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Calvin, Jean - Psalm 73.

Calvin, Jean - Psalm 73.

Inhaltsangabe:Zuerst preist David, oder wer sonst der Verfasser ist, dem Widerspruch seines natürlichen Herzens zum Trotz, die Gerechtigkeit und Güte Gottes. Sodann bekennt er, er habe schweren Anstoß genommen, da er sah, wie die Gottlosen sich blühenden Wohlstandes erfreuen, sich es wohl sein lassen, ja in ihrem lästerlichen Sinn Gottes spotten und die Guten und Aufrichtigen unmenschlich quälen. Je ernstlicher sich dagegen jemand um Reinheit seines Lebens bemühe, desto mehr werde er von Mühsalen geplagt, ja von Sorgen und Schmerzen verzehrt. Gott aber, so scheint es, hätte sich im Himmel zur Ruhe gesetzt und helfe solcher Verwirrung der Dinge nicht ab. Und da hätte denn der Psalmist beinahe seinen religiösen Sinn und seine Gottesfurcht weggeworfen. Zum dritten (V. 15 ff.) legt er offen seine Torheit dar, dass er wegen des gegenwärtigen Zustandes ein verkehrtes, übereiltes Urteil gefällt habe, und belehrt uns, dass Geduld nottut, wenn der Glaube in den Wirrnissen nicht ins Schwanken geraten soll. Endlich zieht er den Schluss: Wenn man die verborgene Weisheit Gottes nur walten lasse, so werde dereinst am Ende der verschiedene Ausgang es an den Tag bringen, dass weder die Gerechten um ihren Lohn betrogen werden, noch die Gottlosen der Hand des Richters entfliehen.

Wer der Verfasser des Psalms ist, darüber streite ich nicht ängstlich, obschon es mir wahrscheinlich ist, dass wir an David zu denken haben und dass der Name Asaphs deshalb dasteht, weil es dem Asaph von Amts wegen oblag, den Psalm vorzutragen, - dass aber der Name Davids als bekannt vorausgesetzt und deshalb übergangen wurde. Wie nützlich uns die Lehre ist, die der Psalm enthält, lässt sich leicht aus dem Beispiel des heiligen Sängers ersehen, der nur mit Mühe sich aufrecht erhielt und kaum der Gefahr entging, im Glauben zu straucheln. Bekennt er doch sogar, er sei, ehe er die gesunde Überlegung wiedergewonnen, in dumpfe Ratlosigkeit versunken. Und doch war er ein in wahrer Gottseligkeit wohl geübter Mann. Wir aber haben, wie die Erfahrung bezeugt, von Gottes Vorsehung noch wenig geschmeckt. Wir bekennen wohl alle, die Welt stehe unter göttlicher Leitung, aber wenn das in unsere Herzen wirklich eingeprägt wäre, dann müsste doch unsere Glaubensbeharrlichkeit zum Überwinden des Missgeschicks eine ganz andere sein. Nun aber benimmt uns jeder noch so geringe Anlass diese Erkenntnis, ein Beweis, dass wir noch nicht wirklich und im Ernst überzeugt waren. Noch immer führt uns Satan mit unzähligen Kunstgriffen in die Finsternis, und in der Verwirrung der Welt ist des Dunkeln so viel, dass es schwierig ist, daran festzuhalten, dass Gott für die Welt sorgt. Die Gottlosen feiern die höchsten Triumphe, und während sie mit Fleiß Gottes Vergeltung herausfordern, spotten sie seiner, wie es scheint, ungestraft, indem er ihrer schont; die Guten und Aufrichtigen müssen über Mangel und viel Beschwerden, Plagen und Unrecht, Schmach und Schande seufzen. Je mehr sie trachten, sich jedermann nützlich zu beweisen, desto unverschämter wagen es die Gottlosen, ihre Geduld zu missbrauchen. Wen wandelt deshalb nie der ungläubige Gedanke an, der Weltlauf geschehe nach bloßem Zufall? Jedenfalls sind davon die Ungläubigen ganz durchdrungen, die Gott nicht durch seinen Geist erleuchtet, dass sie das ewige Leben suchen. Deshalb sagt Salomo (Pred. 9, 2 f.), die Menschenherzen seien voll Gottlosigkeit, weil den Guten und Bösen alles in gleicher Weise widerfahre, d. h. weil sie der Meinung sind, die Widerwärtigkeiten seien nicht von Gottes Hand gelenkt. Wie es denn bekanntlich auch manche Denker gegeben hat, die zwar die Vorsehung Gottes bejahten, aber in ihrem Verhalten zeigte es sich, dass sie davon nicht ernstlich überzeugt waren. Unter dem Eindruck unerwarteter Ereignisse verwarfen sie, was sie zuvor bekannt hatten. So werden die Urteile der Gottlosen durch verschiedenartige Ereignisse bald so, bald anders gedreht. Und wie sollten auch glaubenslose Menschen solch starken und gefährlichen Ränken Satans widerstehen können, sie, die nicht durch Gottes Geist wiedergeboren sind, da ja selbst die Herzen der Gläubigen gegen die gleiche Versuchung einer besonderen Hilfe der himmlischen Gnade bedürfen und es zuweilen auch ihnen begegnet, dass sie schwanken und gleiten: wie denn David bekennt, er sei nahe daran gewesen, zu fallen. Doch nun zu den Worten des Psalms.

