Krummacher, Gottfried Daniel - Die hohepriesterliche Segensformel - 4. Predigt.

Krummacher, Gottfried Daniel - Die hohepriesterliche Segensformel - 4. Predigt.

4. Mose 6, 25.
Jehovah lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig.

Dieser Teil des hohepriesterlichen Segens schildert insbesondere das Werk des Sohnes, welches der Grund alles Segens ist, der auf das Haupt verfluchter Sünder trieft.

Was die Ordnung der Worte betrifft, will es mich bedünken, als werde die Wirkung vor der Ursache genannt. Jehovah sei dir gnädig, ist die Ursache, daß er sein Angesicht über dir leuchten läßt, wie es in der Schrift oft geschieht. Doch ändert dies in der Sache nichts.

Laßt uns aber die zweite Hälfte dieses Segens zuerst betrachten: Jehovah sei dir gnädig. Welch ein Wort! Unser Geist bücke sich, und unser ganzes Innere zerfließe, indem der ewige Hohepriester dies Wort über uns Sünder hinsagt. Er sage es zugleich in uns herein, denn seine Worte sind Geist und sind Leben, so werden wir leben und willig sein, ihm aufs neue Huld und Treue zu verschreiben, weil sein Geist uns dann wird treiben.

Wir erwägen

  1. das große Wort: Jehovahs Gnade: Sei gnädig;
  2. den hohepriesterlichen Segenswunsch: Sei es dir.

Am liebsten ergösse sich das Gemüt ja wohl statt der betrachtenden Reflexion in laute oder stille Empfindung der Anbetung, des Lobes, des Dankens, des Sehnens, der Thränen und Freudenbezeugungen, in einzelne Ausrufungen und Hallelujas; doch müssen wir diese dem stillen Kämmerlein überlassen, denn dahin gehört das Hohelied, in welchem die Braut sagt: O, daß ich dich, mein Bruder, draußen fände, daß ich dich küssen möchte, und mich niemand höhnete! Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes! Wenn sich der König herwendet, giebt meine Narde ihren Geruch. Unser Gottesdienst ist aber ein vernünftiger, und so walte auch jetzt die Betrachtung der Empfindung vor, wie das Ausstreuen des Samens der Frucht.

Jehovahs Gnade. Er sei gnädig! Was will das sagen? Was verstehen wir unter dem Wort „Gnade“? Was für einen Begriff verknüpfen wir damit, nämlich aus dem Gesichtskreis, den uns das göttliche Wort eröffnet, betrachtet?

Auf jeden Fall bezeichnet das Wort Gnade etwas gutes, angenehmes, nützliches. Es schließt überall eignes Verdienst aus, denn dem Verdienst gebührt der Lohn. Der Begriff von Gnade schließt auch die Vorstellung von Recht aus, denn aus dem Recht entspringt Schuldigkeit und Pflicht. Dies sollten sich besonders diejenigen wohl merken, die so geneigt sind, aus Gnade ein Recht zu machen und Gott die Pflicht aufzubürden, alle gleich zu behandeln, eine Gesinnung, die, wenn und solange sie fortdauert, von der göttlichen Gewogenheit von rechtswegen ausschließt. Aber auch diejenigen möchten sich dies merken, welche sich in sich selbst vergeblich nach einem selbsterworbenen Rechte umsehen, auf Gottes Wohlwollen Ansprüche zu machen. O, wollet doch von keinem andern Rechte wissen als von demjenigen, was euch die göttliche Verheißung verliehen! Sie sind der Saum seines Kleides. Wer ihn krank anrührt, wird gesund, wer unrein, wird rein.

