordert gedemütigte und lautere Seelen. Schlägt jemand in wahrem Glauben den Weg ein, den das Evangelium bekannt macht, so verliert das Gesetz in einem solchen seine Macht, zu verdammen, wie er selbst in seinem Gewissen erfährt. Er wird los vom bösen Gewissen. Es wird gereinigt von den toten Werken durch das Blut Christi, der sich selbst ohne allen Wandel Gott geopfert hat durch den ewigen Geist. Er hat kein Gewissen mehr von den Sünden und eine Freudigkeit auf den Tag des Gerichts. Er fragt: Wer hat Recht zu mir? Wer will verdammen? Er nahet sich mit Freimütigkeit zum Gnadenthron und ist eben auf diese Weise geschickt, Gott zu dienen ohne Furcht in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit. Das heißt dann evangelisch sein, und wer's so noch nicht kann, und derer sind äußerst wenige, die es so können, der mag sich noch wohl enthalten, sich als evangelisch zu rühmen und vielmehr bekennen: Ich habe nur ein leises Wörtlein davon vernommen, hungere und durste aber und jage darnach, ob ich's ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin.

Drittens. Das Evangelium behandelt den Sünder nach seiner wahren, d.i. sündhaften Beschaffenheit, wie ein Arzt den Kranken. Das tut wiederum ausschließlich das Evangelium, nicht das Gesetz. Letzteres setzt bei dem Menschen eine Beschaffenheit voraus, wie er sie haben könnte und haben sollte, aber nicht mehr besitzt, sondern längst verloren hat. Daran stört es sich aber nicht, sondern verhält sich, wie der hohe Rat gegen Judas, dem er sagte: Da siehe du zu! Es verhält sich gegen den Menschen wie ein Gläubiger gegen seinen Schuldner, den er zur Zahlung anhält, ohne sich darum zu bekümmern, ob er sie leisten kann oder nicht; das sind des Gläubigers Sachen nicht. Kann der Schuldner es, ist's ihm lieber, kann er's nicht, so nimmt er seine Maßregeln danach, und die gingen ehemals so weit, daß er den Schuldner samt seinen Kindern verkaufen lassen konnte. Barmherzigkeit ist dem Gesetz fremd. Es fordert und bleibt am Fordern. Es sagt und gebeut: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst! Sei geduldig, sei sanftmütig, habe keine böse Lust oder Neigung, habe keine sündliche Regung nach Bewegung weder in deinem Leibe noch in deiner Seele; steigen die Versuchungen noch so hoch, sie seien dir nur das, was dem Golde die heißeste Glut, wo es sich eben am kräftigsten als Gold erweiset, das wohl geschmolzen, aber nicht verbrannt werden kann! So steht es da, fest, gebieterisch, feurig. Sagt der Mensch: Das ist mir zu viel, dazu bin ich nicht imstande, so und in dem Maße vermag ich es nicht, so kehrt sich das Gesetz nicht daran. es nimmt darauf durchaus keine Rücksicht, sondern erklärt: Kannst du es nicht, so bist du des Todes. Sagt jemand: Wollen des Guten habe ich denn doch, so erwidert es: Wollen genügt mir nicht, sondern das Vollbringen muß da sein, und zwar ein vollkommenes und dem göttlichen Gesetz ganz gleichförmiges; denn das Gesetz läßt sich in keine Kapitulationen ein. So setzet es das Dasein des göttlichen Ebenbildes bei uns voraus, und dies ist der Grund, worauf es sein ganzes Gebäude errichtet. Weil wir's aber schon längst verloren