V. 1. Israel hat dennoch Gott zum Trost.Dieser unvermittelte Anfang ist bemerkenswert. Ehe David in diesen Ausruf ausbricht, ist er von Zweifeln und widerstrebenden Gedanken heftig bewegt worden. Denn wie ein entschlossener Wettkämpfer hatte er sich in den schwierigsten Kämpfen geübt; nachdem er aber unter langen und vielen Mühen die ungöttlichen Vorstellungen überwunden, gelangt er zur festen Erkenntnis, dass Gott dennoch denen, die ihm dienen, gnädig sei und über ihrem Heile treulich wache. Es besteht also in ihm ein Widerstreit zwischen bösen Gedanken, die Satan eingeflüstert hatte, und diesem Zeugnis wahrer Frömmigkeit, mit welchem er sich nun stärkt. Es ist, als ob er seinen Fleischessinn verdamme, der den Zweifel an Gottes Vorsehung zugelassen hatte. Nun verstehen wir den großen Nachdruck, den er in seinen Ausruf legt. Nicht vom hohen Lehrstuhl herab redet David, indem er etwa nach Gelehrtenart in zierlich kunstvollen Reden disputierte, sondern aus der Tiefe seines vollen Herzens rühmt er den Sieg, den er erlangt. Sein Innerstes kehrt er gewissermaßen heraus, um an seinem Beispiel zu zeigen, wie heiß solch innerer Kampf ist; und er wünscht, dass wir dies noch mehr fühlen möchten, als er es in Worten ausdrücken kann. Was er also sagen will, ist, dass Gott, auch wenn er scheinbar die vernachlässigt, die ihm dienen, sie dennoch mit seiner Gnade umfängt. Er preist nämlich speziell die Vorsehung Gottes in Bezug auf die Schicksale der Gläubigen. Sie sollen wissen, dass sie nicht nur wie die übrigen Geschöpfe unter göttlicher Regierung stehen, sondern dass Gott mit besonderer Sorgfalt auf ihr Heil bedacht ist, gerade wie ein Familienvater ernstlich für sein Hausgesinde sorgt. Ob er also gleich die ganze Welt lenkt, so würdigt er doch seine Kirche, deren Schutz er in seine Hand genommen, seiner besonderen Aufmerksamkeit. Das ist es, weshalb der heilige Sänger von Israel redet und dabei diesen Namen zur Vermeidung des Missverständnisses genauer auf die bezieht, die „reines Herzens“ sind. Es gibt nämlich gar manche, die in anmaßendem Sinne den Namen Israel für sich beanspruchen, als ob sie ganz treffliche Glieder der Gemeinde Gottes wären, und sind doch nur Ismaeliter und Edomiter. Drum will David die entarteten Kinder Abrahams aus der Liste der Frommen streichen und erkennt als Israeliten niemand an, als wer dem Herrn aus reinem und einfältigem Herzen dient. Er sagt also: Wenn ich verkündige, dass Gott seinem Israel wohl will, so meine ich damit nicht alle jene, die sich mit einem bloß äußerlichen Bekenntnis begnügen und daraufhin mit einem leeren Titel prahlen, sondern nur die geistlichen Söhne Abrahams, die mit reiner Herzensbegier sich dem Herrn hingeben. Es stimmt also mit diesem Prophetenwort überein, wenn Christus (Joh. 1, 47) von einem rechten Israeliten spricht, in welchem kein Falsch ist. Da nämlich bei den Juden statt der Furcht Gottes, die erloschen war, nur noch die fleischliche Beschneidung beobachtet wurde, so unterschied Jesus mit diesem Ausspruch die echten, einfältigen Söhne Abrahams von denen, die sich bloß den Anschein solcher geben. Und in der Tat gehört zur wahren Gottesfurcht vor allem ein aufrichtiges Herz.

V. 2 u. 3. Ich aber hätte schier gestrauchelt.Buchstäblich wäre zu übersetzen: „Auch ich hätte schier gestrauchelt.“ David sagt dies mit großem Nachdruck. Seine Meinung ist, dass jene Versuchungen zu Lästergedanken wider Gott, die dem Glauben den Untergang bereiten können, nicht bloß geringen Leuten oder solchen zustoßen, die nur leichthin etwas von Frömmigkeit gekostet haben, sondern dass sie auch ihm nicht unbekannt geblieben seien, ihm, der doch vor anderen in Gottes Schule hätte fortschreiten sollen. Indem er nun sich selbst als Beispiel hinstellt, wollte er uns umso mehr wecken und anspornen, dass wir uns ernstlich hüten. Er ist freilich nicht unterlegen, aber da er bekennt, dass er nur um ein Weniges dem Fallen entronnen sei, erinnert er uns damit, dass die Gefahr des Fallens allen droht, wo nicht Gott sie mit starker Hand zurückhält. Hierauf setzt er die Art der Versuchung selbst auseinander, nämlich, dass er angesteckt gewesen von Neid gegen die Gottlosen, die er in ihrer angenehmen Lage für glücklich hielt. Eine schwere und schädliche Versuchung ist es, bei der wir nicht nur im stillen mit Gott rechten, weil er die Dinge nicht in Ordnung bringe, sondern auch der Sünde in uns die Zügel schießen lassen und meinen, das werde nicht gestraft. Allbekannt ist jener Ausspruch Dionysius des Jüngeren1), der nach Plünderung eines Tempels eine glückliche Schifffahrt hatte: „Seht ihr, wie die Götter den Tempelschändern günstig sind!“ Solche Leute lassen sich durch Wohlergehen nur zur Sünde reizen: nur zu leicht bildet man sich ein, dass Gott Wohlgefallen an denen habe, die er doch nur mit freundlicher Geduld trägt. So hat David Anstoß genommen am glücklichen Erfolg jener Leute, bei deren Anblick man versucht sein möchte, zu glauben, man könne nichts Besseres tun, als sich ihnen anschließen.

V. 4 u. 5. Denn sie sind in keiner Gefahr. Der Psalmist beschreibt die Annehmlichkeiten der Gottlosen, die ebenso viele Fallstricke für den Glauben der Frommen sind, und redet zuerst von ihrer Gesundheit, vermöge deren sie gedeihen und rüstig sind und nicht unter beständiger Mühe und Beschwerde ihr Leben zubringen. Ihnen scheinen Krankheiten nicht beschieden zu sein, die sonst den Menschen die Gefahr des Todes näher bringen und selbst Vorboten des Todes sind, und mit denen Gott uns an sein Joch bindet, damit wir nicht durch eigene Kraft und Gesundheit anmaßend werden.

Im Folgenden (V. 5) wird geschildert, wie die Gottlosen vergnügte Ruhe genießen, als ob sie ein Vorrecht darauf hätten, von Unglück verschont zu werden, dem doch sonst das ganze Menschengeschlecht unterworfen ist. Obschon nämlich über sie dieselben Heimsuchungen kommen wie über uns, und Gott oft seine Gerichte an ihnen ausübt, so lässt er doch manche von ihnen je und je vom Unglück verschont bleiben, und das vor aller Augen, um unseren Glauben auf die Probe zu stellen. Es gereicht uns in der Tat zu schwerer Versuchung, wenn wir sehen müssen, wie die Gottesverächter, anstatt wie alle Menschen (1. Mo. 3, 19) vieler Mühe und Ungemach unterworfen zu werden, in süßem Behagen ruhen dürfen, als ob sie dieser Welt entnommen und in einer himmlischen Behausung geborgen wären.

V. 6. Darum umgibt sie die Hoffart usw. Weiter geht die Klage, dass Gott, während er sieht, wie seine Verächter ihren menschlichen Stand frevelhaft missbrauchen, doch ihren Undank und Lästerung duldet. Dabei sind jene auf ihr böses Tun noch stolz, was der Verfasser unter dem Gleichnis eines Gewandes zeigt. Die Gottlosen tun sich auf ihre Frechheit und ihr Toben etwas zugute, gerade, wie wenn sie mit einem goldenen Halsgeschmeide prächtig geschmückt wären. Gewalttat aber ziehen sie an als ihr Gewand, d. h. sie sehen darin ihren schönsten Schmuck. So lassen sich die Gottlosen durch ihr Glück blenden und werden frecher und frecher. Sehr treffend wird dabei die Hoffart vorangestellt und dann die Gewalttätigkeit hinzugefügt. Oder woher kommt es, dass die Gottlosen alles rauben und an sich reißen und so viel Wildheit an den Tag legen? Daher, weil sie alle anderen für nichts achten oder vielmehr weil sie sich einbilden, die Menschheit sei nur für sie da. Die Hoffart ist eben die Mutter aller Gewalttat.

