Kierkegaard, Sören Aabye - Verzweiflung ist die Sünde

Kierkegaard, Sören Aabye - Verzweiflung ist die Sünde

Sünde ist: vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen. Sünde ist also die potenzierte Schwäche oder der potenzierte Trotz: Sünde ist die Potenzierung von Verzweiflung. Der Nachdruck liegt auf: vor Gott, oder dass die Gottesvorstellung dabei ist; sie ist es, was Sünde dialektisch, ethisch, religiös zu dem macht, was die Juristen »qualifizierte« Verzweiflung nennen. (…)

Zum Furchtbaren wurde die Sünde dadurch gemacht, dass sie vor Gott war. Daraus bewies man dann die Ewigkeit der Höllenstrafe. Später wurde man schlau und sagte: Sünde ist Sünde; sie ist nicht größer, weil sie gegen Gott oder vor Gott ist. Sonderbar! Selbst die Juristen sprechen von qualifizierten Verbrechen, selbst die Juristen machen einen Unterschied, ob ein Verbrechen beispielsweise gegen einen Beamten oder gegen einen Privatmann verübt wurde, machen einen Unterschied in der Strafe für einen Vatermord und einen gewöhnlichen Mord.

Nein, darin hatte die ältere Dogmatik Recht: Es potenziert die Sünde unendlich, dass sie gegen Gott ist. Der Fehler lag darin, dass man Gott für etwas Äußerliches hielt und dass man anzunehmen schien, nur manchmal würde gegen ihn gesündigt. Aber Gott ist nichts Äußerliches im Sinne eines Polizeibeamten. Es ist zu beachten, dass das Selbst die Vorstellung von Gott hat und dann doch nicht so will, wie er will, dann doch ungehorsam ist. Auch wird nicht nur manchmal vor Gott gesündigt; denn jede Sünde ist vor Gott, oder richtiger, was die menschliche Schuld eigentlich zur Sünde macht, ist das Bewusstsein des Schuldigen, vor Gott zu sein.

Die Verzweiflung potenziert sich im Verhältnis zum Bewusstsein des Selbst; doch das Selbst potenziert sich im Verhältnis zum Maßstab für das Selbst, und unendlich, wenn Gott der Maßstab ist. Je mehr Gottesvorstellung, desto mehr Selbst; je mehr Selbst, desto mehr Gottesvorstellung. Erst wenn sich ein Selbst, als dieses bestimmte einzelne, dessen bewusst ist, vor Gott zu sein, erst dann ist es das unendliche Selbst; und dieses Selbst sündigt nun vor Gott. Daher ist die Selbstsucht des Heidentums trotz allem, was sich darüber sagen lässt, doch nicht annähernd so qualifiziert wie die der Christenheit, sofern es auch hier Selbstsucht gibt; denn der Heide hatte sein Selbst nicht unmittelbar vor Gott. Der Heide und der natürliche Mensch haben das nur menschliche Selbst als Maßstab. Darum kann man von einem höheren Gesichtspunkt aus zwar Recht damit haben, dass man das Heidentum in Sünde liegen sieht, doch eigentlich war die Sünde des Heidentums die verzweifelte Unwissenheit darüber, dass es Gott gibt, dass man vor Gott ist; sie ist, »ohne Gott in der Welt« zu sein. Von einer anderen Seite gesehen, ist es daher wahr, dass der Heide im strengsten Sinn nicht sündigte, denn er sündigte nicht vor Gott; und alle Sünde ist vor Gott. Weiterhin war es einem Heiden auch in bestimmtem Sinn ganz sicher viele Male möglich, so ohne Tadel durch die Welt zu schlüpfen, gerade weil seine pelagianisch-leichtsinnige Vorstellung [bezogen auf die Anhänger des Pelagianismus, die die Erbsünde ablehnten] ihn rettete; dann aber ist seine Sünde eine andere: jene pelagianisch-leichtsinnige Auffassung. Dagegen ist es andererseits auch ganz sicher so, dass ein Mensch häufig gerade durch seine strenge Erziehung im Christentum in einem gewissen Sinn in Sünde stürzte, weil ihm die gesamte christliche Anschauung zu ernsthaft war, vor allem in einer früheren Zeit seines Lebens; dies aber kann ihm dann in einem anderen Sinn auch wieder etwas helfen, diese tiefere Vorstellung davon, was Sünde ist.

