Härter, Franz Heinrich - Der Beinahe-Christ und der völlige Christ

Härter, Franz Heinrich - Der Beinahe-Christ und der völlige Christ

Text: Apostelgeschichte 26, 24-29.

Auf den Landpfleger Felix folgte in Judäa der Römer Portius Festus, welcher zu Cäsarien seinen Sitz hatte; ihm machte der König Herodes Agrippas der Zweite mit seiner verwitweten Schwester Bernice daselbst einen Ehrenbesuch. Festus legte ihm den Handel mit dem Apostel Paulus vor, wie die Hohenpriester aus Jerusalem nach Cäsarien gekommen wären, Paulum bei ihm zu verklagen. „Sie hatten“, so sprach er, „etliche Fragen wider ihn von ihrem Aberglauben und von einem verstorbenen Jesu, von welchem Paulus sagt, er lebe.“ Agrippas aber sprach: „Ich möchte den Menschen auch gern hören.“ „Es soll morgen geschehen“, erwiderte Festus.

Zur bestimmten Zeit kamen Agrippa und Bernice mit großem Gepränge in das Richthaus; die vornehmsten Männer der Stadt bildeten eine glänzende Versammlung, und Festus befahl, Paulum zu bringen. Der Apostel, mit Fesseln an den Händen, trat ein; Agrippas sprach zu ihm: Es ist dir erlaubt, für dich zu reden.“ Da erzählte Paulus zuerst die Geschichte seiner Bekehrung; wie er, ehemals ein wütender Verfolger der Christengemeinden, in der Nähe von Damaskus vom Herrn ergriffen worden, und dann als ein Begnadigter sich dem Dienst des Heilandes geweiht hatte, zuletzt in Jerusalem gefangen genommen worden, wo die Juden ihn töten wollten; dann endigte er mit den Worten: „Aber durch Hilfe Gottes ist es mir gelungen, und stehe bis auf diesen Tag, und zeuge beides, den Kleinen und Großen, und sage Nichts außer dem, was die Propheten gesagt haben, dass es geschehen sollte, und Moses, dass Christus sollte leiden, und der Erste sein aus der Auferstehung von den Toten, und verkündigen ein Licht, dem Volk und den Heiden.“

Da brach Festus in den lauten Ausruf aus: „Paule, du rast! die große Kunst (die übermäßige Gelehrsamkeit) hat dich wahnsinnig gemacht.“ Dem stolzen Heiden scheint das Christentum mit seinen geheimnisvollen Lehren Unsinn und Wahnsinn, denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden1). Ruhig antwortet der Gottesmann: Mein teurer Feste, ich rase nicht, sondern ich rede mit Bedacht und ruhiger Überlegung; der König Agrippas, zu welchem ich freudig rede, weiß Solches wohl, denn was ich sage, ist ihm nicht verborgen; Solches ist nicht im Winkel geschehen.“

Dann wendete sich Paulus geradezu an den König mit der Frage: „Agrippa, glaubst du den Propheten? Ich weiß, dass du glaubst. Agrippas aber erwiderte: „Es fehlt nicht viel, du überredetest mich, dass ich ein Christ würde.“ Paulus aber sprach: „Ich wünschte vor Gott, es fehlte an viel oder an wenig, das heißt, ich wünschte, dass über lang oder kurz, nicht allein Du, sondern Alle, die mich heute hören, Solche würden, wie ich bin, ausgenommen diese Bande.“ Denn diese wünschte er Keinem, wiewohl er sich ihrer nicht schämte.

Agrippas war augenblicklich tief bewegt; er fühlte, wie in seinem Herzen die Macht der göttlichen Wahrheit ernstlich anklopfte, aber er schloss sein Inneres nicht auf. Ein Christ zu werden wäre für ihn, wie er meinte, mit zu großen Opfern verbunden gewesen; darum wurde er nur beinahe ein Christ, und die große Gnadenstunde ging wirkungslos vorüber.