V. 7. Ihr Auge tritt heraus vor Fett. Es ist – so hören wir weiter – nicht verwunderlich, wenn die Gottlosen frech und unbändig sind, da sich ihr Wohlleben schon von außen, so z. B. an ihren vor Fett hervortretenden Augen zu erkennen gibt. David redet übrigens von der körperlichen Erscheinung nicht um ihrer selbst willen, sondern gebraucht sie als Bild für den Stolz, von dem die Gottlosen, in ihrem Überfluss schwelgend, aufgeblasen und zum Bersten voll sind. Der zweite Teil des Verses: „Ihres Herzens Gedanken übersteigen alles“ – beschreibt die zügellose Verwegenheit, mit der die Gottlosen sich über die uns allen gezogenen Schranken hinwegsetzen und mit ausschweifenden Plänen bis über die Wolken gehen; wie sie ja oft am liebsten die ganze Welt, wenn es möglich wäre, in Beschlag nähmen, oder gar wünschen, es möchten für sie noch andere Welten geschaffen werden. Kurz, in ihrer Unersättlichkeit durchfliegen sie mit ihren maßlos begehrlichen Gedanken Himmel und Erde. So werden in der Tat ihre törichten Gedanken durch keine Schranken aufgehalten.

Aber auch eine andere Auslegung passt aufs Beste, wonach der Psalmist etwa sagt: Die glücklichen Erfolge der Gottlosen übersteigen selbst das, was sie erstreben. Man kann es in der Tat beobachten, dass gewisse Leute mehr erreichen, als sie gewünscht haben, gerade als ob das Glück während sie schliefen, für sie das Netz auswürfe.

V. 8 u. 9. Sie … reden übel. Jene Leute, von denen die Rede ist, haben vergessen, dass sie nur Menschen sind, treten in ihrer zügellosen Frechheit alle Scham mit Füßen und machen aus ihrer Gottlosigkeit kein Hehl, ja sie rühmen sich noch frei öffentlich ihrer Räubereien. Wir sehen es ja, wie die Gottlosen, sobald sie einige Zeit hindurch ihre Absichten erreicht haben, alle Schau ablegen und bei ihrem Sündigen nicht einmal die Verborgenheit aufsuchen, sondern noch mit prahlenden Worten ihre Schändlichkeit verkündigen. „Was meinst du“, sagen sie, „habe ich nicht Macht, dir all dein Gut zu nehmen, auch dich zu töten?“ Räuber sind dazu imstande, aber sie fürchten dabei sonst wenigstens die Öffentlichkeit. Jene Ungeheuer aber, von denen David spricht, halten sich erhaben über jedes Gesetz, ja sie tun sogar, als ob es keinen Unterschied zwischen gut und böse gäbe. – Sie reden und lästern hoch her, heißt so viel als: sie gießen ihren Hohn über alle Leute aus. Wie man sonst von Stolzen sagt: „Sie sehen auf andere herab“ (indem sie einen keines geraden Blickes würdigen), so spricht David von ihnen: Sie reden hoch her, indem sie der Meinung sind, als hätten sie mit anderen Menschen keine Gemeinschaft.

Im folgenden Vers zeichnet er sie als Lästerer, sowohl gegen Gott als gegen die Menschen. Nichts ist ihnen zu hoch, Himmel und Erde sollen ihrem Machtwort unterworfen sein. Ob ihnen jemand Gottes Macht entgegenhält, so trotzen sie dagegen in ihrer Verwegenheit. Und vonseiten der Menschen besorgen sie keinerlei Schwierigkeiten. So machen ihre prahlerischen Reden vor keinem Hindernis Halt, sondern fahren über die ganze Erde hin. Diese Redeweise scheint wohl etwas übertrieben, aber wenn wir erwägen, wie grenzenlos die Unverschämtheit jener Leute ist, so müssen wir zugeben, dass der heilige Sänger nichts anderes aussagt, als was die Erfahrung beweist.

V. 10. Darum wendet sich sein Volk hierher. Manche Ausleger finden hier den Sinn, dass jeder gottlose Mensch, der sein Panier entfaltet, auch „sein Volk“, seinen großen Haufen, finde, der ihm zuläuft. Nach der richtigen und von den meisten Auslegern angenommenen Erklärung ist aber an Gottes Volk zu denken oder wenigstens an Leute, die man dazu zu zählen pflegte. Von diesen wird dann gesagt: sie schlürfen Wasser in Fülle, d. h. sie müssen, wenn sie von dieser Versuchung sich fortreißen lassen, wie im Schiffbruch zu Grunde gehen. So wäre nicht von den Auserwählten die Rede, sondern von Leuten, die nur zum Schein Israeliten und Glieder der Gemeinde sind. Die werden ins Verderben hinabgezogen, da sie aus Torheit sich berücken lassen, dem bösen Beispiel zu folgen, und Gott und Gottesfurcht verlassen. Immerhin könnte man den Satz auch nicht unpassend auf die Auserwählten beziehen, deren viele von jener Versuchung so heftig angegriffen werden, dass sie sich versteckten Irrtümern zuwenden, nicht weil sie sich einem verbrecherischen Wesen ergäben, aber weil sie ihren Standpunkt nicht fest behaupten. Der Sinn der Worte wäre dann der, dass nicht nur das gemeine Volk, sondern auch Leute, die gläubig sein wollen und den Vorsatz haben, Gott zu dienen, sich durch böse Scheelsucht verführen lassen. Die folgenden Worte müssten dann als Angabe des Grundes verstanden werden: sie lassen sich erschüttern, weil sie tief betrübt sind, wenn man keinen Nutzen eines frommen Wandels sieht. „Wasser schlürfen“ wäre dann eine bildliche Bezeichnung dafür, dass sie maßlose Schmerzen schlucken müssen.

