Calvin, Jean – Der Prophet Jesaja - Kapitel 40.

Calvin, Jean – Der Prophet Jesaja - Kapitel 40.

V. 1. Tröstet, tröstet mein Volk! Hier beginnt ein neuer Abschnitt. Von nun an wendet sich die Rede an die zukünftigen Geschlechter. Ist das Volk erst durch das Kreuz gedemütigt, dann soll es ihm auch an Trost nicht fehlen. Die babylonische Gefangenschaft kam in Sicht; und so will Jesaja bei seinem Scheiden aus dem Leben die Kirche Gottes nicht ohne die Hoffnung auf Wiederherstellung lassen, die sie über die schweren Leiden der kommenden Tage hinwegzuheben vermag. So hat denn das, was er nun folgen lässt, namentlich wo er von dem Anfang und Fortschritt des Reiches Christi redet, eine in die Ewigkeit hineinreichende Bedeutung; es ist nicht auf eine bestimmte Zeit, etwa die der bevorstehenden Gefangenschaft zu beschränken. Allen Frommen, so viel ihrer kommen werden bis zum Ende der Tage, soll durch dieses prophetische Wort dazu geholfen werden, die Herzen aufzurichten, sogar wenn das Letzte, ja der Untergang selbst ihnen bevorstünde! Und welch ein Gewicht muss diese Rede haben, wenn Gott der Herr gleichsam neue Propheten aufruft: „Tröstet, tröstet!“ – nachdem er eine Zeitlang der armen Gefangenen scheinbar vergessen. Aber wenn seine Stunde gekommen, dann soll umso heller aus dem Nebel das Zeugnis der Gnade hervorleuchten, dann wird der Herr die Propheten der Freude nicht einzeln, sondern in großen Scharen erwecken. Denn es heißt in der Mehrzahl: Tröstet, tröstet mein Volk.

Wird sprechen euer Gott. Dieser Hinweis auf die Zukunft deutet zugleich leise auf eine Zwischenzeit, in welcher das Volk sich bei dem Stillschweigen Gottes bedrückt fühlen musste. Obwohl nun der Herr niemals ganz aufgehört hat, durch einige Propheten die Hoffnung auf Heil zu erwecken, so war doch die Tröstung so lange ein wenig spärlicher, als die Freiheit zur Rückkehr aus der Gefangenschaft noch nicht vor der Tür stand. Tröstet, tröstet – diese Wiederholung soll nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Wirkung und Frucht der Weissagung bezeugen: ist sie doch Grund ewiger, überschwänglicher Freude! Und welcher Gegensatz: solche tröstliche Botschaft und das traurige Schweigen Gottes, das ihr vorausging! Wie lebhaft ruft uns das die Klage des Psalms vor die Seele (Ps. 74, 9): „Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet predigt mehr und kein Lehrer lehret uns mehr.“ Und nun dagegen das Wort unseres Textes: Er wird sprechen, euer Gott. Er wird nicht dulden, dass ihr auf immer der Propheten des Trostes in den Tagen der Not entratet; er wird Männer aufstehen lassen, welchen er die euch erwünschte Kunde in den Mund legt. Zu dem Wort: Er wird sprechen – ergänze: zu den Propheten, die er aufstehen lassen wird; vergeblich wäre ihr Wort, wenn Gott ihnen nicht eingäbe, was sie reden sollen. – Eine Hoffnung des Heils stellt der Herr in Aussicht, obschon der Undank der Menschen das ewige Schweigen seiner Stimme und den äußersten Untergang verdiente; darin ist nicht nur Trost für die Gefangenen Babylons enthalten, sondern die ganze Lehre und Kraft des Evangeliums, dessen Sache es vor allem ist, Niedergeschlagene aufzurichten, Traurige zu trösten, Tote zu erwecken; es Evangeliums, das nicht erst bei der Erscheinung Christi seinen Anfang nahm, sondern schon bei den Propheten, den Männern allen, die von Samuel bis auf Nehemia und Esra Panier aufwarfen im Namen Gottes und zu besserer Hoffnung mahnten, damit die Gläubigen in den Zeiten der Angst die Süßigkeit der Gnade Gottes schmeckten und unerschütterlich aushielten in der Anrufung Gottes. Und weil die hier gegebene Weissagung schwer zu glauben war, erneuert Jesaja das Gedächtnis des Bundes. Obwohl die Juden wegen ihrer Missetaten aus der Gnade gefallen waren, heißt Gott hier doch ihr Gott und das Volk sein Eigentum, beides um der Erwählung willen. Und das Wort des Propheten ergeht nicht an die Verworfenen im Volk, sondern an die Gläubigen: mögen sie auch eine Zeitlang traurig sein in mancherlei Anfechtungen, so sollen sie doch, so gewiss sie auf Gott, den Vater des Trostes, hoffen, es inne werden, dass ihnen die Verheißungen der Gnade wie ein verborgener Schatz aufgehoben sind. Im Übrigen enthält unsere Stelle eine besondere Empfehlung des prophetischen Amtes: kein schwereres Gottesgericht, als wenn treue Lehrer fehlen!