Was dem Agrippas widerfuhr, ist auch im Schoß der Christengemeinde bei Vielen der Fall; Sie werden nur beinahe Christen, aber das völlige Christentum bleibt ihnen fern; und darum leiden so Viele an jener traurigen Halbheit, welche wie eine entkräftende Seuche auf der Christenheit lastet. Dieses Übel ist Schuld daran, dass das Werk des Herrn so langsam voranschreitet, und dass eine große Anzahl Seelen, die schon vom göttlichen Leben berührt waren, wieder zurücksinken in die Welt, und verloren gehen; wollen wir davon genesen, so müssen wir diesen Zustand als einen bedenklichen und wahrhaft gefährlichen erkennen, und das rechte Heilmittel dagegen suchen bei dem göttlichen Arzt. Uns dazu anzutreiben, wollen wir deswegen mit Ernst erwägen, was da sei:

Der Beinahe-Christ und der völlige Christ

I.

Der Beinahe-Christ steht vor uns im Bild des Königs Agrippas. Die zuvorkommende Gnade hat schon Manches an ihm getan, und was er bereits besitzt, ist nicht zu verachten; dieser Agrippas war kein bösartiger Mensch gleich den andern Herodianern, sondern, wie man sagte, ein gütiger, leutseliger Herr; statt der verzehrenden Herrschsucht studiert, und auch die prophetischen Schriften des alten Bundes sorgfältig durchgelesen. Dem Christentum war er keineswegs feindselig; er hatte vor Christo eine gewisse Hochachtung, und war schon öfters durch das, was er von seinem Werk und von seinen Dienern erfuhr, gerührt worden, wie wir es auch in dem Auftritt vor Festus sehen, wo er selber bezeugt, er sei beinahe ein Christ zu werden bereit.

Die Beinahe-Christen sind nicht gerade ungläubige Menschen; sie haben den historischen Glauben an die Bibel, das heißt: die Begebenheiten, die darin erzählt werden, nehmen sie als geschichtliche Wahrheit an, und die wichtigen Lehren des sittlichen Verhaltens, die uns in den Büchern des alten und neuen Bundes reichlich dargeboten sind, erscheinen ihnen als beherzigenswerte Lebensregeln. Sie glauben, dass die Bibel ein ehrwürdiges Buch ist, und großen Segen stiften kann; darum weigern sie sich nicht, zu ihrer Verbreitung beizusteuern, sogar als Mitglieder von Bibelgesellschaften, gewiss, dass wo dieses göttliche Buch, wie sie es nennen, Eingang findet, auch die Zivilisation und eine bessere Gesittung einzukehren pflegt.

Aber dabei bleiben sie stehen, und wenn man ihnen nun die Frage vorlegt, ob sie die Bibel für das wahrhaftige Gotteswort halten, so suchen sie derselben mit halben Antworten künstlich auszuweichen, indem sie etwa sagen: die Bibel enthält Gottes Wort, so wie die Vernunft und die Natur auch Offenbarungen Gottes enthalten; wir müssen dasjenige von derselben auszuscheiden wissen, was bloß der Zeit und dem Volk angehörte, worin die einzelnen Bücher der heiligen Schrift geschrieben wurden.

So stellen sich diese Leute nicht im Gehorsam unter das Wort, sondern mit ihrer Kritik über dasselbe; versteht sich, dass sie nun alles dasjenige ausscheiden, was ihrer Vernunft und ihren Neigungen nicht zusagt, und dies Ausgeschiedene ist gerade das eigentliche Evangelium, nämlich die Botschaft der Erlösung für die Sünderwelt im alten und neuen Bund. So bleibt ihnen nur das Gesetz, welches, wie der Apostel Paulus. schreibt, nicht der lebendigmachende Geist ist, sondern der tötende Buchstabe2).