Das Wort Gnade hat im allgemeinen verschiedene Staffeln. Im geringsten Sinne werden mit diesem Worte alle Gutthaten hoher Personen, sonderlich die der Landesherren gegen ihre Untergebene benannt, auch wenn dabei die Billigkeit, ja große Verdienste von Seiten des Empfängers zum Grunde liegen. Die Großen der Erde wollen wegen ihrer, ihnen von der Vorsehung verliehenen Hoheit, vermöge welcher sie gewissermaßen Repräsentanten des Königs aller Könige sind, nichts als einen ihnen geleisteten Dienst oder als ein gegen sie erworbenes Recht anerkennen, sondern jenes als ehrenvolle sich selbst lohnende Schuld, dies aber als gütige Willkür angesehen wissen. Wer, auch bei den größten Verdiensten, anders gegen sie aufträte, würde übel fahren. Sie sind darin auch gar nicht zu tadeln, denn sie sind Schatten der göttlichen Majestät, wie es Psalm 82,6 heißt: „Ich habe gesagt: Ihr seid Götter. Aber ihr werdet sterben wie Menschen.“ Jahrelang kann daher jemand bei den Großen der Erde um Bezahlung einer Schuld bitten, während sie Geschenke mit Händen ausspenden. Wer ist auch, der nicht nach strengem Beweis fragt, wenn selbst von einer Kleinigkeit als Recht die Rede ist? Man sehe sich also besonders vor der allerhöchsten, unendlichen Majestät Gottes wohl vor. Der Himmel ist sein Stuhl, und die Erde seiner Füße Schemel. Wer hat ihm zuvor etwas gegeben, das ihm vergolten werde?

Das Wort Gnade nimmt eine höhere Bedeutung an, wenn ein Landesherr jemandem, der durch Übertretung des Gesetzes überhaupt, oder durch Beleidigungen, die er dem Staatsoberhaupte selbst zugefügt, wenn er einem Teil des Staates, der sich wider ihn empört, ihn und seine Diener beschimpft hat, die verdiente Strafe erläßt oder sie gar mit Wohlthaten überhäuft. Doch hier ist nicht von solcher geringen, sondern die Rede ist hier von der allerhöchsten Gnade des Allerhöchsten, von der Gnade unsers Herrn Jesu Christi. Oft bezeichnet das Wort Gnade den guten, seligen Zustand, worin ein Mensch durch dieselbe versetzt worden ist; die Gnade im Menschen, die neue Kreatur, Christum in uns, die göttliche Natur. Mir ist Barmherzigkeit widerfahren, sagt Paulus. Das ist die rechte Gnade Gottes, darin ihr steht, schreibt Petrus, und Ebr. 12 wird die wunderbare Ermahnung gegeben: Habt Gnade, durch welche wir sollen Gott dienen, ihm zu gefallen mit Zucht und Furcht. In dieser Beziehung kann man sagen: Er hat viel, weniger, mehr Gnade, und wünschen, daß Gott viel Gnade geben möge, so wie ermahnen, darin zu wachsen. In dieser Beziehung kann es Zeiten geben, wo sich die Gnade in demjenigen, der sie besitzt, vor dem Bewußtsein und der Empfindung verbirgt, so daß er wenig oder nichts davon empfindet und das, was er davon gewahr wird, nicht als Gnade ansehen kann. Alsdann ist es eine zeitgemäße Ermahnung, auf die Gnade zu trauen, nicht insofern sie in uns, sondern insofern sie in Christo ist, und unser Leben außer uns, in ihm zu suchen, dieweil wir mitten im Tode liegen. Denn alle die guten Dinge in uns haben keinen längern Bestand, als es Gott gefällt, sie zu erhalten und uns den Geist zu geben, daß wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist. Es giebt Zeiten, wo eine Seele gar nicht zu fragen braucht: „Habe ich Gnade?“ und es gibt andere, wo sie selbst diese Frage gar nicht zu ihrer Befriedigung beantworten kann.

Gnade bezeichnet ferner einen mehrfachen Gegensatz. Am grellsten tritt der Gegensatz von Zorn und Gnade hervor, wovon das Eine das Andere aufhebt. Denn wenn Gott mit den Seinen zürnt in dem Augenblick seines Zornes, so zürnst er wie ein seine Kinder aufs zärtlichste liebender, nur ihre Unarten hassender Vater und sie, sie sagen: „Ich will des Herrn Zorn tragen, denn ich habe wider ihn gesündigt. Es wird uns aber doch geholfen.“ Übrigens giebt es, wie Gefäße des Zorns, so auch Gefäße der Barmherzigkeit. (Röm. 9,22).