V. 2. Redet mit Jerusalem freundlich. Hier will Gott der Herr nicht nur die Propheten zu freudiger, eifriger Ausübung des Trostamtes anspornen, sondern auch die Gläubigen zu geduldigem Warten auf die kommenden Propheten mahnen. Buchstäblich wäre zu übersetzen: Redet Jerusalem „zu Herzen“, d. h. also, wie es ihr Herz begehrt, aus dem Wunsch und der Meinung der Gemüter heraus. So werden sie Angenehmes reden, dem das Herz des Hörers gleichsam entgegenkommt; und welche Botschaft konnte dem scheinbar verworfenen Volke willkommener sein, als die der Versöhnung? „Jerusalem“ aber ist hier ein zusammenfassender Ausdruck für die Kirche insgemein. Dass es aber heißt: predigt oder „ruft“, beschreibt die deutliche, offenkundige Art der Weissagung. Müsste die Zuverlässigkeit des Trostes nicht zweifelhaft werden, wenn die Propheten nur undeutlich murmelten?

Dass ihre Ritterschaft ein Ende hat. So lautet die erwünschte Botschaft, dass der Herr dem Kriegsdienst seines Volkes ein Ende machen will. Wie ausgediente Krieger sollen die Kinder Israel aus der Gefangenschaft – welch mühseliger Kriegsdienst! – nach Hause zurückkehren, um dort der Ruhe zu pflegen. Vergeben ist die Missetat: wie ein Arzt sein Augenmerk auf die Krankheitsgründe richtet, so Gott. Die Geißeln, mit denen er uns züchtigt, sind durch unsere Sünden verursacht; will er aufhören, uns zu schlagen, muss er zuvor verzeihen. So wird auch hier das Ende der Strafe in Aussicht gestellt, wenn die Sünde vergeben ist. Dass Jerusalem Zwiefältiges empfangen hat, soll nach manchen Auslegern besagen: das Volk, das doppelte Strafe verdient hat, wird mit doppelter Gnade geschmückt. Der Sinn ist aber einfach der: Es hat genug gelitten, so sieht Gott von weiterer Strafe ab. Dies Verständnis ist dem Wortlaut des Textes angemessener: Gottes väterliche Nachsicht hat gleichsam Missfallen an seiner im Übrigen doch wohl berechtigten Strenge. Denn davon kann ja im eigentlichen Sinn keine Rede sein, als ob auch die härtesten Strafen unseren Sünden genau entsprächen. Wer wollte Gott grausam nennen, als schlage er uns Menschen über Gebühr? Vielmehr als Vater entbietet er sich, der in seiner Barmherzigkeit es so ansehen will, als hätten wir doppelt, d. h. reichlich alles abgebüßt, als Vater, der nur ungern zur Strenge greift, umso lieber aber zu verzeihender Milde.