Was ihnen nun von der Bibel überhaupt gilt, das tragen die Beinahe-Christen auch auf Jesum Christum selber über; sie sprechen von ihm mit großer Hochachtung, nennen ihn wohl sogar den göttlichen Erlöser, aber wovon? Von der Unwissenheit in göttlichen Dingen durch seine mächtige, lichtvolle Lehre, und von der Angst unserer Kämpfe, unseres Leidens und Sterbens, durch sein Beispiel und seinen unschuldigen Kreuzestod. Aber sobald man tiefer mit ihnen eingehen will in das eigentliche Wesen des Glaubens an Christum, so suchen sie meistens künstlich auszuweichen; drängt man sie jedoch, sich zu erklären, ob sie Christum für den wahren eingeborenen Sohn Gottes halten, so ist man nicht wenig erstaunt zu vernehmen, dass ihnen Christus in demselben Sinn ein Sohn Gottes scheint, wie alle Menschen Kinder Gottes sind von Natur; denn Gott offenbart sich, wie sie behaupten, in allen geschaffenen Wesen, in der Pflanze, dem Tier und dem Menschen; nur in dem letzten vollkommener, als in allen Übrigen; und Christus ist ihnen die vollkommenste Offenbarung Gottes in der Menschheit. Aber was soll denn sein Opfer? was soll sein Versöhnungsblut? Das sind nach ihrer Ansicht jüdische Begriffe eines opfernden Volkes, dessen Sprache die Apostel angenommen haben; für uns hat solches keine Bedeutung mehr.

Wir sehen daraus, dass dem Christentum dieser Beinahe-Christen eigentlich nichts anders zum Grund liegt, als eine verflachte Weltansicht, ohne den Glauben an die Notwendigkeit und Wirklichkeit der Versöhnung mit Gott in Christo. Ein Christentum ohne Versöhnung ist aber kein Christentum mehr; es ist ein verkapptes Antichristentum unter christlichem Namen.

Wir dürfen uns nicht wundern, dass dabei manche mächtige Rührungen in einzelnen Augenblicken die Seelen solcher Beinahe-Christen anregen können. Die Geschichte Christi ist zu voll von ergreifenden Tatsachen, als dass nicht öfters bei Betrachtung derselben die Gemüter bewegt werden sollten; die freiwillige Armut des Heilandes, sein selbstverleugnender Wandel auf Erden, seine barmherzige Liebe; seine gewaltige Predigt, sein Opferleben, sein stilles, schuldloses Leiden, seine Hingabe in den Willen des Vaters, sein schmerzlicher Tod, alles dieses kann augenblicklich gute Vorsätze in den Gemütern erwecken. Auch die Geschichten und Briefe der Apostel haben viel Erhebendes; und die Ausbreitung des Christentums auf Erden, mit seinen unleugbaren Segnungen, kann die Seelen kräftig auffordern, Etwas dafür zu tun; aber die Erfahrung lehrt, dass alle diese Rührungen bald wieder vorüber gehen; der Vorsatz, ein göttliches Leben zu führen, ist auf Sand gebaut, und in den Prüfungsstunden bricht er zusammen3), wie ein Haus ohne Grund, wenn die Wasserfluten daran stoßen.

Wir haben schon vorher gesagt, dass wir Manches, das die Beinahe-Christen haben, nicht gerade verachten wollen; doch ist es auch nichts, das den Menschen gründlich helfen kann. Sie bleiben eine Zeit lang im Unentschiedenen, und kehren dann wieder ganz in das eitle Treiben der Welt zurück; ihre Überzeugungstreue, wie sie es nennen, hat keine Kraft, das Herz zu erneuern, und für das wahre Christentum wird weder in ihnen noch durch sie etwas Nachhaltiges gewirkt. Der Herr aber, der gesagt hat: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut4)“, kann sie nicht als die Seinen anerkennen, und darum werden sie in der Sichtungszeit und im Gericht unter die Spreu geworfen, der das Feuer verheißen ist5).