haben, ja mit einer Gesinnung geboren werden, welche Feindschaft gegen Gott und dem Gesetz nicht untertan ist, auch nicht zu sein vermag, so können wir auf diesem Wege durchaus nicht fortkommen. Ganz anders das Evangelium. Es ist jenem barmherzigen Samariter zu vergleichen, welcher den Menschen fand, den die Mörder halb tot und ganz beraubt hatten liegen lassen, welcher Wein und Öl in seine Wunden goß, ihn auf sein Tier lud und ihn auf seine Kosten in der Herberge pflegen ließ. Das Evangelium tritt zu dem Menschen als zu einem tief gefallenen Sünder; tritt zu ihm wie ein Arzt zu dem Kranken, wie ein Bürge zu einem, der in Not und Schulden steckt, wie ein Befreier zu dem, der in Ketten und Banden liegt, wie eine Mutter zu ihrem betrübten Kinde. Es bricht Hungrigen das Brot, führet die Elenden ins Haus und kleidet die Nackten. Mit kräftiger Hand greift es zu, den Verlornen mitten aus den lodernden Flammen zu reißen und den Ertrinkenden aus den Fluten. Es weiß gar wohl, welch' ein elendes Ding es ist um aller Menschen Leben und tritt demselben ratend, tröstend und helfend gegenüber. Mit einem Wort: Es verkündigt einen Jesum, der eben deswegen so heißt, weil er sein Volk selig macht von ihren Sünden. Es setzt Blinde, Lahme, Krüppel, Sünder, Besessene, also lauter Elende, es setzt solche voraus, die schwerlich und mannigfaltig gesündigt, die Gottes Zorn und Ungnade und die ewige Verdammnis verdient haben, die noch immerdar zu allem Bösen geneigt und fähig sind, die jeden Tag in Gefahr stehen, sich selbst in ein ewiges Verderben zu stürzen, ein Raub des Teufels und aller Sünden zu werden und weder Lust noch Kraft zu einigem Guten besitzen, es also bedürfen, daß sie von Grund auf erneuert werden, daß ganz von vorne mit ihnen angefangen, daß sie aufs neue geboren, ja aufs neue geschaffen werden. Je gründlicher, aufrichtiger und unumwundener jemand sich unter diese Wahrheiten demütigt, desto mehr ist der Acker seines Herzens für das Samenkorn des Evangeliums zubereitet und empfänglich gemacht; je weniger aber jemand das will, desto mehr ist er vom Reiche Gottes entfernt. Räumt's also doch nur getrost ein, ihr bekümmerten Seelen, daß ihr wirklich so seid, wie ihr euch ja fühlet! Gesteht's Gott und euch selbst nur demütig ein, daß euer Schaden verzweifelt böse, und euer Schmerz unheilbar sei. Ihr habt nicht Ursache, deswegen zu verzagen, sondern vielmehr zu hoffen, ja zu vertrauen. Denn die Gesunden bedürfen ja des Arztes nicht, sondern die Kranken, und die Kränkesten am allermeisten. Ihr aber, denen es mit dem Evangelio so sehr gleichviel ist, und die ihr demselben eine seichte Moral und Pflichtenlehre weit vorzöget, sehet doch, wie fern ihr noch eben deswegen stehet, weil ihr nicht wisset und nicht wissen wollt, wovon ihr gefallen seid. Wollt ihr evangelische Christen sein, so fangt mit der Erkenntnis an, daß ihr keine Christen sondern Heiden seid, daß ihr mitten im Tode lieget, daß ihr kein Haar schwarz oder weiß machen könnt. An dieses Nichts wird der Herr dann die Erde seine Gnade hangen, und werdet's erfahren, daß er ein Gott ist, der Gottlose gerecht spricht und Sünder selig und aus nichts etwas macht.