V. 3. Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste. Jesaja begegnet hier einem Einwurf, den man ihm machen könnte: Woher sollen uns in der Wüste die Propheten des Trostes kommen? Unter Wüste wäre dann die bevorstehende Verödung des Volkes zu verstehen. Oder meint der Prophet die eigentliche Wüste, um auf den durch sie hindurch führenden Weg anzuspielen, den der Herr sich und den Seinigen bahnen werde? In diesem Sinne verbinden manche die Worte mit dem folgenden Satz: „In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg.“ Aber es scheint hier doch wesentlich auf die Stimme der Nachdruck zu fallen, welche die in der Zerstreuung Befindlichen sammelt: Gleichviel, ob ihr nur schreckliche Öde, die harte Knechtschaft des babylonischen Joches erblickt, das Trostwort aus Prophetenmund soll euch dennoch hörbar werden!

Bereitet dem Herrn den Weg. Dieser Befehl gilt dem Cyrus, den Persern und Medern, die das Volk Israel gefangen hielten. Siehe hier die Kraft und die Wirkung jenes prophetischen Wortes, das den wilden, räuberischen Menschen gebietet, dem Volk Gottes den Weg zu bahnen und die Rückkehr zu bereiten. So darf der Erfüllung der Verheißung nichts im Wege stehen; und welch ein Trost auch für uns, zu sehen, dass Gott selbst das Tun gottfremder Menschen und das Wirken aller Kreatur unserem Heil dienstbar sein lässt. Dass aber der Weg nicht als für die Juden, sondern als für ihn, Gott den Herrn selbst, zubereitet bezeichnet wird, ist ein besonderes Zeugnis seiner Liebe. Also ist er verbunden mit seinen Auserwählten, dass er, was für unser Heil geschehen muss, gleichsam für sich selbst beansprucht. Diese Redeweise ist auch sonst in der heiligen Schrift nicht selten (vgl. z. B. Habak. 3, 13). – Unser Wort wird von den Evangelisten auf Johannes den Täufer gedeutet, als handle es direkt von ihm. Und jener war ja in der Tat der vornehmste unter den Zeugen und Herolden unserer Erlösung, welche durch jene Befreiung aus Babylon vorgebildet ist. War doch auch die Wüste, in der er auftrat, gleichsam eine figürliche Darstellung der jämmerlichen Zerstreuung, in der damals die Herrlichkeit des ganzen Gottesvolkes fast zu Schanden geworden war. Zwar hatten ja schon vor Johannes mancherlei Propheten die Stimme der Freude und des Trostes hören lassen, aber jener bleibt doch der unmittelbare Vorläufer, der wie mit dem Finger auf Christum zeigte und dem kommenden Lehrer und Herrn Gehör verschaffte. So ist das prophetische Wort in ihm erst recht erfüllt. Und mit vollem Recht darf er (Mt. 3, 3 ff.) die Hindernisse, von denen unser Text redet, auf die Verderbtheit unserer Natur deuten, die Krümmungen und Winkelzüge unseres wandlungsreichen Gemütes: dies alles versperrt Gott dem Herrn den Weg, indem es die wahre Selbstverleugnung und die Übung des Gehorsams hindert.

V. 4. Alle Tale sollen erhöht werden usw. Keine Schwierigkeit wird Gott den Herrn hindern, sein Volk zu befreien; seine Hand ist erhöht und behält den Sieg. Es müssen ja freilich, wo Gott auf unsere Seligkeit bedacht ist, sich viele und steile Hindernisse ihm entgegenstellen, aber nur zu größerer Verherrlichung seines Namens, der, wo alle Menschenkraft vergeblich ist, alles zu seinem Ziele führt, der durch Berge und abschüssiges Land die Seinigen wie über ebene Wege leitet. Durch Berg und Tal sollen ohne Zweifel Hindernisse jeder Art figürlich bezeichnet werden, äußere nicht nur, sondern auch innere, als da sind: Begierde, schändliche Neigungen, Ehrgeiz, törichtes Vertrauen, Ungeduld – alles Dinge, die uns zurückbringen können. Aber wenn Gott uns die Hand reicht, wer will uns ablenken?