Dass dieses abgestandene Wesen der Beinahe-Christen auch in der evangelischen Kirche eben nichts Seltenes, sondern etwas gar Häufiges ist, können wir nicht leugnen. Die Erfahrung beweist es zur Genüge, dass unter den vielen Berufenen nur wenig Auserwählte sind; und doch hat der Herr uns alle Mittel in der Gnadenzeit dargeboten, völlige Christen zu werden. Was hält denn die Meisten auf, dass ihr Christentum jenen schmächtigen Halmen auf dem Unkrautacker gleicht, die keine Frucht bringen? Lasst uns darüber mit Ernst nachdenken:

Das Erste, was die Beinahe-Christen hindert, zum völligen Leben hindurchzudringen, ist in dem Blendwerk der Weisheit dieser Welt zu suchen. Man sammelt von allen Seiten die verschiedenartigsten Wissenschaften; zu den Gegenständen menschlicher Erkenntnis gehört alsdann unter andern auch die christliche Lehre; diese erscheint nun solchen Denkern und Vielwissern als Eine Meinung unter den vielen, und die mancherlei andern Ansichten in den mancherlei Religionen der Welt werden damit auf Eine Stufe geordnet; daher hören wir solche weitherzigseinwollende Leute von dem Glauben der Römer, der Griechen, der Hindu, der Chinesen, der Mahomedaner, der Juden, so wie der Christen, mit viel Gelehrtheit sprechen, ohne dass sie sagen, was sie eigentlich glauben. Ihre Vernunft ist ihnen die höchste Schiedsrichterin in Glaubenssachen; mit philosophischer Unparteilichkeit, wie sie behaupten, suchen sie ihre Unabhängigkeit zu erhalten, und haben also im Grunde keine Religion. Das Christentum hat in ihnen weder Kraft noch Weihe, und sie stehen nur darum auf der Seite der Kirche Jesu Christi, weil sie darin geboren wurden, und dabei allerlei zeitliche Vorteile finden. Sind sie jedoch durch Amt und Stellung verpflichtet, sich auszusprechen, so wissen sie mit christlichscheinenden Worten ihren Herzensunglauben zu verdecken; aber was sie sagen, ist kein göttlicher Same, der Frucht trägt für die Ewigkeit, sondern ein eitler verhallender Schall, der spurlos vorübergeht, denn ihm fehlt das innere Leben.

O wie Manche, die sich den Studien ergaben, haben auf diese Weise sich selbst entkräftet, und sind zum Dienst des Herrn und seines Reiches dadurch ganz untüchtig geworden!

Mit dieser Gefahr der abzehrenden Weisheit dieser Welt verbindet sich dann, als zweites Hindernis, die Rücksicht auf das Ansehen vor den Augen der Menschen. Es ist kein Zweifel, dass die Schmach des Kreuzes Christi immerfort auf denen ruht, die im lebendigen Glauben stehen. „Was würden die Leute sagen?“ so ruft zagend eine Agrippas-Seele, welcher der Gedanke nahe tritt, ein völliger Christ zu werden, wie Paulus es gewesen; er blickt auf des Apostels Fesseln, erschrickt, und bleibt dahinten.

Die Welt hat eine Menge von Schimpf- und Spottnamen erfunden, womit sie die Unentschiedenen vom wahren Christentum abzuschrecken weiß; auch ihre Verfolgungen drohen jetzt noch, wie in früheren Jahren, denjenigen, die sich zu dem gekreuzigten Heiland bekennen.

Da nun so Viele nur darauf bedacht sind, für ihren zeitlichen Ruhm zu sorgen, so lassen sie die tieferen Glaubensfragen als etwas Überflüssiges dahingestellt. Das sind Dinge, pflegen sie zu sagen, die uns nichts angehen, sondern den Geistlichen gehören; wir wollen nur dafür sorgen, dass wir als rechtschaffene Leute vor der Welt bestehen! Die Moral ist uns genug; ein Jeder sorge für sich, Gott sorgt für Alle! So sprechen diejenigen, welche die Ehre bei den Menschen lieber haben, denn die Ehre bei Gott6). - Sie sind und bleiben: Feinde des Kreuzes Christi.