Sünde ist: vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder vor Gott verzweifelt man selbst sein wollen. Doch ist diese Definition, obgleich man zugeben muss, dass sie in anderer Hinsicht vielleicht ihre Vorzüge hat (und darunter den wichtigsten, von allen die einzige schriftgemäße zu sein; denn die Schrift definiert Sünde stets als Ungehorsam), ist sie nicht zu geistig? Darauf ist zuallererst zu antworten: Eine Definition von Sünde kann niemals zu geistig sein (wenn sie nur nicht so geistig wird, dass sie die Sünde abschafft); denn Sünde ist gerade eine Bestimmung von Geist. Und danach: Weshalb sollte sie denn zu geistig sein? Weil sie nicht von Mord, Diebstahl, Unzucht und dergleichen spricht? Aber spricht sie denn nicht davon? Ist das nicht auch eine Eigenwilligkeit gegen Gott, ein Ungehorsam, der seinen Geboten trotzt? Wenn man dagegen im Gespräch über Sünde nur von solchen Sünden spricht, vergisst man so leicht, dass alles das bis zu einem gewissen Grad, menschlich gesprochen, in seiner Ordnung sein kann, und doch ist das ganze Leben Sünde, die bekannte Art Sünde: die glänzenden Laster, Eigenwilligkeit, die entweder geistlos oder frech in Unwissenheit darüber bleibt und sein will, in welch einem unendlich viel tieferen Sinn ein menschliches Selbst Gott zum Gehorsam verpflichtet ist bei jedem seiner geheimsten Wünsche und Gedanken, hinsichtlich Hellhörigkeit und Bereitschaft, um auch den kleinsten Wink Gottes zu verstehen und zu befolgen, was sein Wille mit diesem Selbst ist. Die Sünden des Fleisches sind der Eigenwille des niederen Selbst; aber wie oft wird doch ein Teufel durch Beelzebub ausgetrieben, und das Letzte wird schlimmer als das Erste. Denn gerade so geht es zu in der Welt: Zuerst sündigt ein Mensch aus Gebrechlichkeit und Schwäche; und dann - ja dann lernt er vielleicht, Zuflucht zu Gott zu nehmen und sich zum Glauben verhelfen zu lassen, der von aller Sünde erlöst; aber davon sprechen wir hier nicht - dann verzweifelt er über seine Schwäche und wird entweder ein Pharisäer, der es verzweifelt bis zu einer gewissen legalen Gerechtigkeit treibt, oder er stürzt sich verzweifelt wieder in die Sünde.

Die Definition umfasst daher sicherlich jede denkbare und jede wirkliche Form von Sünde; sie hebt das Entscheidende jedoch gewiss richtig heraus: dass Sünde Verzweiflung ist (denn Sünde ist nicht die Wildheit von Fleisch und Blut, sondern die Zustimmung des Geistes dazu) und dass sie vor Gott ist. Als Definition ist sie Buchstabenrechnung; es wäre in dieser kleinen Schrift am falschen Ort und außerdem ein Versuch, der misslingen müsste, wenn ich mich daranmachen wollte, die einzelnen Sünden zu beschreiben. Die Hauptsache ist hier nur, dass die Definition wie ein Netz alle Formen umfasst. Und das tut sie, was man auch sehen kann, wenn man die Probe macht und den Gegensatz aufstellt, die Definition von Glauben, wonach ich in dieser gesamten Schrift als dem sicheren Seezeichen steuere. Glaube ist: dass das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, durchsichtig gründet in Gott.

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