V. 5. Denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden usw. Wie herrlich das Wort der Erlösung, als dessen Urheber der Herr sich öffentlich bezeichnet! Erweist er auch sonst wohl allenthalben und aller Wege seine Kraft und Majestät, vornehmlich doch in der Befreiung und Rettung seiner Gemeinde. Und bedeutet dies sein Werk von Anfang an bis zur Ankunft Christi nicht eine außerordentliche Erneuerung der Welt? Und wie fruchtbar musste in Zeiten, wo die Gotteskraft bis auf wenige halb erloschene Funken zu leuchten aufgehört, die Erinnerung daran sein, dass Gott der Herr, auch wo er sich eine Zeitlang verbirgt, mancherlei Mittel und Wege zur Hilfe in Bereitschaft hat! Und das Wort: Alles Fleisch wird es sehen – drückt aus, dass alle Nationen auf Erden in der Rückkehr des jüdischen Volkes ein himmlisches Werk, eine Bestätigung der prophetischen Botschaft erkennen werden. Darin steckt ein verborgener Tadel des menschlichen Unglaubens, der die Verheißungen Gottes und der Propheten so lange für Fabeln hält, bis er durch den Anblick der Erfüllung sich überführt sieht. Und so ziemt es auch uns, gegen die Regungen solcher zweifelnden Gesinnung zur Stärkung des Glaubens zu den Beweisen der Verheißungen Zuflucht zu nehmen: so eint sich die Lehre mit der Erfahrung; so ist es Gottes Ordnung. Entzieht sich uns der Anblick seiner Taten, dann leuchtet er uns vor mit der Fackel seines Wortes; endlich aber versiegelt er die Wahrheit wiederum durch die Tat.

V. 6. Es spricht eine Stimme: Predige! Hier ist nicht wiederum, wie vorher, die Stimme des Propheten, sondern Gottes Stimme gemeint, der dem Propheten den Auftrag zur Verkündigung gibt. Dieser Unterschied ist wichtig; wir müssen auseinander halten, wann Gott befiehlt und wann seine Diener und Propheten den Befehl ausführen. Hieraus ist zunächst zu lernen, dass wir das prophetische Wort nicht weniger ehrfürchtig aufnehmen sollen, als wenn Gott selbst vom Himmel herab sich hören ließe. Weiterhin aber will der Prophet durch den feierlichen Eingang seiner Rede den großen Ernst der Sache hervorheben, von der er handelt; um die Aufmerksamkeit zu spornen, erwähnt er noch ausdrücklich den göttlichen Auftrag zu seiner Rede.

Auch die Frage: Was soll ich predigen? ist nicht ohne Bedeutung: Der Prophet will nicht übereilter Weise prahlend ausrufen, was er in Aufregung gehört zu haben glaubt, sondern nur verkündigen, was er gesammelten Geistes klar und deutlich als göttliche Lehre in sich aufgenommen hat. Handelt es sich doch um zwei vorzügliche Hauptstücke göttlicher Lehre: Ist auch der Mensch Rauch und Nichtigkeit und alle seine Herrlichkeit trügerisch und welkend, so haben doch die Gläubigen einen guten Grund des Rühmens: sie suchen ihr Heil außer sich – in Gott; sind wir auch Pilgrime auf Erden, so ist uns dennoch eine vom Himmel stammende Freudigkeit eigen, denn Gott verbindet sich mit uns durch sein Wort. Der Prophet war sicherlich nicht in Zweifel, welche Lehre lehrenswert sei; er will durch seine Frage nur kundtun, dass er wie alle Knechte Gottes zur Verkündigung dieser Lehre genötigt sei; und zwar zu lauter, deutlicher Verkündigung. Ja, alle Diener des Wortes sollen dieselbe sieghafte Unverzagtheit und Freimütigkeit üben, die von den Aposteln und Propheten beständig geübt ist. Weh mir, sagt Paulus (1. Kor. 9, 16), wenn ich das Evangelium nicht predigen wollte!