Die bei weitem größere Masse der Christenheit ist aber noch dazu gebunden durch die Güter und Sorgen dieser Welt. Die Verwaltung des Reichtums nimmt die Einen zu sehr in Anspruch; sie müssen darauf ihre ganze Zeit und Kraft verwenden, und haben darum für das höhere Leben nur selten Lust und Sinn. Bei der Menge der Minderbegüterten ist die Sorge um die tägliche Nahrung wie ein wucherndes Unkraut, das die göttlichen Lebenskräfte wegfrisst. In den Jugendjahren verlieren die Meisten wieder, was ein sorgfältiger Unterricht als Glaubenssaat ihnen anvertraute. Sie wollen glücklich werden auf Erden, jagen den Genüssen der Sinne nach, und vergessen den eigentlichen Zweck ihrer Gnadenzeit. Dann denken sie darauf, sich zeitlich zu versorgen; ihr ganzes Streben geht darauf, sich für einen irdischen Beruf vorzubilden, und das Wort Gottes wird aus ihrem Gedächtnis verwischt. - Ach, und in den späteren Jahren sind sie unter dem Einfluss der irdischen Berufsarbeiten so betäubt, dass ihre Seelen oft lange Zeit kein Bedürfnis mehr fühlen nach dem himmlischen Lebensbrot, und so bleibt ihnen das wahre Christentum etwas Fremdartiges, das sie kaum dem Namen nach kennen.

Welch ein trauriges Bild stellt sich in dieser raschen Schilderung unsern Blicken dar! dürften wir doch sagen, dass es übertrieben sei; aber nein! es ist nur eine schwache Andeutung von dem, was in der täglichen Erfahrung sich uns ausdrängt!

Wenn doch alle Seelen wüssten,
Jesu, wie Du freundlich bist,
Und der Zustand wahrer Christen
Unaussprechlich selig ist; -
O, wie würden sie mit Freuden
Aus der Welt Gemeinschaft gehn,
Und bei Deinem Kreuz und Leiden
Fest und unbeweglich stehn!

II.

Der völlige Christ steht in dem Bild des Apostels Paulus vor uns, und sein Wunsch, dass doch Alle Solche würden, wie er ist, greift auch uns ins Herz; möge es uns gelingen, Etwas dazu beizutragen, dass dieser Wunsch nicht ganz unerfüllt bleibt.

Was hat der völlige Christ im Gegensatz mit dem Beinahe-Christen? Er hat einen lebendigen Glauben an das Wort der heiligen Schrift; ihm ist die ganze Bibel göttliche Offenbarung, denn er hat einen Bürgen für die Wahrheit, der ihm unerschütterliche Gewissheit gibt. Dem völligen Christen gilt nicht, was er zu erdenken vermag, sondern was Christus ihn lehrt, als Regel und Richtschnur. Der treue, wahrhaftige Zeuge hat es gesagt! das ist dem entschiedenen Christen genug, um eine volle Zuversicht des Glaubens in seinem Herzen zu wecken und zu erhalten; nicht nur, was der große Lehrer der Menschheit selber gesagt hat, sondern auch, was seine Apostel lehrten, ist ihm unumstößliche Wahrheit; denn von seinen Aposteln hat der Herr bezeugt: „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat7).“ Auch die Bücher des alten Bundes sind durch Christum bestätigt: „Wenn ihr Mosi glaubtet, so glaubtet ihr auch mir, denn er hat von mir geschrieben.“8) „Es muss Alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz Mosi, in den Propheten und in den Psalmen.“9) „Und die Schrift kann nicht gebrochen werden.“10)

Alle treuen Bekenner Christi haben von jeher durch den Glauben an das Wort die Welt und den Satan besiegt. Der Ausruf: „Es steht geschrieben!“ ist die unüberwindliche Waffe des Herrn und seiner Gläubigen wider die Kunst des Lügners und Mörders von Anfang. Aus dem Glauben an das Wort Gottes ist die Reformation und die Stiftung der evangelischen Gemeinde hervorgegangen, und wer ein Nachfolger Christi sein will, hält fest an der ganzen heiligen Schrift, als an Gottes Wort.