V. 11. Und sprechen: „Was sollte Gott“ usw. Einige meinen, dass der heilige Sänger nun wieder zu den Gottlosen zurücklenke und von ihren Spöttereien und Lästerungen berichte, mit denen sie sich zum Sündigen anstacheln. Aber das scheint mir nicht richtig. Vielmehr entfaltet David hier genauer, was er im vorigen Vers gesagt, nämlich, dass auch Gläubige auf ungöttliche Gedanken verfallen, wenn das – obschon unbeständige – Glück der Gottlosen ihnen die Augen blendet, so dass sie am persönlichen Bewusstsein Gottes zweifeln. Was die weltlich Gesinnten betrifft, so ist ja bei ihnen diese Tollheit ohnehin etwas Gewöhnliches, wie man das bei heidnischen Dichtern, in deren Liedern sich bekanntlich der Geist ihrer Zeitgenossen spiegelt, zur Genüge beobachten kann. David aber stellt fest, dass auch Gläubige zuweilen schwanken, nicht dass sie sich bis zur Lästerung versteigen, sondern weil sie nicht vermögen, fest bei ihrer Überzeugung zu bleiben, wenn es scheint, als versäume Gott sein Amt. Bekannt ist jener Klageruf des Jeremia (12, 1): „Herr, wenn ich gleich mit dir rechten wollte, so behältst du doch recht; dennoch muss ich vom Recht mit dir reden.“ Da sehen wir, wie der Zweifel an Gottes Vorsehung auch fromme Geister anficht. Aber sein Stachel dringt bei ihnen doch nicht durch, wie denn Jeremia im angeführten Verse durch die einleitenden Worte seine Aussage einschränkt. Die Gläubigen weisen aber die Nachstellungen Satans nicht immer so gründlich zurück, dass sie nicht darüber grübelten, wie es denn möglich sei, dass Gott auf die Welt achte und doch solcher Verwirrung nicht abhelfe. Es gibt zweierlei Arten von Leuten, die mit gottlosem Geschwätz Gottes Vorsehung leugnen. Die einen nämlich scheuen sich nicht, offen und frei die lästerliche Behauptung aufzustellen, Gott gebe sich behaglicher Muße hin und überlasse unterdessen alles Regiment dem Zufall. Die anderen schweigen zwar und schlucken ihre Gedanken in sich hinein, murren aber nichtsdestoweniger und beschuldigen Gott der Ungerechtigkeit oder der Schlaffheit, indem er allem bösen Tun gegenüber durch die Finger sehe, die Frommen versäume und sich nichts daraus mache, wenn alles sich auflöse und zu Grunde gehe. Die Frommen hingegen entladen, ehe solche schlimme und verwerfliche Gedanken in ihre Seele eindringen, ihr Herz vor Gott und verlangen nichts, als in seinen verborgenen Ratschlüssen zu ruhen, ob auch dieselben sich ihrem Verständnis entziehen. Wir verstehen also die Worte dieses Psalms dahin, dass nicht allein die Gottlosen angesichts des wirren Weltlaufes an das Walten des blinden Zufalls glauben, sondern auch die Gläubigen innerlich erschüttert werden und in Gefahr stehen, über die Vorsehung Gottes in Zweifel zu geraten. Sie werden aber von Gottes Hand vor dem Sturz in diesen Abgrund wunderbar bewahrt.

V. 12 bis 14. Siehe, das sind die Gottlosen usw. An einem Beispiel zeigt der heilige Sänger, welche Art von Neid es war, der sein Gemüt beinahe zu Fall gebracht hätte: Siehe, sagt er, jene Leute sind so ruchlos und erfreuen sich doch eines ruhigen Behagens sowie einer hervorragenden Machtstellung, und das nicht nur für wenige Tage, sondern auf lange Zeit, so zu sagen ohne Aufhören. Das hebräische Wort, welches viele Ausleger so übersetzen, als wären die Gottlosen glücklich „in der Welt“, heißt vielmehr: „immerdar“. David klagt über das beständige und dauernde Glück der Unfrommen, dessen die Guten verdrießt, weil Gott zu verziehen scheint.

Wie er nun sieht, dass der Herr die Frevler so freundlich hegt, kehrt er (V. 13) wieder zur Betrachtung seiner eigenen Lage zurück. Weil er sich einer echten Frömmigkeit bewusst ist, so überlegt er bei sich, was für Vorteil er empfangen habe von seinem gerechten Wandel unter schwerer Plage. Er sagt ja: und bin geplagt täglich. Alle Morgen warte wieder ein Ungemach auf ihn, so dass seines Elends keine Ende sei. Kurz: Ich habe gewiss umsonst getrachtet, Herz und Hände rein zu halten, da doch andauernde Betrübnisse meiner warten und, so zu sagen, Wachen ausstellen, um mich beim ersten Morgenrot zu überfallen (V. 14). Dieser Sachverhalt zeigt, dass niemand Gott gegenüber einen Anspruch auf Belohnung seiner Unschuld geltend machen darf: denn sonst müsste der Herr seine Verehrer etwas sanfter behandeln. Dabei schreibt sich David beide Stücke der Rechtschaffenheit zu: Herzensreinheit und äußere Gerechtigkeit im Wandel. Auch wir wollen nach seinem Vorbild beides verbinden lernen, indem wir zunächst mit der Reinheit des Herzens den Anfang machen, dann aber dieselbe beweisen in untadeliger Gerechtigkeit vor den Menschen.

V. 15. Wenn ich sagen würde usw. Weil David die Verkehrtheit der Gedanken einsieht, zu denen er versucht war, legt er sich Zügel an und beschuldigt sich der Unbeständigkeit, da er sich Zweifel gestattet hatte. Die Stelle ist nun, wenn auch dem Sinne nach durchaus nicht unklar, so doch in ihrem Ausdruck etwas dunkel. Einige übersetzen: „Ich wäre treulos geworden an dem Geschlechte deiner Kinder“, also: ich hätte den Gläubigen Schmach bereitet. Aber buchstäblich steht da: „Siehe, das Geschlecht deiner Kinder; ich ein Übertreter.“ Der Sinn wird einfach der sein: Wenn ich jenem ungläubigen Zweifel beistimme, so versündige ich mich, denn da sind ja die Gläubigen, die doch trotz der Welt aushalten, und du erhältst dir immer noch ein Volk. Nach dieser Auslegung steht also das „Ich bin (oder ich wäre) ein Übertreter“ für sich da, ohne direkte Beziehung zum „Geschlecht der Kinder Gottes“. So ist uns klar, was David sagen will, nämlich: Während die Gottentfremdeten sich in ihren Gedanken gehen lassen, dabei sich in Trotz verhärten und mit Ablegung der Furcht vor Gott auch die Hoffnung des Heils wegwerfen, hält der heilige Mann sich in der Zucht, um nicht auch in solchen Abgrund der Gottentfremdung zu stürzen. Immerhin bekennt David, dass er mit zeitweiliger Hinneigung zu jenen Zweifelsgedanken schon gesündigt habe in Anbetracht dessen, dass Gott sich ein Volk bewahrt, das nach wie vor an ihm festhält. Es ist aber auch ein rechtes Gotteswunder, wenn die Gemeinde, die von Satan und unzähligen anderen Feinden so heftig angegriffen wird, unversehrt bleibt.

