Frommel, Emil - Das Gebet des Herrn in Predigten - IX. Erlöse uns von dem Uebel.

Frommel, Emil - Das Gebet des Herrn in Predigten - IX. Erlöse uns von dem Uebel.

Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.

Text: Matth. 6, Vers 13.
Sondern erlöse uns von dem Uebel.

In Christo geliebte Gemeinde!

Wir stehen heute an der letzten Bitte im lieben Vaterunser. In den ersten Bitten sind wir hinaufgestiegen zu unserm Gott. Wir haben die Seraphim ihr heilig, heilig, heilig, singen hören; und vor dem Thron unsers Herrn gestanden, von dem aus er sein Reich regiert; und die Engel angeschaut, wie sie den Willen Gottes thun, und sind mit ihnen im Himmel gewandelt. Und unserer Seele war's heimathlich wohl und wir hätten hier gerne gerufen: Eia! wär'n wir da! und hätten gerne hier „Amen“ gesagt. Aber mit dem Worte „auf Erden“ stiegen wir herab, und nahmen unsern Gott mit in alle unsre Sorge, Noth und Jammer. Wir führten Ihn auf unser Feld und in unsern Beruf und baten: „Unser täglich Brod gib uns heute;“ wir führten Ihn auf unsern Herzensacker mit dem tausendfachen Unkraut und sprachen: „Vergib uns unsre Schulden.“ Wir führten ihn weiter in die Schlünde und Abgründe der Welt, wo hinter den Büschen der Feind sitzt und seinen Bogen spannt und seine Pfeile darauf legt und zielet nach uns, und riefen: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Sechsmal haben wir gebeten, nun dürfen wir heute noch einmal bitten. Wenn uns Jemand sieben Bitten freistellte und spräche: „Es kommt die letzte Bitte und sonst keine mehr, besinne dich denn recht, liebe Seele, was du bitten willst,“ wir wüßten wohl nicht vor lauter Besinnen was wir bitten sollten. Der Herr hat uns der Mühe überhoben. Er fasset all unser Anliegen zusammen, setzet unter alle unsre Bitten den Strich und ziehet die Summa aus allen Bitten mit dem Wort: „Erlöse uns von dem Uebel.“ Da geht es denn in dieser Bitte noch einmal gründlich hinunter mit uns in unser Elend, mit dem Worte. „Uebel.“ Aber nur hinunter? Nein, auch wieder hinauf, mit dem Worte: „Erlöse uns.“ Wir wollen wieder zurück in seinen Himmel, in welchem wir mit den drei ersten Bitten waren. So schauen wir mit dieser Bitte rückwärts und vorwärts. Sie stehet da wie der Berg Nebo, der am Ende der Wüste und am Anfang des gelobten Landes stand.

So laßt uns denn mit unserm Herrn noch einmal hinab in's Thal des Jammers steigen, und mit ihm den seligen Heimweg antreten, in dem wir beten:

„Erlöse uns von dem Uebel.“

Wir fragen:

  1. Was ist Uebel?
  2. Was heißt: Erlöse uns von dem Uebel?

Lieber himmlischer Vater! Noch einmal kommen wir mit der letzten Bitte vor dein heilig Angesicht. Wir trauten uns nicht siebenmal zu bitten, wenn du uns nicht geboten, also zu beten. Ach so schaue doch an das tausendfache Uebel, in dem deine Kinder sind. Wer kann aussagen allen Jammer, der uns drückt? Ach höre Du eines Jeglichen Seufzer, Du, der unsre Thränen alle zählet. Auf Dich sind wir allein geworfen, denn bei Dir ist die Gnade und viel Erlösung bei Dir! So mache uns denn los, los von allem Uebel des Leibes und der Seelen, los von uns selbst! Laß die Ketten uns fühlen, die uns drücken und laß uns empfinden, daß wir in der Gefangenschaft sind; aber gib uns auch Flügel, uns weit zu schwingen über den Schmerz und das Leid dieser Zeit. Herr! verziehe nicht, komme bald mit Deiner großen Erlösung, und wende unser Gefängniß, wie du die Wasser gegen Mittag trocknest. Erlöse die Gefangenen Zions, auf daß unser Auge nicht mehr weine, und unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sei und preise: Der Herr hat Großes an uns gethan, deß sind wir fröhlich! Amen.

l. Was ist Uebel?