Dieser Glaube hat aber einen tieferen Grund, als die bloße Erkenntnis der Wahrheit; er wurzelt in der innigen Liebe zu Jesu Christo, und dort liegt eigentlich die Quelle des göttlichen Lebens, aus welcher der ganze Segen des Christentums fließt.

Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; Ihn haben heißt aber Ihn lieben, und sich Ihm ganz ergeben, so dass ein unauflösbares Band Christum und die Seinigen vereinigt, wie das Haupt mit den Gliedern, wie den Weinstock mit den Reben. In Christo dem Sohn Gottes ist dem Begnadigten das höchste Gut zu Teil geworden; er hat Gott in dem Sohn gefunden, und ist selbst durch ihn zum Gotteskind und zum Erben der künftigen Herrlichkeit berufen und berechtigt worden; darum ist er auch, gleich dem Apostel Paulus, in seiner Überzeugung voll freudiger Zuversicht, und durch dieselbe über jeden Zweifel erhoben; er hat Alles in Christo, Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung11).

So wie nun der Baum an seiner Frucht erkannt wird, so auch der völlige Christ an dem, was das Gottesleben in ihm vor aller Welt kund tut; nämlich an dem heiligen Ernst des Wandels vor Gott.

Diese tiefe Bedeutung unseres kurzen Daseins in der Gnadenzeit wird erst dann recht verstanden und beherzigt, wenn das göttliche Licht des Evangeliums die Seele durchleuchtet. Der Christ gehört nun nicht mehr sich selber an, sondern Dem, der ihn mit seinem Blut erlöst hat. Leben wir, so leben wir dem Herrn! Das gottgeweihte Leben führt von selbst in den Dienst und in die Nachfolge Jesu Christi. Alle unsre Mittel und Kräfte sind anvertraute Pfunde, die wir als treue Haushalter verwenden sollen zur Förderung des Werkes Gottes auf Erden; denn der heilige Geist mahnt, dass der Herr bald kommen werde, mit uns Rechnung zu halten. Dieser Gedanke ist ein mächtiger Trieb für die Jünger und Jüngerinnen des Heilandes, ihre Zeit auszukaufen, und sich stets bereit zu halten zur großen Rechenschaft. Da verschwindet der tändelnde Scherz, der zerstreuende Leichtsinn, das eitle Treiben der Welt von selbst aus dem Gemüt: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, was vor mir liegt am himmlischen Ziel! Was mir früher Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden geachtet, dass ich durch die Gemeinschaft seines Leidens und Sterbens zur Auferstehung, zur Krone der Gerechtigkeit gelange!

Mit solchen Entschlüssen wandelt der völlige Christ auf dem schmalen Pfade himmelan. Und während er dieses tut, ist er nur desto geeigneter zum Dienste des Herrn in seinen irdischen Verhältnissen, desto zuverlässiger in seinen Berufs-Pflichten, und ein stilles Gedeihen waltet in Allem, was er nicht mehr im eigenen Namen, sondern im Namen Dessen tut, mit dem er im seligen Liebesbund steht.

So möchte ich sein! denkt wohl Mancher; aber diese geistige Höhe des Christenlebens scheint mir unerreichbar!

Allerdings, auf einmal kommt man nicht zu solcher inneren Entschiedenheit; auch der Apostel Paulus sagt: Nicht dass ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, dass ich es ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin.“12) Aus uns selber kommt nimmermehr die Kraft des göttlichen Lebens, aber wir vermögen Alles durch Den, der uns mächtig macht, Christus13). Ist es uns nur mit unserer Berufung einmal ein Ernst geworden, so fragen wir auch:

Wie kann ich ein völliger Christ werden?

Der heilige Geist, der die Kinder Gottes treibt, lässt uns darüber in keinem Zweifel; vor allen Dingen ruft er uns zu: Tue Buße!

Die Buße ist die erste, unerlässliche Bedingung des wahren Christentums, denn sie macht das Herz demütig und für die Gnade empfänglich.