V. 16 u. 17. Ich gedachte ihm nach usw. Hatte der Psalmist im vorigen sich der Verfehlung angeschuldigt, so bekennt er nun, er sei von den Irrwegen, die seinen Geist unschlüssig machten, nicht losgekommen, bis er (V. 17) ins Heiligtum Gottes gegangen sei. Die Worte laufen nämlich hauptsächlich darauf hinaus, dass er trotz allseitiger Überlegung doch mit seiner Vernunft nicht dahintergekommen sei, auf welche Weise Gott unter solchen Verwirrungen doch die Welt regiere. Und durch sein eigenes Beispiel erinnert er daran, wohin die Menschen gelangen, wenn sie sich von ihrem eigenen Sinn leiten lassen, nämlich, dass sie vor Mühsal mutlos werden müssen, weil sie nichts Gewisses und Festes finden. Der Gang ins Heiligtum steht offenbar im Gegensatz zu den Bemühungen des fleischlichen Verstandes. Was also die Menschen aus der eigenen Weisheit schöpfen, ist oberflächlich und hinfällig. Wahre Weisheit besteht allein im Aufmerken auf Gottes Wort, an das wir uns ganz und gar hängen sollen. Dabei ist nicht einmal von den Ungläubigen die Rede, die mit Willen blind sind, sich in Irrtümer stürzen und begierig Anstöße aufsuchen, die geeignet sind, den Menschen seinem Gott zu entfremden. Sondern selbst David, der ebenso bescheidentlich als eifrig sich der frommen Nachforschung hingab und nicht nur aufmerksam, sondern auch ehrfurchtsvoll zu Gottes Urteilen aufsah, muss gestehen, dass sein Mühen eitel gewesen sei: „es war mir zu schwer“.

Wer also in Kraft seiner natürlichen Vernunft über Gottes Ratschlüsse zur Klarheit kommen will, der wird sich erfolglos bemühen. Es ist also nötig, die Dinge von einem höheren Standpunkt aus zu betrachten. Unter dem Heiligtum Gottes ist die göttliche Unterweisung zu verstehen. Da nämlich das Gesetz im Heiligtum aufbewahrt wurde und man göttliche Aufschlüsse dort suchen musste, wenn anders man in rechter Weise lernen wollte, so sagt David ganz passend: „Ich ging in Gottes Heiligtum“, um auszudrücken, dass er sich in Gottes Schule begab. Er wollte sagen: Ehe Gott mein Lehrer wird und ich aus seinem Worte lerne, was mein Geist sonst nicht fasst, geht mein Nachdenken über die Weltregierung fehl. Wenn wir denn hören, dass die Menschen, so lange sie ihre Erkenntnis nicht anderswoher schöpfen als aus sich selbst, nicht tüchtig sind, den Verlauf der Vorsehung Gottes richtig zu betrachten, wir kann es denn für uns eine andere Weisheit geben, als die, gehorsam anzunehmen, was Gott uns durch sein Wort sowohl als durch seinen Geist lehrt? Und wenn auch David mit dem Ausdruck „Heiligtum“ auf jene äußerliche Lehrweise anspielt, die Gott in seinem Volke eingerichtet hatte, so denkt er doch neben dem Wort Gottes zugleich an die verborgene Erleuchtung durch den Geist. Der Ausdruck „ihr Ende“ oder „ihre letzten Dinge“ geht nicht auf das Lebensende der Gottlosen, das ja von jedermann gesehen wird (was braucht es dazu ein Gehen ins Heiligtum Gottes?) – sondern dieses „Ende“ erstreckt sich auf die Urteile Gottes, durch die er offenbar macht, dass er in jenen Zeiten, wo er zu schlafen scheint, nur die Strafen, welche die Gottlosen verdient haben, auf die gelegene Zeit verschiebt. Das will noch ein wenig ausführlicher dargelegt sein. Wenn wir von Gott erfahren wollen, was für eine Bewandtnis es mit der Lage der Gottlosen habe, so antwortet er, dass sie nach kurzer Blüte mit einem Male dahinwelken. Und selbst wenn ihr Leben bis zu ihrem Tode in beständigem Glück dahinfließt, so widerspricht das dem Gesagten nicht, da ihr Leben selbst nichtig ist. Gott kündigt uns also an, dass alle Gottlosen ein schlimmes Ende nehmen werden. Wenn er nun an ihnen schon in diesem Leben offenbare Vergeltung übt, dann wollen wir darin das Eintreffen seines Urteils erkennen. Wenn aber während ihres Erdenlebens sich keine Rache zeigt, müssen wir eben unsere Seelen in Geduld fassen und denken, noch sei das Ende und der letzte Tag nicht da. Überhaupt, wenn wir bei Betrachtung der Wege Gottes zur Klarheit kommen wollen, so gilt es vor allem, dass wir ihn um geöffnete Augen bitten und dann vor seinem Worte uns beugen.

V. 18. Ja, du setzt sie aufs Schlüpfrige. Nachdem David die Kämpfe überstanden, ist er wie ein neuer Mensch geworden und spricht nun ruhig wie von hoher Warte aus; wie auch der Prophet Habakuk (2, 1) dieses Auskunftsmittel in bösen Zeiten uns mit seinem eigenen Beispiel empfiehlt: „Hier stehe ich“, sagt er, „auf meiner Hut“. David zeigt uns, wie gewinnbringend es ist, Gott zu nahen. „Herr“, sagt er, „ich verstehe nun dein Tun.“ Ob auch die Gottlosen ein Weilchen aufrecht stehen, so wandeln sie doch auf schlüpfrigem Boden, um in kurzem hinzufallen. Das scheint freilich bei den Wohlgesinnten auch nicht anders zu sein; denn die ganze Welt ist wie ein schlüpfriger Boden. Aber weil die Gläubigen im Himmel ihre Heimat haben und auf Gottes Güte fest gegründet sind, so sind sie zwar noch gebrechlich, und ihr zeitliches Schicksal ist ungewiss, aber doch gilt von ihnen nicht, dass sie auf dem Schlüpfrigen stehen. Denn auch wenn sie wanken oder selbst ausgleiten, so hält doch Gott seine Hand unter, macht die Wankenden fest und richtet die Gleitenden wieder auf. Die schlüpfrige Lage der Gottlosen rührt aber daher, dass sie sich auf ihre Macht stellen, wie auf einen beeisten Boden, und mit ihrer wahnwitzigen Selbstüberhebung ihren eigenen Sturz herbeiführen. Man darf sich nämlich nicht einbilden, das Schicksal bringe in zufälligem Lauf planlos alles durcheinander, sondern es bleibt bei dem vom heiligen Sänger angedeuteten göttlichen Plan, von dem es heißt, dass er den Frommen im Heiligtum geoffenbart werde. Der Wettlauf wird von Gottes geheimnisvoller Vorsehung bewegt.