Gnade ist auch ganz etwas anderes, als Güte. Gütig ist er gegen alle, selbst gegen die Tiere, gegen Gut und Böse, selbst gegen die Undankbaren und Boshaftigen, ohne daß sie dankbar und gütig werden, obschon seine Güte, die alle Morgen neu ist, sie zur Buße leitet. Ihre Beweise sind zahllos, und alles, was jemand nach Leib und Seele Gutes genießt, verdankt er derselben. Aber das ist doch weit weniger als Gnade. Unter der Güte Gottes häuft sich der Mensch, der sie nicht anschauet und sich zur Bekehrung leiten läßt, Zorn auf den Tag des Zorns. Über jenem reichen Manne war die Güte Gottes so groß, daß er alle Tage herrlich und in Freuden lebte. Am Ende aber kam er an den Ort der Qual, wo die Güte auch nicht einmal einige Tropfen Wasser mehr für ihn übrig hatte. Die Güte läuft zu Ende, die Gnade nie, sondern steigert sich. Gnade und eigenes Recht bilden einen Gegensatz, wovon das Eine das Andere aufhebt. Wenn David Ps. 101 sagt: „Von Gnade und Recht will ich singen“, so meint er das nämliche Recht, wovon Jesaias sagt: „Zion wird dadurch erlöset“, und Johannes: „Er ist gerecht, daß er uns die Sünde vergiebt“, ja Paulus: „Er erweiset seine Gerechtigkeit in Vergebung der Sünden.“ Wer aber auf ein Recht außer dem Blute Christi sich stützet, der fährt übel, wie geneigt der selbstgerechte Mensch auch dazu ist. Der Anspruchsrechte aber, welche dies Blut dem bußfertigen Sündern an Gottes Liebe giebt, rühmt er sich im Glauben nicht zu freudig und kühn. Gnade ist ein Gegensatz gegen Verdienst. Ich bemerke, daß das Wort Verdienst wohl in unserer Bibelübersetzung, nicht aber in den neutestamentlichen Schriften selbst vorkommt, sondern da heißt es Werk. Den Gegensatz zwischen Werk oder Verdienst und Gnade hebt der Apostel besonders in dem Dilemma Röm. 11,6 hervor, wo er sagt: „Ist es aus Gnaden, so ist es nicht aus dem Werk, sonst würde Gnade nicht Gnade sein. ist es aber aus Werken, so ist es nicht Gnade, sonst wäre das Werk nicht Werk.“

Der Apostel erläutert dies mit dem Exempel Jakobs und Esaus, wenn er sagt: Ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses gethan hatten u.s.w. So liegt es nun nicht an jemands wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Er hat uns selig gemacht und berufen, nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir gethan hatten, sondern nach seinem Vorsatz und seiner Gnade. Und selbst zu Mose. Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich.

Welch' ein ungemeiner Trost- und Glaubensgrund liegt aber in diesem Gegensatze der Werke und der Gnade für alle diejenigen, die so verarmt sind, daß sie ihrerseits keinen Vorrat von guten Werken, Kräften und Gesinnungen aufzuweisen haben, worauf sie ihren Hoffnungsanker senken können, wenn sie sehen, daß es derer auch nicht bedarf, sondern daß die Gnade, eben weil sie das ist, Hoffnungsgrund genug darbietet. Sie gleicht einem Gewölbe, das eben in seiner Wölbung die Kraft hat, die schwersten Lasten zu tragen, ja dadurch nur selbst desto fester schließt. O, Gnade als Gnade erkennen und ihr trauen, das giebt Grund ohne andern Grund!

Laßt mich euch noch auf einen fünften Gegensatz aufmerksam machen, den die Gnade als Quelle gegen den freien Willen und gegen das Gesetz als Form bildet. Unter freiem Willen verstehen diejenigen, welche dem Menschen, wie er jetzt ist, denselben zuschreiben, nicht, wie wir alle, die Freiheit vom Zwange, sondern ein Vermögen, unabhängig und selbstständig sich zum Guten zu entschließen und es zu üben, das Schlechte aber zu meiden und zu unterlassen. Das Evangelium weiset dies gänzlich zurück. Es lehrt von der einen Seite, der Mensch sei tot in Sünden und müsse sein Leben außer sich in Christo suchen; und auf der andern: Aber der Gott aller Gnade vollbereite, stärke, kräftige, gründe uns. Das Evangelium verweiset daher den Menschen ganz an die Gnade, so wie jene lehre alles von sich selbst erwartet. Das Gesetz kann zwar und soll als ein Stück des Gnadenbundes betrachtet werden, wo die Verheißung die Gestalt der Forderung annahm; aber seiner Natur nach fordert es und spricht: Thue mir das, wogegen die Gnade fragt: Was willst du, daß ich dir thun soll? Das Gesetz hat Verheißungen, die aber an die Bedingungen des eignen und zwar eben so vollkommnen als aufrichtigen Gehorsams geknüpft sind. Das Evangelium besteht aus lauter Verheißungen, die frei und umsonst erteilt werden. Dieses will Glauben, jenes Werke.