Was soll denn das Gesetz? Diese Frage stellt selbst der Apostel Gal. 3,19 auf und unterbricht damit seinen herrlichen evangelischen Vortrag, da er unter andern gesagt hatte: Die Verheißung ist über 430 Jahre älter als das Gesetz, kann also durch dasselbe so wenig aufgehoben werden, als ein ratifiziertes Testament durch spätere, von einem andern herrührende Zusätze. Das Erbe ward aber durch Verheißung frei geschenkt, also nicht durchs Gesetz erworben. Was soll denn das Gesetz? fragt er nun. Auf diese Frage gibt der Apostel hin und wieder erstaunliche Antworten, welche man, wenn sie nicht durch ein apostolisches Ansehen gehalten würde, bedenklich und verwegen finden dürfe. Denn ist es nicht erstaunlich, wenn er z.B. Hebr. 7,18 sagt: Das vorige Gesetz wurde aufgehoben darum, daß es zu schwach und nichts nütze war. Denn das Gesetz konnte nichts vollkommen machen. Ist es nicht befremdend, wenn er Röm. 7,6 sagt: Wir sind vom Gesetz los und ihm abgestorben; und Kap. 4: Das Gesetz richtet nur Zorn an; denn wo das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung. Da dringt sich sehr natürlich die Frage auf: Was soll denn das Gesetz? eine Frage, welche der Apostel genugsam beantwortet. Wie sind denn die Gebote und Ermahnungen, wie sind der Tadel, die Verweise und Ermunterungen, insbesondere in so fern sie an Kinder Gottes, an wahre Gläubige und Bekehrte gerichtet sind, eigentlich anzusehen? Nicht als sollte ihnen darin der eigentliche Weg zur Rechtfertigung und Seligkeit angewiesen werden; nicht als könnten sie dies aus sich selbst, oder deswegen weil sie bekehrt sind, ohne neuen Gnadenzufluß üben; bleibt in mir, sagt Christus, so werdet ihr viele Frucht bringen, denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Das Gesetz mit seinen Forderungen und Geboten soll überhaupt dazu dienen, uns zu der erforderlichen Erkenntnis unserer Sünde, unserer Schuld und Strafbarkeit zu bringen, die Einbildung unserer eigenen Kraft und Gerechtigkeit zu zerstören und so unsere Herzen fürs Evangelium zuzubereiten. Aus dem Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde. Je höher es seine Forderungen spannt, desto tiefer demütigt es uns. Es ist wie ein Hammer, unsere harten Herzen darin zu zermalmen, wie ein Feuer, die Stoppeln unseres Selbstvertrauens zu verbrennen, und wie ein Stab, unsere falschen Stützen zu zerbrechen. Es ist geeignet, die Seele mit Angst und Schrecken zu erfüllen ohne ihr Kraft mitzuteilen, und den Schaden aufzudecken ohne ihn zu heilen, sie also sehr elend zu machen, wie auch der Apostel in diesen gesetzlichen Schrauben aufschrie: Ach! ich elender Mensch! In diese Presse muß jeder hinein, in diesem Mörser muß jeder zerstoßen werden. Jeder muß elend werden und Leide tragen. Selig aber sind, die Leide tragen, denn sie sollen getröstet werden. Dies ist der Gebrauch des Gesetzes, hauptsächlich im Anfang des Gnadenwerks. Weiterhin dienen die Gebote zu Kennzeichen, woran man prüfen soll, ob man mit in die Zahl der Kinder Gottes gehöre. Übst du diese Gebote? Merkst du an der Frucht, daß ein guter Baum in dir sein müsse? Zeigen sich bei dir die Früchte des Geistes? Tust du allen Fleiß daran, deine Berufung und Erwählung festzumachen? Hast du wenigstens Lust und Liebe nach dem inwendigen Menschen, nach allen Geboten Gottes zu leben? Strebest du darnach, betest und ringest du drum? So sollen die Anforderungen, die das Wort an uns macht, uns zur Selbstprüfung mahnen, wie wir uns verhalten und uns überall erweisen sollen als die Diener Gottes, Heilige und Geliebte. Wir