V. 19. Wie werden sie so plötzlich zunichte! Dieser Ausruf des Erstaunens trägt nicht wenig bei zur Bestätigung des eben Gesagten. Wie uns nämlich das Wohlergehen der Gottlosen in Erstaunen und Verlegenheit versetzt hat, so bringt uns ihr unverhofftes Verderben wieder zur Besinnung, so dass man unwillkürlich darüber nachsinnen muss, wie denn das geschehen sei, was jedermann für unmöglich gehalten hätte. Zugleich aber erinnert David daran, dass Gott täglich in dieser Weise wirkt, so dass wir genug Anlass zum Erstaunen fänden, wenn nicht unsere Geistesaugen so schwach wären. Ja, wenn wir im Glauben die Gerichte Gottes von ferne voraus erblickten, so würde uns kein Ereignis fremdartig oder schwer glaublich vorkommen; denn die Verwunderung stammt aus der Beschränktheit unseres Geistes – die Worte: „Sie werden vom Schrecken verzehrt“, lassen eine doppelte Deutung zu; entweder wollen sie sagen, dass Gott seine Feinde in Schrecken setzt durch Zornesblitze von ungewöhnlicher Art, oder dass er, ohne eine Hand rühren zu müssen, mit dem bloßen Hauch seines Mundes die Gottlosen umbringt und vernichtet, während sie doch sicheren Sinnes alle Gefahren verachten, als ob sie außer Bereich seiner Geschosse wären und mit dem Tode einen Vertrag geschlossen hätten. Wir haben schon an einer früheren Stelle (Ps. 12, 5) gesehen, wie Gottlose prahlen: „Wer ist unser Herr?“ Der ersten Deutung gebe ich den Vorzug. Dazu veranlasst mich die Erwägung, dass Gott unseren stumpfen Sinn, der zur Betrachtung seiner Gerichte so träge ist, heilen will und dazu heftige Gerichte ausübt und in außergewöhnlichem Maß die Gottlosen verfolgt.

V. 20. Wie ein Traum usw. Diesem Vergleich begegnen wir in der heiligen Schrift oft, wie, um nur ein Beispiel anzuführen, Jesaja (29, 7) von den Feinden der Gemeinde sagt: sie werden sein wie ein nächtliches Traumgesicht. An unserer Stelle trifft der Vergleich besonders zu. Woher kommt die große Verwunderung über das Glück der Gottlosen, wenn nicht aus der Betäubung, die unseren Geist gefangen hält? Wir stellen uns die Gottlosen als glücklich und beneidenswert vor, gerade wie wir im Traum ganze Reiche aufrichten, die nie gewesen sind. Menschen, die vom Wort Gottes erleuchtet und auf der Hut sind, lassen sich durch den Glanz der Gottlosen nicht blenden, sondern werden davor bewahrt durch einen anderen Glanz, der jenen weit übertrifft. Uns will der heilige Sänger wecken, dass uns klar werde, wie alles, was wir in der Welt sehen, ganz eitel ist, wie denn er selbst bei seiner Rückkehr zu gesunder Besinnung erkennt, dass er vorher geträumt habe und im Wahne befangen war. Das Gesagt wird nun begründet mit den Worten: So machst du ihr Bild … verschmäht. In ähnlichem Sinne heißt es von den Gottlosen im 37. Psalm (V. 7): „Sie gehen daher wie ein Schemen“, was so viel heißt als: Sie zerfließen wie das haltlose Wasser, oder wie ein glänzendes, aber wesenloses Spiegelbild. „Bild“ bedeutet also hier das, was wir sonst den äußeren Schein nennen. Damit tadelt der Prophet nebenbei unsere Torheit, mit der wir uns eitlen Hirngespinsten hingeben. – Die Worte des Grundtextes, die man auch übersetzt hat: „in der Stadt“, heißen genauer und zugleich verständlicher: „beim Aufwachen“, nämlich wenn jene Traumgebilde, die uns täuschten, vergangen sein werden. Das geschieht aber nicht nur, indem Gott die Verwirrung in annehmbare Ordnung auflöst, sondern auch, indem er die Finsternis zerstreut und unseren Geist erhellt. Und wenn auch in dieser Welt die Verhältnisse nie so geordnet erscheinen, wie es zu wünschen wäre, da Gott, um unsere Hoffnung lebendig zu erhalten, den Zustand der Vollendung bis zum Tag des Gerichts aufschiebt; wie oft streckt er eben doch die Hand aus gegen die Gottlosen und lässt gleichsam ein Morgenrot aufleuchten, damit nicht ein zu dichter Nebel traumhafter Verblendung uns umfange. Das beziehen nun manche auf das jüngste Gericht, so dass David sagen würde, die Gottlosen seien in der Welt reicht an Gütern und Macht, und diese Finsternis und Verworrenheit dauere an, bis dereinst Gott die Toten auferwecken wird. Dieser Gedanke aber, obwohl an sich gut, ist hier nicht am rechten Ort; er fügt sich nicht in den Zusammenhang ein.

V. 21 u. 22. Da es in meinem Herzen gärte usw. Der Verfasser wiederholt hier sein schon weiter oben abgelegtes Bekenntnis, dass er die sündlichen Eingebungen der Eifersucht wie Stiche in seinem Herzen empfunden und mit Gott bitter gerechtet habe. Den Unwillen vergleicht er mit einem Sauerteig, indem er sagt, sein Herz sei gleichsam sauer gewesen, oder aufgequollen einem Sauerteige gleich. Die Worte: Es stach mich in meinen Nieren – haben ihren Grund darin, dass man bei den Hebräern sich die Nieren als den Sitz der Begierden dachte. David sagt also, er sei von verwirrten Gedanken festgehalten worden wie von Dornen. Woher dieser sein heftiger Unwille kam, haben wir früher gesagt. Viele Gott entfremdete Leute, welche leugnen, dass die Welt von einer himmlischen Vorsehung regiert wird, beunruhigen sich deshalb nicht sonderlich, scherzen vielmehr über die Launen des Zufalls. Je fester dagegen die Gläubigen davon überzeugt sind, dass Gott der Richter der Welt ist, desto mehr ficht es sie an, wenn er ihren Wünschen nicht entspricht. Aber alsbald nimmt David, wie es auch billig war, sich in strenge Zucht und nennt sich erstlich einen Toren, klagt sodann seine Unwissenheit an uns sagt drittens, er sei den Tieren gleich gewesen. Hätte er bloß seinen Unverstand bekannt, so stand noch die Frage offen, woher Sünde und Abfall kämen. Das schreibt er darum seiner Torheit zu, und mit noch stärkerem Ausdruck vergleicht er sich mit den unvernünftigen Tieren. In Summa: jene sündliche Eifersucht, deren er sich erinnert, rühre von Unwissenheit und Irrtum her, die Schuld aber des Irrtums liege bei ihm selber, da er die Vernunft habe fahren lassen, und das nicht in gewöhnlichem Maße, sondern bis zur gänzlichen Sinnlosigkeit. Wenn es nämlich auch wahr ist, was wir vorhin sagten, dass die Menschen über Gottes Werke nie richtig urteilen, weil für die Betrachtung derselben alle ihre Sinne nicht ausreichen, so rechnet doch David ganz richtig sich die Schuld zu, wenn er von menschlicher Urteilskraft zur tierischen Unvernunft herabgesunken war. Übrigens, so oft uns der Ratschluss Gottes, nach welchem er die Welt lenkt, nicht gefallen will, wollen wir uns dessen erinnern, dass dies an der Verderbtheit unseres Sinnes liegt. David fügt noch bei: Ich war wie ein Tier „vor dir“. Er will damit sagen: Herr, wenn ich vielleicht sonst in irgendeiner Hinsicht in der Welt mich auszuzeichnen schien – deiner himmlischen Weisheit gegenüber war ich doch nur sozusagen ein Tier. Und diese kurze Beifügung steht nicht ohne Grund da. Denn wie kommt es, dass die Menschen so eitel sind und sich so gern etwas einbilden? Weil jeder sich schmeichelt, indem er sich mit den anderen vergleicht. Unter Blinden dünkt sich der Einäugige etwas. Jedenfalls fühlt er sich dadurch befriedigt, dass andere nicht mehr Einsicht haben als er. Wo man aber zu Gott kommt, fällt jener Irrtum, der uns die Sinne betäubt hat, in sich zusammen.