Unser Katechismus sagt: „Wir bitten in diesem Gebet als in der Summa, daß uns der Vater im Himmel von allerlei Uebels Leides und der Seele, Gutes und Ehre erlöse und zuletzt wenn unser Stündlein kommt ein selig Ende bescheere und mit Gnaden aus diesem Jammerthal zu sich nehme in den Himmel,“ und tausend und aber tausend gebeugte und gedrückte Seelen sprechen hier ihr herzlich Amen dazu. Ja wenn ein Mensch an keiner Bitte herzlichen Antheil nähme, an dieser nimmt er ihn, und auch die Gottlosen fühlen sich heimlich zu dieser Bitte hingetrieben. In vielen Tausenden ist diese Bitte die Summa ihres ganzen Gebets. Habe ich doch einmal eine Kranke gesehen, die stumm und still das ganze Vaterunser mitbetete, bei dieser Bitte aber fing sie an mit dem Kopf zu nicken, ihre Augen sehnsüchtig aufzuschlagen und sie laut zu beten, als gäbe es nur diese einzige Bitte. Nach alledem sollte man wohl glauben, es sei dem Menschen diese Bitte eine selbstverständliche und höchst natürliche. Und doch ist dem nicht also. Es gibt viele Tausende und sie mehren sich von Tag zu Tag in unsrer Zeit, denen diese Bitte ein Anstoß und Aergerniß ist. Sie überlassen sie getrost den armen, seufzenden Seelen in den Krankenstuben, Zucht-, Armen- und Irrenhäusern, oder sparen sie für sich auf, bis sie in den Fall kämen so sprechen zu müssen; aber für sie hat diese Bitte keine Bedeutung. „Was Uebel? Was Jammerthal? Was Erlösung?“ rufen sie. Warum denn aus der Welt hinaus ihr Leute? Ja sie ahnen den gewaltigen Richterspruch den Gott in dieser Bitte über die Welt fällt: daß die Welt bei allem Guten, das sich drin findet, dennoch voll Uebels ist, und der Mensch Noth hat, aus ihr sich heraus zu beten. Das ist eine bittre Wahrheit, das heißt der Welt mit ihrer Lust in's Angesicht schlagen, wenn man so betet. Und drum wollen sie auch nicht also beten. Die Erde ist ihnen Paradieses genug, das Glück hat ihnen gelächelt bis hierher, von Entsagung wissen sie nichts, ihre Wünsche sind ihnen erfüllt worden - warum sollen sie bitten: Erlöse uns von dem Uebel? Der reiche Mann hat auch nicht gebetet: „Erlöse mich von dem Uebel.“ Er hatte es ja so gut. Das hat er dem armen Lazarus mit seinen Schwären überlassen. So beten die Einen diese Bitte nicht, die auf den Flügeln des Glückes dahinfahren. Es sind ihrer aber noch Andere, die diese Bitte nicht beten mögen. Sie sind nicht in großem Glück gerade, aber sie verstehen die Kunst, das Leben von der günstigsten Seite aufzufassen, und sich's hier unten so wohnlich als möglich zu machen. Sie leben von einem Tag zum andern, machen keine besondern Ansprüche an das Leben, thun ihre Arbeit, weil's auch zum Leben gehört und man doch nicht immer genießen kann, und wenn ihnen Widriges zustoßt, so nehmen sie das in den Kauf, es ist ihnen der Pfeffer und das Gewürz in die Speisen, und der Tod? - ja der ist allerdings ein saurer Apfel, in den man mit Naturnothwendigkeit beißen muß. Das alles ist ihnen aber noch lange kein Grund zu bitten: „Erlöse uns von dem Uebel.“ Sie nennen das Feigheit, herauszuwollen aus dem geringen Uebel, dieser Zuthat zur menschlichen Freude; sie nennen's Undankbarkeit gegen Gott, der so viel Gutes uns gibt, seine schöne Welt ein Jammerthal zu schelten. Nein, von dieser Bitte möchten sie nichts wissen.