Buße tun, heißt seine Sünde erkennen, bekennen und bereuen. Im Anfang, im Fortgang und in der Vollendung des Christenlebens tut uns dies Dreifache not. Zuerst werden die Sünden, welche offenbarer und gröber sind, durch die Buße gerichtet; aber später muss dies innere Gericht auch über die versteckteren Neigungen und Lieblingssünden ergehen. Selbst der geförderte Christ, der unter der immerwährenden Zucht des heiligen Geistes steht, hat noch Manches, das an ihm zu tadeln und zu strafen ist; denn es ist ein gefährlicher und entsetzlicher Wahn, wenn ein Mensch sich einbildet, keine Sünde mehr zu haben, und darum der Buße nicht mehr zu bedürfen.

Was uns am meisten aufhält, zum entschiedenen Christentum zu kommen, ist das Scheinwesen, womit sich die Seelen verblenden; darüber haben wir uns nun täglich zu richten. Nicht, was von uns die Menschen sagen, sondern, was der Herzenskündiger uns innerlich bezeugt, das muss gelten in der täglichen Selbstprüfung. Wenn auch von groben Lastern bei dem wahren Christen keine Rede mehr ist und sein darf, so sind doch sein Gehorsam, seine Demut, seine Liebe, seine Dankbarkeit gegen den Herrn noch bei weitem nicht, wie sie sein sollten; der geförderte Christ will nicht bloß den Schein und Namen, sondern das Wesen haben, dessen Urbild ihm in Christo Jesu vor Augen steht; darum ist er mit sich selber nie zufrieden, schlägt täglich an seine Brust, und ruft: Gott, sei mir Sünder gnädig! Diese Herzensstimmung ist es aber, die uns stets offen hält für die göttliche Hilfe, uns mächtig fördert im inneren Leben, und uns täglich inniger verbindet und verschmilzt mit Dem, der uns täglich unsre Sünden reichlich vergibt, und uns in der Heiligung reinigt und genesen lässt von allen unsern Fehlern und Gebrechen, so dass wir als völlige Christen von einer Stufe der Verklärung zur andern heranreifen, bis wir erwachen nach seinem Bild, droben in der Herrlichkeit14). Auf dass aber diese Buße nicht eine immerwährende Niedergeschlagenheit in unserer Seele erzeuge, sondern zugleich unser Herz mit der Freude erfüllt werde, die da bleibt, ruft uns der Geist Gottes dabei immerwährend zu: Glaube an das Evangelium!15) Die gute Botschaft ist der ganzen Menschheit verkündigt, und die Möglichkeit der Rettung ist darin Allen angeboten; O, warum zögern so Manche, mutig zuzugreifen? Für die Seele, welche das Evangelium einmal aufgenommen hat, ist es eine Quelle des Lebens, eine Gotteskraft zur Seligkeit geworden. Das Evangelium heißt auch das Wort vom Kreuz, welches n jedem Augenblick Trost und Frieden uns zuströmt durch die Versicherung, dass unsre Schuld getilgt worden in dem Opfertod des Lammes Gottes, welches der Welt Sünde trägt.16)

In demselben Evangelium liegt aber zugleich das Verheißungswort der künftigen Herrlichkeit, die uns am Ziel erwartet, wenn wir als Auferstandene verklärt eingehen in des Herrn ewiges Reich. - Doch steht diese künftige Herrlichkeit mehr noch im Hintergrund, am Ziel unsrer Berufung. Für die gegenwärtige Gnadenzeit bedürfen wir vorzüglich des Kreuzes Christi, um getrost in den Glaubenskämpfen und Läuterungsleiden auszuhalten, bis wir vollbereitet, gestärkt, gekräftigt und gegründet sind17). Darum sagt der Apostel Paulus: „Es sei ferne von mir, rühmen, denn allein von dem Kreuz Jesu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt.“18) Und als er im stolzen Korinth eine Gemeinde des Herrn sammelte, wollte er nichts anderes wissen unter ihnen, denn allein Jesum Christum, den Gekreuzigten19). Dies gab ihm auch die große Freudigkeit, als er gefesselt vor Festus und Agrippas denselben Christum predigte.