Natur und Gnade bilden auch einen Gegensatz. Wir lehren wohl die gründliche Verderbnis der menschlichen Natur. Aber damit wird nicht geleugnet, daß Gott durch seine Macht du Güte dieser Natur, deren Grundgesinnung Feindschaft gegen Gott ist, ohne sie zu erneuern, manches an sich Gute erhält. Freundlichkeit z.B., Wohlthätigkeit, Geduld sind nicht überall, wo sie sich finden, Früchte des Geistes, die aus der Wiedergeburt entspringen, sondern im Grunde von keinem höhern Werte, als ähnliche Eigenschaften, welche wir an den Tieren wahrnehmen. Hingegen ist ein Quentlein wahrer Gnade mehr wert als die ganze Welt, möchte sie auch mit einer sehr ungünstigen Natur zu streiten haben, denn sie beweiset die Gemeinschaft mit Christo, und die ist mehr wert als Himmel und Erde. Dies begründet nun einen wesentlichen Unterschied in der Lehre und in dem Verhalten, was wir aber hier nicht weiter nachweisen wollen.

Laßt uns aber jetzt den Begriff festsetzen, den wir von Gnade uns machen müssen. Gnade ist die Gewogenheit des dreieinigen Gottes gegen solche, die dieser Gewogenheit nicht nur nicht würdig sind, denn wer wäre das, selbst unter allen Engeln, da die Himmel nicht rein vor ihm sind? sondern die ihrer ganz und gar unwürdig, ja seines grimmigen Zornes wert sind. Gnade ist der ganze, unerschöpfliche Vorrat aller Heilsgüter. Höret nun aus vielen einige Sprüche: Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist die Gnade viel mächtiger. Aus Gnaden seid ihr selig geworden. Wir werden ohne Verdienst aus seiner Gnade gerecht. Durch seine herrliche Gnade hat er uns angenehm gemacht in dem Geliebten. Er erzeiget den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade. Durch seine Gnade werden wir gerecht und Erben des ewigen Lebens. Mit Recht ermahnet deswegen Petrus, unsere Hoffnung vollkommen auf dieselbe zu setzen. Sie ist die Quelle alles Heils und dessen Ursache, dessen Urheberin, Inhaberin und Ausspenderin. Sie ist kein bloßer Begriff, sondern Leben und Wesen. Dies wird sich deutlich herausstellen, wenn wir einige Eigenschaften und Wirkungen der Gnade hervorheben. Wir achten zuerst auf diejenigen, welche die gereinigte Kirche überhaupt anerkennt und dann auf das, was die reformierte Kirche insbesondere davon rühmt; denn die römische vermengt auf eine seltsame Weise Gnade und freien Willen.

Gnade ist das Notwendigste. Niemand kann sie zum Seligwerden entbehren, ja der eine ebenso wenig, als der andere, eigentlich auch keiner mehr, als ein anderer, möchte es auch so scheinen. Jedoch wendet sie eine solche Kraft an, als zur Erreichung ihres Zweckes nötig ist. Niemand darf daher denken, er habe von Haus aus Verstand genug, Kraft und Tugend genug, so daß ihm die Gnade gar nicht, oder doch nicht so not thue, als anderen. Niemand darf meinen, er wolle das schon durch eigenen Fleiß ersetzen, denn wie in der Gnade alles Gute und Heilsame zusammengefaßt ist, so ist außer ihr nichts als Schein. Wie könnte sonst Petrus empfehlen, vollkommen auf die Gnade zu hoffen? Sie ist aber notwendig zum Anfang der Gottseligkeit, so wie zum Wachstum und zur Vollendung. Siehe also hier das eine, was not ist: Es ist Gnade.