Meine Lieben! woher kommt das? warum wollen sie die letzte Bitte nicht beten? Antwort: Weil sie die ersten nicht gebetet haben. Wer die einzelnen Posten nicht anschaut, kann auch keine Summe ziehen. Sie haben kein Licht über den Herrn, noch über die Welt, noch über sich. Hätten sie ein Auge für die himmlischen Dinge, sie würden ja sehen, wie Gottes Name nicht geheiligt, sein Reich aufgehalten wird, sein Wille nicht geschieht - und das müßte sie schmerzen. Hätten sie Augen der Liebe, sie würden, wenn sie keine eigene Noth hätten, die fremde Noth in tausendfacher Gestalt sehen; sie würden Wunden erblicken, die sie nicht zu heilen vermögen, Thränen die sie nicht trocknen können, sie würden herzzerreißende Fragen und Klagen hören, die sie nicht beantworten können, sie müßten wenigstens für ihre Brüder bitten: „Erlöse uns von dem Uebel.“ Hätten sie ein Auge und Herz für ihre eigene Seele, sie würden erkennen, wie Schuld auf Schuld sich häuft, wie sie aus Versuchung in Versuchung fallen. „Ja von dem Seufzer der Creatur, von der mächtigen Trauer, die aus der Vergangenheit herauftönt, von dem Fluch, den die Sünde über die Erde brachte, der von Geschlecht zu Geschlecht sich fortwälzt; von dem Schmerz und der Klage, die aus der Brust ernster Denker und Sänger unseres Volkes nur einmal menschlich heraustönen - von dem gewaltigen Leid über den Gräbern, das auch den HErrn des Lebens ergriffen, daß ihm die Augen übergingen - von der Herrlichkeit, die droben ist in unsers Vaters Hause und dem himmlischen Heimweh darnach - von Alledem wissen sie nichts, denn wenn sie davon wüßten, sie müßten einstimmen und aus der Tiefe rufen: „Erlöse uns von dem Uebel.“

Du aber, liebe Seele, du hast die sechs Bitten gebetet; du weißt von dem Uebel zu reden, du kennst das große Klagelied, das die Schrift anstimmt über die Welt und ihr Trostlied vom neuen Himmel und der neuen Erde. Aber fragen möchte ich dich doch, was du denn Uebel nennst und welches dich am meisten drückt; fragen möchte ich, warum du so sehnsüchtig diese Bitte betest. Siehe unser Katechismus nennt eine Reihe von Uebeln. Ich will sie an deiner Seele im Chore vorüberziehen lassen, die lichteren voran, die finstersten Gestalten zuletzt.

Gedenke einmal an den Anfang und das Ende deines Lebens. Mit Schmerzen wurden wir geboren, bei der Geburt haben wir geweint; das war der Anfang des Lebens. Mit Schmerzen und Thränen sterben wird das Ende wieder sein, wie's im Liede heißt:

Mit Weinen fängt das Leben an,
Ohn' Weinen man's nicht enden kann,
Muß lassen immer Zähren fließen,
Bis man es selig kann beschließen.

Das ist der kurze Kreislauf des äußern Lebens, und nun was mitten drin liegt in diesem Ringe! Ich nenne dir das „Uebel des Gutes.“ Was ist für Sorge verknüpft mit dem täglichen Auskommen, dem zeitlichen irdischen Gut! Kann's doch den Menschen in's Verderben stürzen, wenn er das Herz daran hängt. Wie schleppt sich Der, der es hat, wie lebt er in Sorge, daß die Diebe ihm nachgraben! Ueber Nacht kann er ein bettelarmer Mensch sein und wie Hiob auf dem Aschenhaufen sitzen. Und der dies Gut nicht hat, wie muß er sich plagen um diesen Zehrpfennig auf der Wanderschaft! Ach wir freuen uns auf die Zeit, da wir den Reisebündel ablegen dürfen. Doch ist dies das größte Uebel nicht. Hatte doch auch der Herr nicht, wohin er sein Haupt legte.