Alles Fleisch ist Gras usw. Nicht nur die Hinfälligkeit des menschlichen Lebens fasst Jesaja hier ins Auge, er will darüber hinaus alle vermeintliche Auszeichnung der Menschen zunichtemachen. So versteht er unter „Güte“ nicht nur die Vorzüge des äußeren Menschen, sondern auch die geistigen Kräfte und Gaben, auf die man so stolz ist, Klugheit, Mut, Geschicklichkeit, Urteilskraft, Anstelligkeit im Handeln – alles, was uns nach unserer Meinung einen Vorzug vor den übrigen Kreaturen sichert: es wird der Eitelkeit bezichtigt vom Propheten; zwischen der allem Volk gemeinsamen Natur und der Wiedergeburtsgnade ist eine Kluft befestigt! Insbesondere ist zu beachten, dass der Mensch mit den Fähigkeiten, in denen er sich so gefällt, mit der Blume auf dem Felde verglichen wird: ein feiner Hinweis darauf, wie man im Allgemeinen wohl von der Hinfälligkeit des menschlichen Lebens hinreichend überzeugt ist – man sehe nur die weltlichen Schriftsteller an! – aber um das Austilgen dünkelhafter, eingebildeter Zuversicht ist es weniger gut bestellt. Das fällt uns viel schwerer. Was man an Wissenschaft und Betriebsamkeit vor anderen vorauszuhaben meint, dessen glaubt man auch mit vollem Recht sich rühmen zu dürfen. Übrigens scheint der Prophet in ironischer Rede seine erste Behauptung einzuschränken, indem er von der „Blume“ auf dem Felde spricht: immerhin ist eine Blume mehr, als bloßes Gras! Hat also jenes menschliche Rühmen einen gewissen Schein, wie plötzlich muss dennoch alle Zier verbleichen und verschwinden, und wie jämmerlich wird das Vergebliche und Trügerische der Selbstgefälligkeit offenbar!

V. 7. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Geist bläst drein. Man könnte auch übersetzen: des Herrn „Hauch“ bläst drein. Dann würde noch die Schönheit der Felder vorschweben, welche der Anhauch eines einzigen Windes zunichtemachen kann (vgl. Ps. 103, 15 f.). Wird doch der Wind öfter Gottes Hauch genannt. Indessen scheint mir der Prophet mit unserem Satz bereits die Auslegung seines Bildes zu beginnen und den Grund anzugeben, weshalb die Menschen mit aller ihrer Herrlichkeit nichts anderes sind als Gras: der Geist Gottes verzehrt sie alle plötzlich mit einem einzigen Hauch. Der Gedanke ist etwa der: Mögen auch die Menschen mit herrlichen Gaben geschmückt blühen, - sobald des Herrn Geist bläst, werden sie merken, dass sie nichts sind. Denn der Rausch trügerischer Zuversicht kommt nur daher, dass man nicht vor Gottes Angesicht tritt; fern von ihm in der Finsternis mag man sich ungestörter schmeicheln! Um den faden Liebreiz dieses Wahns zu zerstören, ruft uns der Prophet vor das Angesicht Gottes und deckt auf, dass alle Blüte nur scheinbar ist, wenn man anfängt, sich dem Herrn zu entziehen, und dass sie hinfällig werden muss, sobald Gott seinen Hauch aussendet. Damit scheint der Prophet dem Geist Gottes freilich eine Tätigkeit zuzuschreiben, die ihm sonst fremd ist: ist es doch sonst seine Aufgabe und Kraft, die Gestalt der Erde zu erneuern (vgl. Ps. 104, 30). Aber es stimmt recht wohl zusammen, dass durch das Wirken des Geistes alles zu neuem Leben erweckt wird, - und wiederum, dass sein Wirken zunichtemacht, was zuvor etwas zu sein schien. Denn wir können nur in Gott etwas sein. Damit wir aber anfangen, in ihm etwas zu sein, müssen wir zuvor von unserer Nichtigkeit überführt werden und einen tiefen Eindruck davon gewinnen. Darum haucht Gott uns an, damit wir erfahren, dass wir in uns selbst nichts sind. Damit nun jedermann wisse, dass der Prophet nicht von fremden Leuten redet, sondern von eben dem Volk, welches sich des Namens Gottes rühmte, fügt er hinzu: das Volk ist das Gras. Die Juden, die sich nur zu leicht über gemeines Menschenlos erhaben dünkten, werden ausdrücklich genannt, damit sie sich nicht überheben. Der Prophet gibt ihnen zu verstehen, dass sie klüglich handeln werden, wenn sie im Gedenken an ihre Armut alles Selbstvertrauen fahren lassen. Alles in allem: nachdem der Prophet den Trost verkündet, zeigt er, wie die Menschen sich zu seinem Empfang bereiten können, nämlich indem sie in sich selbst nichts werden. Wollen wir den Trost ergreifen, welchen die Propheten uns auf Gottes Geheiß spenden, so muss unsere Hartnäckigkeit erweicht, unsere Hoheit zu Boden geworfen, unser falsches Rühmen zu Schanden gemacht und unser Sinn gezähmt und gebeugt werden.