Sie hat ferner die erwünschte Eigenschaft, daß sie erlangbar ist. Wir wissen, daß das von vielen irdischen Gütern nicht gerühmt werden kann, sonst würden derer mehr sein, die besitzen. Daß aber Gnade erlangbar sein, wie viele Exempel giebt es davon zu allen, auch zu unsern Zeiten, an unserm und an andern Orten, aus allerlei Klassen von Menschen, vornehmen und geringen, guten und bösen. Wie deutlich versichert uns auch das Wort. Kommet, heißt es ja ganz allgemein in den Haufen der Zuhörer hinein, kommet, denn es ist alles bereitet! Wer da will, der komme und nehme des lebendigen Wassers umsonst! Gott recket ja sogar seine Hand den ganzen Tag aus gegen ein Volk, das sich nicht sagen läßt, und alles, was mir mein Vater giebt, kommt zu mir. Wer bittet, empfähet, wer suchet, findet, wer anklopft, dem wird aufgethan. Schon der Seele, die nach dem Herrn fragt, ist er freundlich. Niemand hat also Ursache, im geringsten zu zweifeln, ob er willkommen sei, wenn er um Gnade fleht, wenn er mit voller Zuversicht zu Jesu kommt, möchte er auch noch gleichsam von Sünden triefen und wie der verlorene Sohn, ohne Kleider und Schuhe, sich aufmachen und zum Vater kommen, denn Gnade ist erlangbar.

Sie ist zuverlässig und gewiß. Es ist ein Salzbund, es sind gewisse Gnaden Davids. Wir können unmöglich etwas Gewisseres haben, als ein Wort Gottes. Und das haben wir, denn Gott sagt: Ich will gnädig sein ihrer Missethat und ihrer Sünde und Untugend will ich nicht mehr gedenken. Das soll, das kann uns völlig genug sein. Mehr brauchen wir nicht. Und dennoch haben wir mehr. Wir haben mehrere göttliche Eidschwüre, welche durch die Sakramente sichtbar werden; denn da Gott den Erben der Verheißung über die Maßen beweisen wollte, daß sein Rat nicht wankte, hat er einen Eid gethan, auf daß wir einen starken Trost haben. Wer sein Vertrauen allein und ganz und in jeglicher Beziehung auf die Gnade setzt, der bauet auf Felsen, was auch die Natur darein reden mag, ihn zu verleiten, daß er von der Gnade aufs Gesetz und auf eigne Kräfte falle.

Sie ist mitteilsam. Sie wird gegeben. „Thue wohl an Zion nach deiner Gnade“ betet David. „Mir ist Gnade gegeben“ sagt Paulus 1 Korinth. 3,10. „Es war große Gnade bei ihnen allen“, heißt es Apostelgesch. 4,33 von der ersten christlichen Gemeinde, woraus wir zugleich abnehmen können, daß auch eine kleinere Gnade bei jemand sein könne. Wie ein Licht scheinet sie in dunkele Örter, daher betet David Psalm 119: Herr laß mir deine Gnade widerfahren; deine Gnade müsse mein Trost sein„ Erquicke mich durch deine Gnade! Den Heiden wurde Gnade zur Buße gegeben.

Was wollen wir denn davon sagen, wie begehrenswürdig sie sei? Jesus selbst nennt sie ein Gold, das mit Feuer durchläutert ist, wodurch man reich wird, und Petrus bemerkt, sie werde viel köstlicher befunden, als das vergängliche Gold. Ist's niemandem zu verdenken, wenn er sich etwas damit weiß, in einer besondern Gnade beim König zu stehen, was will das denn doch zu bedeuten haben, bei dem Könige aller Könige in besonderster Gnade zu stehen! Müßte man sich das, ich weiß nicht, durch was für Opfer, und was für Mühseligkeiten erkaufen, wer wollte sich bedenken! Und nun wird sie umsonst und unentgeltlich ausgeteilt. Es ist nicht zu verwundern, wenn sich manche Seelen ordentlich schüchtern und blöde machen lassen, ja sich entsetzen über den großen Gedanken: Gott ist mir um Christi willen gnädig, so lange sie das: „Um Christi willen“ nicht recht fassen, daß sie sich bemühen, sich doch irgend eine Art von Würdigkeit zu verschaffen, bis ihnen endlich alles aus der Hand fällt, und sie ausrufen können: Wohlan, willst du denn umsonst Gnade erweisen, so sei es, Herr Jesu, ja, hie bin ich! Habe mich lieb nach aller deiner Herzenslust und nach meinem Bedürfnis! Dies sind einige Eigenschaften der Gnade.