„Uebel der Ehre“ nennt der Katechismus weiter, und versteht darunter alles, was uns durch Schmähung, Hohn und Spott zugefügt wird. Geschmäht werden thut weh, und wenn man auch äußerlich nicht zeigt, wie wehe es thut, so will's Einem doch manchmal das Herz schier abdrücken, wenn jedes Wort und jeder Schritt uns mißdeutet wird, wenn man Schatten und Flecken auf unsern Charakter wirft. Und daneben ist die Ehre wieder ein gefährlich Ding, was uns gar leicht zu Falle bringen kann, wenn wir die Ehre bei den Menschen höher achten, denn die Ehre vor Gott. Aber auch das ist kein so groß Uebel, wenn uns an der Ehre geschadet wird. Haben sie deinen Heiland einen Weinsäufer, der Sünder und Zöllner Geselle, einen Gotteslästerer geheißen, ihm in's Angesicht gespieen, was willst du mehr? Es hat jeder seinen Feind. Abel den Kain, Isaac den Ismael, Jakob den Esau, Joseph seine Brüder, Mose die Rotte Korah, David den Absalon, Elias die Isabel, Johannes den Herodes. Darum tröste dich. Es ist wohl ein Uebel geschmäht zu werden, aber das größte nicht. Von Uebeln des Leibes wird geredet. Da denke ich an das Heer von Krankheiten, an Hunger und Blöße, und wie der arme Leib dadurch geplagt wird. Da brauchst du nur einmal durch ein Spital zu gehen, wenn du von solchem Uebel nichts weißt. „Auf dieser Welt,“ sagt Luther, „muß entweder bald gestorben oder geduldig gelitten und gelebt sein.“ Der Kelch der Leiden geht um und um in der Welt alle Tage, und wenn das Mahl des Lebens vorbei ist, hat jeder sein gut Theil Wermuth getrunken. Und kommst du an's Kreuz, so brauchst du nicht zu sorgen, daß du mit Essig und Galle getränkt wirst. Das fehlt sich nicht. Und zuletzt wenn's an's Sterben geht, da zuckt der arme Leib im bittern Weh noch einmal zusammen. Da könnte man wohl über die ganze Welt ein Dach machen und schreiben: „Ein großes Krankenhaus und ein großer Kirchhof.“ Und doch ist solch Elend das größte Uebel nicht, das dir widerfahren kann. Es muß Mancher am Leibe geschlagen werden, damit er an seiner Seele gesund wird; es ist ihm besser als Krüppel in's Reich Gottes einzugehen, als seine geraden Glieder haben und in die Hölle zu wandern.

Nun geht's herein in den Menschen, an die Uebel der Seele. Ich könnte dir sagen von so manchem lautem und stillem Herzenskummer, den Eltern über ihre Kinder oder Ehegatten über einander, oder ein Seelsorger über seine Gemeinde haben. Es ist Solches ja wohl ein Schmerz der Seele, und ein nagender Wurm am Herzen, aber auch er kann zum Segen ausschlagen, wenn er zum Gebete treibt. Aber nun geht's in's Innerste hinein. Nun kommt ein Uebel und ein Jammer, der nicht auszusagen ist. Kennst du dies Uebel, das alle andern zum Gefolge hat? Das ist deine und meine Sünde. Bei allen Uebeln des Leibes gibt's Ruhestunden, gibt's einmal Ruhe, wenn man uns mit der Schaufel zudeckt; aber bei diesem Uebel ist keine Erquickungsstunde und keine Ruhe nach dem Tode. Das ist die Seuche, die im Mittag verderbet, die im Finstern schleicht, und unsre Gedanken, Worte und Werke vergiftet. Die heilet nicht Kraut noch Pflaster. O wer ein Auge hat zu sehen, was die Sünde und ihr Fürst angerichtet, wie Gottes theures Ebenbild im Menschen zerstört worden bis zum Nichtmehrerkennen, wie sich der geistliche Tod herlagert über Tausende und aber Tausende, deren Herz kalt für alle Liebe Gottes, ungeschreckt durch alle Drohungen, blind für die Wetter, die sich über ihrem Haupte zusammenziehen, taub für den Donner der Gerichte Gottes, die zur Buße mahnen; die so bei lebendigem Leibe sterben, bei blühenden Wangen dem großen Kirchhof der Geistlich-Todten zuwandern und den Schranken des künftigen Gerichtes entgegentaumeln - sagt: gibts ein größeres Uebel als dieses? Hab und Gut verloren wenig verloren; Ehre verloren viel verloren; die Seele verloren Alles verloren. Hab und Gut kann ersetzt, die Ehre wieder hergestellt werden, aber was kann der Mensch geben, daß er seine Seele wieder löse? So lastet auf denen, die so sicher leben, der Uebel Größtes.