sollen uns keineswegs so gehen lassen, sondern eifrig bedacht sein, abzulegen die Sünde, die uns immerdar anklebt und träge macht, fortzufahren mit der Heiligung, dem Ziele nachzujagen, ob wir's ergreifen möchten, nachdem wir von Jesu Christo ergriffen sind, auszuziehen den alten, anzuziehen den neuen Menschen. Deswegen stehen alle die Gebote und Ermahnungen in der Heiligen Schrift, uns zu einem werktätigen Christentum anzuspornen; sie stehen da zu unserer Beschämung und Demütigung. Denn diese werden sich unser bemeistern, wenn wir mit einander vergleichen, was wir sein sollten, und was wir wirklich sind, wie wir uns benehmen sollten und uns wirklich benehmen, wie viel uns noch den dem alten Wesen anklebt und bei aller Gelegenheit durchblickt; vergleichen wir die Liebe Gottes gegen uns mit unserer Liebe gegen ihn, erwägen wir Christi Gnade an uns, sein Leiden für uns und unsere Dankbarkeit gegen ihn, ja bedenken wir unsern Kaltsinn, unsere Gleichgültigkeit, unsere Prätensionen, die wir noch wohl machen wollen, unsere Ungeduld, Weltliebe, Trägheit, erwägen wir dies recht, so wird sich wohl jene Zöllner-Gestalt für uns ziemen, der seine Augen nicht aufheben mochte. Wie gering nur ist der Anfang! Wie häufig bleibt's beim Wollen, das auch manchmal so gar brennend nicht ist; wie ist des Kriechens soweit mehr als des Laufens! Und wie zahlreich ist die Menge derer, die nicht einmal kriechen, die nicht einmal wollen, denen so gut wie gar nichts an ihrer Seelen Heil und Seligkeit gelegen ist! Also Beschämung und Demütigung von allen Seiten. Sind denn keine, die sich ganz und gar Christo zu einem lebendigen und ganzen Dankopfer darstellen? Die Gebote stehen da als Materialien, als Stoff und Anlaß zum Gebet. Augustinus betete: Gib uns, Herr, was du gebeut hast und befiehl dann, was du willst, so sollst du nicht vergeblich befehlen. Gebeut Gott: Machet euch ein neu Herz und einen neuen Geist, so betet David: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist. Gebeut Christus: Trachtet nach dem Reiche Gottes, so lehrt er uns zugleich beten: Dein Reich komme! Ermahnte der Apostel, so betete er zugleich: Gott schaffe in euch, was vor ihm wohlgefällig ist! Die Forderungen machen uns arm. Was bleibt uns denn übrig als uns wie die Armen zu benehmen, d.h. zu bitten und uns bei dem zu melden, der da reich ist über alle, die ihn anrufen, daß er uns in seine himmlische Pflege und Versorgung aufnehme? Ja, wenn Christus uns beten lehrt: Dein Name werde geheiligt, dein Wille geschehe, leitet er uns denn nicht damit an, die ganze Summe aller Gebote in Bitten umzuwandeln? Woher kommt's also, daß wir nicht mehr haben? Jakobus antwortet uns darauf: Daher kommt's, daß ihr nicht bittet. Betet deswegen stets in allem Anliegen mit Bitten und Flehen im Geist und wachet dazu mit allem Anhalten und Flehen für alle Heiligen! Stoff und Anlaß genug zum Beten liebt in den Geboten. Wie lange und viel werden wir nicht noch wohl zu beten haben, ehe wir dahin gelangen, jene Gebote zu erfüllen, wo es z.B. heißt: Sorget nichts; wo es heißt: Danksaget für alles; wo es heißt: Freuet euch allewege, liebet euern Nächsten wie euch selbst; und wie selig werden wir sein, wenn wir uns das wirklich erbetet haben! Die Gebote sollen uns auch zu Erweckungsmitteln dienen, zu fleißig wiederholten, ja beständigen Ausgängen zu dem Herrn Jesu, zum steten Zufluchtnehmen zu ihm, zum Glauben an ihn, zum Bleiben in ihm. Dienen sie uns dazu, was wird das für eine fleißige Korrespondenz, Gemeinschaft und Umgang mit Jesu Christo veranlassen, wie