V. 23. Dennoch war ich stets mit dir. Jetzt dankt David dem Herrn, dankt ihm dafür, dass in jener Zeit, wo sein Glaube beinahe zur Ruine geworden wäre, Gott ihn vor dem eigentlichen Fall bewahrt hat. Und die Größe dieser Gnadenerweisung wird gekennzeichnet durch jenes Bekenntnis, dass er der Besinnung beraubt und wie ein unvernünftiges Tier gewesen sei. Doppelt und Dreifach hätte er es verdient, verworfen zu werden, da er es wagte, gegen Gott zu murren. Was nun den Ausdruck „mit Gott sein“ betrifft, so kann er zweierlei Sinn haben. Entweder beschreibt er die Gesinnung solcher Leute, die gewiss sind, dass all ihr Wandel vor Gottes Augen geschieht, von seiner Hand regiert und von seiner Güte getragen wird. Oder aber der Ausdruck beschreibt Gottes Treue gegen Leute, die in der Irre gehen, die er mit einem geheimen Zügel festhält und nicht in gänzliche Entfremdung von ihm geraten lässt. Wer also meint, er sei von Gott versäumt, der ist zwar eigentlich nicht mit Gott verbunden, aber durch die verborgene Gnade Gottes bleibt er doch bei ihm dadurch, dass Gott ihn nicht verlässt. Kurz, Gott ist seinen Auserwählten stets nahe: ob auch sie ihm den Rücken kehren, so folgt ihnen doch seine väterliche Aufsicht immer nach. –

Mit den Worten: „Du hieltest mich“, legt der heilige Sänger dar, wie er durch Gottes wunderbare Güte von jenem tiefen Abgrund zurückgezogen wurde, in den die Gottlosen sich stürzen. Dass also David sich vor ausgesprochener Gotteslästerung und vor Verhärtung im Irrtum gehütet hat, und dass er ferner seine Torheit selbst verurteilte, das, sagt er, habe er der Gnade Gottes zu danken, der die Hand ausgestreckt und ihn, den Fallenden, wiederaufgerichtet habe. Daraus können wir erkennen, wie kostbar vor Gott unser Heil ist, da er uns, während wir noch ferne von ihm abirren, doch sorgfältig überwacht und die Hand ausstreckt, um uns zurecht zu bringen. Wenn wir dies auch nicht zum Deckmantel der Gleichgültigkeit machen dürfen, so lehrt eben doch die Erfahrung, dass wir selbst in unserem Unverstand und Stumpfsinn dem Herrn am Herzen liegen, und dass er auch solchen Entlaufenen und Verwahrlosten nahe ist. Man beachte den bildlichen Ausdruck: Du hieltest mich „bei meiner rechten Hand“. Jede noch so geringfügige Versuchung nämlich kann uns leicht zu Falle bringen, wenn nicht Gott uns hält. Wenn wir also selbst in schwersten Kämpfen nicht unterliegen, so kann das nicht anders als durch die Hilfe des heiligen Geistes geschehen. Nicht dass er seine Kraft gerade immer in auffälliger Weise in uns an den Tag legte – er wirkt sie ja oft eben in unserer Schwachheit aus, sondern – und das ist genug – er lässt den Blinden und Unwissenden seine Hilfe angedeihen, stützt die Unsicheren, ja richtet selbst die Gefallenen wieder auf.

V. 24. Du leitest mich usw. Diese Worte gehen auf die Zukunft und haben meines Erachtens folgenden Sinn: Nachdem ich, o Herr, nun durch deine Führung auf den rechten Weg zurückgebracht bin, wirst du auch fürs weitere fortfahren, mich zu regieren, bis ich einst in deine Herrlichkeit aufgenommen werde. Es ist bekanntlich Davids Gepflogenheit, beim Danksagen auch Vertrauen zu schöpfen für die Zukunft. Nachdem er also seine Schwachheiten bekannt hat, preist er die erfahrene, hilfreiche Gnade Gottes und fasst Hoffnung auf deren Beständigkeit. Von der Leitung durch Gottes Rat redet er zuerst. Wenn nämlich auch den Toren und Unbedachtsamen zuweilen ihre Anschläge gut geraten, weil Gott unsere Irrtümer verbessert und schlecht begonnene Dinge zu einem fröhlichen Ende führt, - so besteht sein gewöhnlicher und vollerer Segen doch darin, dass er den Seinen Weisheit gibt. Und darnach müssen wir denn auch in erster Linie trachten, dass er uns durch den Geist des Rates und der Urteilskraft regiere. Denn wer im Vertrauen auf seine eigene Umsicht etwas in Angriff zu nehmen wagt und so sich selber das anmaßt, was allein Gott zusteht, der wird mit dieser seiner Unbesonnenheit zuschanden werden. Hat doch ein David nötig gehabt, dass Gott vor ihm herging, wie viel mehr bedürfen wir dieses Führers! – An die Leitung durch Gottes Rat schließt sich dann das andere Stück: und nimmst mich endlich mit Ehren an. Das soll man nicht mit einigen Auslegern auf das ewige Leben beschränken, sondern es fasst unser Wohlergehen in seinem ganzen Verlauf in sich von seinem jetzigen, irdischen Anfang bis zu dem himmlischen Ziel, auf das wir hoffen. David verspricht sich also von der freien Gnade Gottes die ewige Herrlichkeit, schließt dabei aber die Segnungen nicht aus, die Gott auf Erden schon den Seinen nachfolgen lässt, damit sie bereits einen Teil der Glückseligkeit kosten.