Aber auch die, die im Glauben stehen, fühlen dies Uebel, das auf ihren Seelen liegt. Es ist die Sünde, die ihnen immerdar anklebt, die sie lahm und träge macht. „Die, die auf dem schmalen Wege gehen und durch die enge Pforte möchten, sie habens schwer. Der Weg ist lang, ach sehr lang für den Pilger, der so leicht ermüdet. Und der breite Weg ist so nahe, daß man Spott und Hohn, Lust und Lockung, Satan und Welt herübertönen hört. Inwendig im Herzen der Pilger auf der schmalen Straße ist nur ein matter Glaube, und eine träge Liebe, ein glimmend Docht das erlöschen will; Sehnsucht nach Egypten, Umschauen nach dem brennenden Sodom. Viele Sünden kehren aufs neue wieder, viele Stücke Finsterniß zeigen sich wieder im Herzen. Ach, viele Pilger treten wieder ab auf den breiten Weg und werden mit Jauchzen empfangen! Viele fast am Ziele des schmalen Weges, fallen dennoch und die Hölle jubilirt. Ach bis man am Ziele, bis man durch's rothe Meer am jenseitigen Ufer gekommen und das Ende seines Glaubens, der Seelen Seligkeit, davon getragen hat - wie schwer wird es Einem! Wahrlich, wir haben Noth eine andre Hülfe, den starken und ausgereckten Arm des HErrn herbeizurufen und zu beten: Erlöse uns von dem Uebel!“ So klagt ein Zeuge des Herrn über dies Uebel, das die Kinder Gottes drückt. Ja am Ende des Lebens stehet noch der Tod, der Sünde Sold, der letzte Feind.

Sterben aber ist kein Kinderspiel. Und hinter dem Tod wartet das Gericht und die Ewigkeit, von der das Lied singt:

O Ewigkeit! du Donnerwort,
Das Schwert das in die Seele bohrt,
O Anfang sonder Ende!
O Ewigkeit! Zeit ohne Zeit!
Ich weiß vor großer Traurigkeit
Nicht wo ich mich hin wende.
Mein ganz erschrocknes Herze bebt,
Daß mir die Zung‘ am Gaumen klebt!

Dort liegt die Verdammniß. Sie ist das ganze volle Uebel. So sind wir arme Menschenkinder umringt von Uebeln Leibes und der Seelen, gegenwärtigen und zukünftigen. All diesen Jammer, alle diese Ketten habe ich euch gezeigt, wahrlich nicht um euch verzweifeln zu heißen, sondern euch herzlich zu bitten mit mir zu beten: „Ach Herr mach uns los! Erlöse uns von dem Uebel!“