unentbehrlich wird er uns werden, wie werden wir uns genötigt sehen, in ihm bleiben zu müssen und stets auf ihn zu schauen wie dort die Kinder Israel! Wie werden wir alsdann in jedem Gebot eine Aufforderung zum Glauben an den Jesum finden, ohne welchen wir nichts, durch welchen wir alles vermögen! Und wenn wir so verfahren, wie werden wir alsdann auch viel Frucht bringen, wodurch dann nicht wir, sondern der Vater gepreiset wird! So stehen denn die Gebote da als Beweggründe, Jesum Christum und seine Gnade desto höher zu schätzen, desto inniger zu lieben und ihm desto unverrückter anzuhangen. Das Fleisch wird fortwährend wider den Geist, so wie diesen gegen jenes gelüsten. Der alte Mensch wird sich sträuben und sich nicht unter das Joch wollen biegen. Wir werden mannigfache Ursache finden, dem Jakobus nach zu bekennen: Wir fehlen mannigfaltig. Und ach, wie köstlich wird uns das den Gekreuzigten machen, der um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferwecket ist, wie wird uns da ins Evangelium jagen, worin die Gerechtigkeit offenbaret wird, die vor Gott gilt, und die da kommt aus Glauben in Glauben, wie geschrieben stehet: Der Gerechte wird seines Glaubens leben! Wie teuer wird uns derjenige werden, der des Gesetzes Ende ist, und daß, wer an ihn glaubt, gerecht ist; wie werden wir uns in ihm erfinden lassen und in ihm eine zugerechnete Gerechtigkeit zu haben!

Endlich stehen die Gebote da, um uns den Reichtum wie der Gerechtigkeit so der Kraft zu offenbaren, welche wir haben in Christo Jesu. Mag immerhin weder das eine noch das andere in uns selbst sein, sondern vielmehr Verdammlichkeit und Ohnmacht, genug daß wir vollkommen sind in ihm, unserm Haupte, in welchem alle Fülle der Gottheit leibhaftig wohnet. Er kann euch stärken laut meines Evangelii, sagt der Apostel, und der Psalmist rühmt: Er gibt seinem Volke große Kraft. Sind wir denn schwach, so sind wir doch stark in ihm. Können wir gleich nicht stehen gegen den großen Haufen, so wider uns kommt, dennoch überwinden wir in allem weit um deswillen, der uns geliebt hat. Ist's uns zu viel, so ist's doch ihm nicht. Und er hat's übernommen seine Gebote in unser Herz zu schreiben und in unsern Sinn zu geben und solche Menschen aus uns zu machen, die in seinen Geboten wandeln, seine Rechte halten und darnach tun. Und so heißt es denn zuletzt immer wieder: Glaube an den Herrn Jesum, so wirst du gerecht, so wirst du stark, so wirst du geheiligt, so wirst du selig.

Über unsern vorliegenden Gegenstand wäre noch wohl manches zu sagen; ich breche aber hier ab, und wir schließen mit der Frage: Hat dann das göttliche Gesetz, haben die Gebote, Warnungen, Ermahnungen und Ermunterungen die genannten Wirkungen bei uns erwiesen, und bringen sie dieselben noch hervor? Lernen wir daraus täglich unsere sündlich Art je länger je mehr erkennen? Beugt, demütigt, beschämt uns das? Werden wir dadurch immer ärmer in uns selbst und gnadenhungriger? Spüren wir in uns außer der Lust und Liebe zu allem Guten, auch zugleich, welch' ein geringer Anfang dieses Gehorsams nur noch in uns sei, wenn gleich so, daß wir nicht allein nach etlichen, sondern nach allen Geboten Gottes zu leben suchen? Treibt uns dies zu einem anhaltenden Gebet, treibt es uns zu einem unaufhörlichen Zufluchtnehmen zu Christo, wird er uns immer unentbehrlicher und teurer? Dann werden wir auch das Ende unseres Glaubens davon tragen, nämlich der Seelen Seligkeit. Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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