Unsere Kirche nun lehrt nach ihrem Bekenntnis (denn in der Praxis gestaltet es sich anders) am klarsten und unterscheidendsten von der Gnade, wie man außer derselben noch immer dem eignen Thun und Verhalten des natürlichen Menschen etwas beimißt und lebhaft dafür streitet, wie für ein eignes Leben, ohne genau angeben zu können, was man denn meine. Wir rühmen denn insbesondere von der Gnade folgende Eigenschaften. Sie ist's allein, ohne eignes Zuthun. Wir bringen nichts mit, sondern empfangen alles. Wir haben nicht einmal Verstand von der Sache der Gottseligkeit, und wenn wir zugreifen, machen wir's nur verkehrt. Die Gnade bauet ein ganz neues Haus vom Fundament bis zum Dach. Es ist eine neue Kreatur, ein neuer Mensch mit allen seinen Teilen. Das Wörtlein „ohne Zuthun“ ist von großer Bedeutung, aber schwer zu fassen. Die Gnade ist ferner unwiderstehlich und siegt. Welche köstliche Eigenschaft“ Sie wirbt nicht um unsere natürliche Einwilligung, ihr Werk in ihrer Weise zu beginnen, sondern indem sie um dieselbe wirbt, neigt sie heimlich, aber kräftig den Willen, welches eben der Zug des Vaters zum Sohne ist. Sie ist den Schleuderern Davids zu vergleichen, welche auf ein Haar trafen. Jesus ruft zu sich, welcher er will, und sie kommen. Man muß uns nicht wie Scheintote behandeln, die man durch äußere Mittel ins Leben zurückruft, sondern als Tote, die samt Christo lebendig gemacht werden müssen. Die Gnade ist drittens unverlierbar. Wer wirklich Gnade erlangt hat, verliert sie nie wieder; sie bewahrt sich selbst. Es kann jemand sie so verlieren, daß er eine Zeitlang sie nicht spürt, auch so verlieren, wie die Galater, welche der Gnade entfielen, um es durch eigene Werke zu stande zu bringen. Aber es ist ein ewiger Bund. Berge mögen weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund des Friedens nicht hinfallen. Endlich lehren wir, viele seien berufen, aber wenige auserwählt. Es gebe eine Welt, welche der Vater Christo nicht gegeben, für die Christus nicht gebetet hat, die den Geist nicht kann empfangen, weil sie ihn nicht siehet und nicht kennet. Er bittet aber für die, welche ihm gegeben sind, und bittet nicht nur für die Apostel, sondern auch für diejenigen, welche durch ihr Wort an ihn glauben werden. Wer aber zu ihm kommt, den will er nicht hinausstoßen. Kommet denn nur und säumet nicht, denn es ist noch Raum da! Kehret euch an nichts und brechet durch, denn er lebet immerdar und kann immerdar selig machen alle, die durch ihn zu Gott kommen„

Hier breche ich ab, da wir jetzt noch das „sei dir“, sei dir gnädig zu erwägen hätten.

Schließlich sage ich denn nur noch mit einem christlichen Schriftsteller: Das Wort Gnade ist das dunkelste und deutlichste, das schärfste und tröstlichste Wort in der heiligen Schrift: Das dunkelste, weil es niemand ohne das Licht des Heiligen Geistes faßt; das deutlichste, weil es eigentlich keiner Erklärung bedarf; das schärfste, weil es dem Menschen allen Ruhm abschneidet, und das tröstlichste, weil es dem, der nichts hat, alles auf einmal und für immer schenkt.

Sehet denn zu, daß ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfanget! Jehovah sei dir gnädig! Amen.

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