2. Was heißt aber: Erlöse uns von dem Uebel?

Zuerst, und vor Allem also wird in dieser Bitte das Uebel klar gezeigt; aber beim Uebel stehen bleiben, und es je länger je mehr anschauen, würde nichts nützen. Es wird darum auch der betrübten Seele der Fingerzeig hier gegeben, an wen sie sich zu wenden hat, um von allem Uebel los zu werden. An den Herrn geht die Bitte, dort ist die rechte Schmiede. Ist's nöthig, daß man das sagt? Gewiß. An tausend Thüren klopft der Mensch eher an, als an der rechten. Da kenne ich welche, die haben Uebel genug, die sie drücken; sie verhehlen sich auch nicht, daß das, was in ihren Augen das Uebel aller Uebel ist, der Tod, überall aus allen Blumen sie häßlich anblickt, ihnen mit seiner Geisterhand beim Gastmahl das „Mene Tekel“ hinschreibt und unten in jedem Becher sitzt. Aber eben deßwegen suchen sie Hülfe gegen den lästigen Feind und treiben's nach der alten Schilderung der Schrift wie jene, die da sprechen: „Es ist ein kurzes und mühseliges Ding um unser Leben, und wenn ein Mensch dahin ist, so ist es gar aus mit ihm. Von ohngefähr sind wir geboren, von ohngefähr fahren wir dahin. Darum wohl her! lasset uns wohlleben, weil es da ist und unsers Leibes pflegen, weil er jung ist. Wir wollen mit Wein und Salben uns füllen, laßt uns die Maiblumen nicht versäumen. Laßt uns Kränze tragen von jungen Rosen, ehe sie welk werden, daß man allenthalben spüre, daß wir fröhlich gewesen, denn wir haben doch nichts mehr als das!“ Das ist ihre Erlösung. Andere gehen hin in dumpfer Verzweiflung. Sie mögen nicht ihr Haupt dahin heben, von wannen ihre Erlösung naht. Nur los und fort vom Leben, das keinen Reiz mehr für sie hat, nur hinaus aus dieser Welt, die überall zu weit und überall zu eng für sie ist. Und so wird ihnen der selbstgesuchte Tod, der Selbstmord, die einzige Arznei für ihre Wunden. Das sind zumeist die, denen das Leben erst ein Paradies war. Nicht die Armen, nein die Reichen sind die Mehrzahl unter Denen, die in heutiger Zeit ungerufen vor ihren Richter kommen. Diese Art Selbsterlösung wird von Tag zu Tag mehr die Modekrankheit derer, die sich sonst die „starken Geister“ nannten. Sie wollten sich selbst erlösen; - sie sind tiefer in Jammer und Ketten der Finsterniß gefallen.

Und wieder gibt's Andere, die mögen nicht mit jenen Beiden gehen. Sie halten eine stumme, kalte Ergebung in ihr Schicksal für das Beste. Sie meinen, die „Zeit“ heile wieder, wo sie geschlagen und sie freuen sich, wenn ein Uebel vorüber ist. Den tiefen Schmerz der Zeit kennen sie wohl, immer und immer wieder taucht auch die Sehnsucht nach besserem, völligem Trost auf, aber sie heißen den Fremdling in ihrer Brust schweigen. Das ist ihre Erlösung. Aber kein Mensch zieht sich am eigenen Haar aus dem Sumpfe. Könnte sich der Mensch, oder ein Mensch seinen Bruder erlösen, der Herr würde uns nicht zu Gott aufschauen und beten lehren: „Erlöse Du uns von dem Uebel!“

Bei Ihm allein ist völlige Erlösung. Das fasse fest in dein Herz. Er ist der König Israels und sein Erlöser. Sein gnädig Ohr neigt Er herab zu jedem Elend. Da ist keine Noth zu groß oder zu klein, die er nicht hörte. Der Herr, der dich hier bitten lehrt: „erlöse uns von dem Uebel,“ kann als der mitleidige Hohepriester Mitleid haben mit unserer Schwachheit; Er greift Petri Schwieger an der Hand, hält den sinkenden Petrus auf der See, sieht das Elend an Lazari Grab, spürt das Saumanfassen des Weibes und spricht zur trauernden Wittwe: „Weine nicht.“ Also zu Ihm mit deiner Bitte. Aber prüfe dich recht warum du Ihn bittest: „Erlöse uns von dem Uebel“ und prüfe dich, von welchem Uebel du vornehmlich los werden willst. Wollt ihr deßwegen los sein vom Uebel, um desto freier den eigenen Weg gehen zu können? los sein darum, daß der Herr die Last wegnehme, durch die er uns demüthigen will? Willst du um deines Elends willen sterben und sprechen: Ich habe Lust abzuscheiden und von meinem Elend los zu sein? O Tausende und aber Tausende bitten nur aus diesem Grunde. Da verbirgt sich die Kreuzesflucht und die Leidensscheu und die Feigheit hinter dieser Bitte. Wundre dich dann nicht, wenn dein Gott dich nicht erlöst. Das kann und darf er nicht.