Wir Alle bedürfen eben dieses Glaubens, damit wir in unsern Anfechtungen und Trübsalen aufrecht bleiben; das Kreuz ist unser Siegeszeichen, es sichert uns fort und fort die Gnade und Vergebung zu, und gibt uns die Gewissheit, dass wir überwinden werden in der Gotteskraft der Liebe des Gekreuzigten.

Damit uns aber der Sieg des Glaubens nicht fehle, und das völlige, entschiedene Christentum in uns durchgeführt werde, so muss uns der Geist Gottes auch immerwährend warnend und ermutigend zurufen: Sei getreu bis an den Tod!20) Die Treue, meine Geliebten, kann und soll, bei allen Mängeln und Gebrechen, die wir noch in uns finden, vollkommen bestehen. Ein treuer Jünger Jesu ist weit entfernt, sich für fehlerlos zu halten; er ist aber darin treu, dass er, als Gnadenschüler, auf die Belehrungen und Züchtigungen des Geistes Gottes merkt, und alles Falsche an sich selbst verabscheut und richtet; dadurch wird er erst für die Erziehung des heiligen Geistes recht empfänglich; und der Herr kann ihm stufenweife stets größere Segnungen zuwenden, stets ernstere Aufgaben zu lösen geben; denn wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu.21)

Die treue Seele genest unter der Liebeszucht Gottes von ihren Torheiten und Eigenheiten; die treue Seele übt im Kampf mit dem Argen die ihr anvertrauten Gotteskräfte; die treue Seele arbeitet an ihrem Teil für das Werk des Herrn, und wird darin stets tüchtiger und gründlicher, und so wird in ihr das neue Leben der göttlichen Natur stets fruchtbarer in guten Werken22); denn der völlige Christ ist ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter welken nicht, und was er macht, das gerät wohl.23)

Während also der Beinahe-Christ stehen bleibt, abnimmt, und am Ende zunichte wird nach einer verlorenen Gnadenzeit, wächst dagegen der völlige Christ von dem Augenblick an, da er sich Christo entschieden ergeben hat, still heran, wird in der Buße immer demütiger, im Glauben immer freudiger, und wenn er treu bleibt, auch immer gesegneter im Dienste des Herrn.

Gnadenreicher Gott, treibe uns durch deinen heiligen Geist mächtig an, dass wir Alle Solches jetzt sogleich zu Herzen nehmen, und unser kurzes Erdenleben anwenden, so zu werden, wie es dein treuer Knecht Paulus vor dir gewünscht hat, um einst am Schluss unserer Laufbahn, gleich ihm mit Zuversicht sagen zu können: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten; hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr an jenem Tag, der gerechte Richter geben wird; nicht mir aber allein, sondern auch Allen, die seine Erscheinung lieb haben24)“; das ist: Allen, die völlige Christen geworden sind. Ja:

Es ist gut; ein Christ zu werden,
Besser noch, ein Christ zu sein;
Doch, den besten Ruhm auf Erden
Gibt der Herr nur dem allein,
Der ein Christ beständig bleibt,
Und den Kampf zum Siege treibt:
Solchen wird mit ew'gen Kronen
Christus droben einst belohnen!

Amen.

1)
1. Kor. 1,18 f.
2)
2. Kor. 3,6-8
3)
Mat. 7,24-27
4)
Luk. 11,23
5)
Mat. 3,12
6)
Joh. 12,43
7)
Luk. 10,16
8)
Joh. 5,46
9)
Luk. 24,44
10)
Joh. 10,35
11)
1. Kor. 1,30
12)
Phil. 3,12
13)
Phil. 4,13
14)
2. Kor. 3,18 und Psalm 17,15.
15)
Mark. 1,15
16)
Joh. 1,29
17)
1. Pet. 5,10
18)
Gal. 6,14
19)
1. Kor. 2,2
20)
Off. 2,10
21)
Luk. 16,10
22)
2. Pet. 1,3-8; Tit. 3,8
23)
Ps. 1,3
24)
2. Tim. 4,7-8
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