V. 25. Wenn ich nur dich habe. Noch deutlicher legt der Verfasser hier dar, wie Großes er im Heiligtum Gottes gewonnen hat: Er ist imstande, alles, was sich ihm sonst darbietet, zurückzuweisen, weil er an einem genug hat, an seinem Gott. Außer ihm begehrt er nichts, weder im Himmel noch auf Erden, und verabscheut, was irgend sonst die Menschen herbeiwünschen. Und Gott empfängt auch erst dann die ihm gebührende Ehre von uns, wenn wir nicht mehr mit begehrlichem Gemüte uns bald hier, bald dorthin wenden, sondern wenn er selbst und er allein uns genügt. Ja, wenn wir auch nur das kleinste Stück von Vorliebe Geschöpfen zuwenden, stehlen wir Gott ebenso viel an der Ehre, die wir ihm schuldig sind. Und doch hat es in allen Jahrhunderten bis heute nichts Gewöhnlicheres gegeben, als diesen Raub am Heiligen. Denn wie selten findet man einen Menschen, dessen Sinnen und Trachten in Gott allein aufgeht? Wir sehen ja, wie so viele zwar mit dem Munde bekennen, dass von Gott alles abhängig sei, und doch im Leben unzählige Male sich anderweitige Hilfe verschaffen. Andere sind so hochmütig, dass sie sich oder andere Menschen Gott an die Seite stellen wollen! Desto ernster sollen wir es uns merken, dass es unrecht ist, sich an irgendjemand außer Gott zu hängen. Wenn David von „Himmel und Erde“ spricht, so bezeichnet er damit zwar alles, was Menschen sich vorstellen können, aber er denkt doch, wie mir scheint, noch besonders an zwei Dinge. Im Himmel begehrt er niemand als Gott; 2) er verwirft also alle erfundenen Götter, mit denen die allgemeine Torheit und Unwissenheit der Menschen den Himmel bevölkert. Und wenn er sagt, er begehre auf Erden niemand, so beziehe ich das auf die Täuschereien, von denen so ziemlich die ganze Welt trunken ist. Denn auch solche, die sich nicht von jener ersten List Satans verführen lassen, den falschen Göttern zu huldigen, verführen sich selbst durch Anmaßung, indem sie sich auf ihren Fleiß und ihre Tüchtigkeit oder Klugheit verlassen, also das, was dem Herrn gehört, für sich in Anspruch nehmen, oder indem sie sich von trügerischen Reizen verlocken lassen, auf Menschengunst vertrauen oder auf eigene Glücksgüter oder fremde Hilfsmittel sich stützen. Die einzig richtige Art, nach Gott zu fragen, ist also die, dass wir uns nicht auf allerlei Umwege abziehen lassen, sondern allen Aberglauben sowie allen Stolz ablegen und geradeswegs nach Gott allein trachten. Damit wir aber in Gott allein unser Genüge finden, verlohnt es sich, die Fülle von Gütern, die er uns anbietet, kennen zu lernen.

V. 26. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet usw. David stellt dem Verschmachten, das er in sich fühlt, die Stärke entgegen, die ihm von Gott her zuteilwird. Er will sagen: Während ich, von Gott getrennt, nichts bin und alles, was ich habe, in nichts zerfällt, so finde ich, sowie ich zu Gott komme, volle Stärke. Und das tut uns in erster Linie not, zu erkennen, was wir ohne Gott sind. Denn niemand vertraut sich ganz dem Herrn an, als wer seinen Mangel erkennt und deshalb an seinen Fähigkeiten verzweifelt. Wir pflegen nichts von Gott zu erbitten, als was uns selbst innerlich abgeht. Soviel bekennen nun zwar alle, und die meisten halten es für genügend, dass Gott sie in der Schwachheit unterstütze oder ihrem Mangel abhelfe. Davids Bekenntnis aber hat einen viel volleren Sinn, indem er vor Gott sein Nichtssein, dass ich so sage, dargelegt und dementsprechend beifügt: So bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil. Mit dem letzteren Ausdruck bezeichnet die Schrift das Los, mit dem ein jeder sich zufrieden gibt. Wenn das also auf Gott angewendet wird, so will damit gesagt sein, dass er selbst allein uns überschwänglich genügt und die vollkommene Glückseligkeit in ihm beruht. Daraus folgt, dass wir undankbar sind, wenn wir unser Herz anderswohin wenden (vgl. auch Ps. 16, 5). Von der Seele will übrigens David an unserer Stelle nicht aussagen, dass sie in ihrem Wesen nach verschmachte, d. h. hinfällig sei, sondern nur dass ihre Kräfte zerfallen, und dass dieselben allein durch Gottes Freigebigkeit auf unser Bitten hin erhalten bleiben.

V. 27. Denn siehe, die von dir weichen, werden umkommen. An den Widerspenstigen weist David nach, dass es nichts Besseres gibt, als einfältig in Gott zu ruhen; denn sobald einer sich von ihm trennt, wartet seiner ein schrecklicher Untergang. Abtrünnige aber – bedenken wir es! – sind Menschen, die ihre Hoffnungen an allerlei Dinge hängen. Dasselbe bedeutet der Ausdruck: „die wider dich huren“. Denn das ist die schlimmste Art von Ehebruch, wenn wir unser Herz teilen, dass es nicht fest an Gott bleibt. Das wird noch verständlicher, wenn wir die geistliche Keuschheit der Seele kennzeichnen. Diese besteht im Glauben, in der Anbetung Gottes, in der Rechtschaffenheit des Gemüts und im Gehorsam gegen das Wort. Wer also irgend sich dem Worte Gottes nicht unterwirft, dass er ihn als den einigen Ursprung alles Guten erkennt und ihm anhängt, sich seiner Leitung übergibt, zu ihm immer seine Zuflucht nimmt und seine ganze Liebe ihm widmet, der ist einem ehebrecherischen Weibe zu vergleichen, das seinen Gatten verlässt und anderen nachläuft. Wir können also sagen: David erklärt alle Abtrünnigen für Ehebrecher.

V. 28. Aber das ist meine Freude usw. David kommt wieder auf sich zu sprechen und bezeugt, er werde immer unter Gottes Führung bleiben, ob er auch sehen müsse, wie alle Welt sich in planlosen Irrwegen von Gott entfernt. Mögen, sagt er, andere umkommen, wenn ihre Lüste nach dem Trug der Welt nicht zu bezähmen sind; ich werde doch fest bei diesem Vorsatz bleiben, dass ich die heilige Verbindung mit Gott pflege. In den folgenden Worten fügt er bei, auf welche Weise man sich „zu Gott halte“, nämlich indem unser Vertrauen auf ihm steht. Denn Gott wird uns nicht bewahren, es sei denn, dass wir überzeugt sind, nur in seiner Gnade wohl erhalten zu bleiben. Wir wollen uns das wohl merken, damit, wenn die ganze Welt zum Unglauben sich verführen lässt, ihr böses Beispiel uns nicht zu der Willkür, wie sie von andern geübt wird, fortreiße, sondern dass wir lernen uns nur zu Gott zu halten. Die Schlussworte deuten es an, dass, wer sich Gott allein ergeben hat, immer Anlass haben wird, ihn zu preisen; denn der Herr täuscht die Hoffnung der Seinen nie. Folglich werden Gott nur solche schmähen, oder sich wider ihn erheben, die sich absichtlichem Irrtum hingeben, seine Vorsehung nicht erkennen und sich seiner Treue und seinem Schutze nicht überlassen wollen.

1)
Im 4. Jahrhundert vor Christi Geburt Tyrann von Syrakus.
2)
Ganz buchstäblich wäre nämlich zu übersetzen: „Wen habe ich im Himmel? Und neben dir begehre ich nichts auf Erden.“
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autoren/c/calvin/calvin-psalmen/psalm_73.txt · Zuletzt geändert: von aj
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