Lieber Christ, von was willst du zuerst los sein? Antwort: Nicht wahr von dem, was dich zuerst und von vorne drückt, und das ist Armuth oder Krankheit, Spott oder Verfolgung, Kummer und Herzeleid. Von all dem Jammer möchtest du vorweg los sein. Wie aber, wenn Gott dir das Alles schickte als heilsame Zucht, was du als so großes Uebel ansiehst; soll er dich denn aus der Schule nehmen, ehe du ausgelernt hast? Ist das ein rechter Vater, der sein Kind deßwegen aus der Schule nimmt, damit es nicht mehr zu lernen braucht, damit es loskommt vom Erzieher und Zuchtmeister? Wenn du so kurzsichtig bist, daß du nicht erkennst, daß Er mit aller Trübsal Gedanken des Friedens mit dir hat, wo Du nur Gedanken des Leides siehst, wenn Er die ewige Seligkeit für dich im Auge hat, wo Du nur zeitliche Trübsal erblickst, wenn dein Auge nur den zeitlichen Verlust sieht, aber nicht den ewigen Gewinn, - soll dein Gott dich so erlösen? Ware das Erlösung wenn deine Seele gebunden bliebe, ungeheilt vom bittersten Weh? Solche Erlösung wäre keine Erhörung deiner Bitte, sie wäre eine grausame Täuschung; er würde dir damit einen Stein statt Brot bieten. Darum erkenne wohl von welchem Uebel du dich zu allermeist losbeten sollst. Siehe der Herr will dich recht los machen. Er ist kein loser Arzt, der ein paar Pflaster aufsetzt, seine Erlösung ist eine innerliche. So heilt der der Herr jenen Lahmen zuerst innerlich, indem er spricht: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben,“ und stellt zuerst den innern Menschen auf feste Füße, ehe er denn zum äußern Menschen spricht: „Stehe auf und nimm dein Bett.“ Darum mußt du um die innerste Erlösung zuerst bitten. Wir wollen meist nur halbe Hülfe haben, machen's wie Einer, der unter der Operation dem Arzte in den Arm fällt wenn das gehoben ist, was ihn zunächst geschmerzt hat; der den tiefern Schaden nicht geheilt haben will, sondern spricht: „Es ist genug bis hierher, ich bin schon zufrieden.“ Das thue du nicht. Klag' Ihm dein Leid, aber vergiß nicht Ihm zu sagen: „Lieber Herr, das schmerzt mich am meisten an meinem Leiden, daß ich es so nothwendig habe.“ Bleibe auch nicht bei den äußern Folgen deiner Sünde stehen, sondern geh' auf die Sünde selbst los mit deinem Gebet. „Ich habe unschuldig Blut verrathen,“ ruft Judas Ischariot, das reut und schmerzt ihn. Aber sein verrätherisches Herz, das zween Herren diente und ihn zu Falle brachte, das schmerzte ihn nicht.

Ist dir aber erst recht übel geworden über dich selbst, und hast du ein recht sehnlich Verlangen, er solle doch dein Herz aus deinem Herzen nehmen und es heilen, hast du deine Sünden nicht blos angeschaut im Lichte des Gesetzes, sondern im Lichte des Kreuzes Christi, und ihn gebeten, er solle doch seinen schmerzlichen Tod an deiner Seele nicht vergeblich lassen - dann spricht Er sein Friedenswort auch zu dir, dann hebt Er dich heraus aus deiner Sünde, aus deinem größten Uebel. Hat er dich einmal aber herausgehoben und auf diese freie Bergeshöhe mit ihrem Frieden gestellt, dann geht es dir wie Einem, der auf hohem Berge steht und unter seinen Füßen das Gewitter und den Regen sieht, aber oben ist's still und blauer Himmel. Die Leiden sind noch da, du stehst aber mit deiner Seele über ihnen. Du siehst, daß auch selbst die Trübsalsbande zu nichts anderm da sind, als dich von der Welt und ihren Ketten loszumachen. Du erkennst, daß Gott mit Allem was Er hier schmerzlich von dir trennt, deine Seele um so fester an Sich bindet. Jedes Kind, das Er dir nimmt, wird ein Band zu ihm; mit jedem Gut, das er dir entzieht, lehrt er dich besser beten: „Herr, wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“ Desto mehr wird Er dein Theil. Die dir die Ehre nehmen und dich demüthigen wollen, müssen helfen dich groß zu machen; die dir fluchen, müssen dich segnen. Bist du einmal beim guten Hirten, so treiben dich alle Wetter nicht weg, sondern, wie die Schaafe beim Gewitter, näher zu deinem HErrn hin.

Dann kannst du Alles zeitliche Uebel in seine Hand stellen, ob Er es wenden wolle zu Seiner Zeit. Und der Herr erhört uns und erlöst wunderbarlich auch hier schon vom leiblichen Uebel. Von seinem Kreuze an, wo Er eine ewige Erlösung erfunden, geht seine erlösende Kraft fort. Wir leben ja im Reiche der Erlösung. Losmachen, erlösen das ist sein Werk an uns, beim Einen geht's schnell, beim Andern langsam, je nachdem wir's brauchen. Gibt er irdisch Gut nicht in Fülle, gibt er's doch in Stille; nimmt er die Schmach nicht weg, gibt er doch Kraft sie zu tragen und zeigt bei den Steinwürfen den offenen Himmel, und oft macht er sogar auch unsre Feinde mit uns zufrieden, und wenn's auch erst an unserm Grabe wäre. Ja es ist wohl wahr: „oft kommt seine Hülfe ganz anders wo her, als wir's erwartet hatten. Wir haben gegen Morgen geschaut und die Hülfe ist aus Mitternacht gekommen.“ Das Wie und Wann überlasse darum getrost deinem HErrn. Die Erlösung kommt. Sie kommt hier schon. Du bittest ja in diesem Gebet: „Daß, wenn unser Stündlein kommt, er uns ein selig Ende bescheeren wolle und aus Gnaden aus diesem Jammerthal uns zu sich nehmen in seinen Himmel.“ Denn wir sind hier nicht daheim, und wenn's uns noch so gut gienge auf Erden, wir sind nicht daheim. Wenn ein Vöglein auch säße in einem goldenen Käfig - es ist eben gefangen und nicht frei. So sehnen auch wir uns aus unsrer Behausung. Wir möchten loskommen von dem innern Streit, der bei allem Frieden noch währt und von dem Rückfall, der bei aller Gesundheit uns bedroht. Ein „selig Ende,“ ja wohl! kein „schönes“ Sterben, aber ein selig Sterben wünschen wir vom Herrn. Das kann sich ja kein Mensch geben, das schenkt der Herr, der den letzten Feind überwinden hilft. Wir sterben dann nicht, sondern nur unser Elend stirbt. Darauf wollen wir uns freuen.

Als Kaiser Rudolph II. seinen herannahenden Abschied merkte, sagte er zu den Umstehenden: „Liebe Herren, als ich in meiner Jugend in Spanien war, und mein Vater einen Botschafter hinein schickte, mich in dieses mein irdisches Vaterland heimzuführen, war ich der Zeitung froh, daß ich dieselbe ganze Nacht nicht schlafen konnte. Ei, wie vielmehr soll ich denn fröhlich sein, dieweil mich jetzo mein himmlischer Vater in das ewige, unvergängliche Vaterland heimführen thut, das er mir durch seines Sohnes Blut wieder erworben hat.“ - So mach' du es auch, lieber Christ! Sei nicht wie ein Miethsmann, welchem die Wohnung gekündigt ist, und der sich wehrt auszuziehen, bis ihn der Gerichtsdiener mit Gewalt austreibt und seine Sachen ihm vor die Thüre wirft, vielmehr schickt dir Gott einen Todesboten zu, so sperre dich nicht und laß dich willig finden.

Und auch nach unserm Tode geht die Erlösung fort, denn wir warten unsers Heilandes Jesu Christi, welcher unsern nichtigen Leib verklären wird. Dann naht der Tag der letzten großen Erlösung, da kein Uebel, kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz mehr sein wird, und Gott abwischen will alle Thränen von unsern Angesichtern. Die Seinen hat Er vom Gerichte erlöst. Sie kommen nicht in's Gericht. Denn wer will beschuldigen, und wer will verdammen? Dann kommen die Schaaren des rechten Israel hergewandert von den Wasserflüssen Babylons; sie hatten ihre Fenster offen gen Jerusalem. Der HErr hat nun ihr Gefängniß gewendet. Dann hebet eure Häupter in die Höhe, die ihr sie hier habt senken müssen, darum daß eure Erlösung naht. Wenn aber der HErr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann sind die sieben Bitten des Vaterunsers erfüllt und was bleibt? Nichts anders denn der selige Schluß, den auch wir noch übrig behalten: Dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.

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