V. 8. Das Gras verdorrt usw. Wiederum eine nachdrückliche Demütigung alles fleischlichen Ruhmes, die zugleich aber einen hohen Trost in sich birgt. Mag das Gras verwelken und die Blumen vertrocknen: das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. Das ist der Trost, der uns übrig ist, wenn wir unsere Nichtigkeit und Armut, die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit aller Fleischesherrlichkeit erkannt haben: ewig das Wort des Herrn, ewig das Leben, das es in uns stiftet. Ist hier nicht mit wenig Worten Kern und Stern des Evangeliums ausgesprochen, dass wir in der Erkenntnis unseres Elends, unsere Hinfälligkeit wahrhaft gedemütigt unsere Zuflucht nehmen zu dem Gott, der allein uns wiederherstellen kann? Nicht entmutigt und zerbrochen sollen wir werden im Gefühl unserer Blöße und unseres Mangels; bietet doch Gottes Wort uns das, was uns wiederum stützen und aufrechterhalten kann. Und nicht anderswoher, nur aus der Ewigkeit, die in Gott zu suchen ist, stammt unser Trost: Nichts Festes und Dauerndes auf Erden, nichts törichter, als in der Gegenwart, die uns unter den Händen entschwindet, die Ruhe finden zu wollen! Bleibende Freudigkeit nur in dem Gott, den die Schrift den Ewigen nennt, von dem auch uns das Leben zuströmt. Und auch den Weg, auf dem wir ihn finden, zeigt er uns: sein Wort bietet er dar, von dem wir auch nicht um eines Fingers Breite abweichen dürfen. Sonst verlieren wir uns in dem wunderlichsten Labyrinth, aus dem wir auf keine Weise einen Ausweg finden. Ewig aber heißt dies Wort nicht nur für sich betrachtet, sondern sofern es in uns lebendig wird. Und so eignet Petrus, der beste Ausleger dieser Stelle, sie auch uns zu, indem er sagt, dass wir durch diesen unvergänglichen Samen wiedergeboren werden: das ist das Wort, welches euch verkündigt ist (1. Petr. 1, 25). So ist den Toten das Leben zubereitet, wenn sie sich durstig dem ihnen zubereiteten Kanal nahen, denn die verborgene Kraft Gottes wird durch das Wort uns offenbar.

V. 9. Zion, du Predigerin, steig auf einen hohen Berg usw. Gott der Herr, der vorher die Sendung von Freudenboten verheißen hat, befiehlt hier, den gleichen – zunächst für Jerusalem und Zion bestimmten – Trost durch ganz Judäa auszubreiten; und zwar soll dies mit lauter Stimme von einem erhabenen Ort aus geschehen. Zion und Jerusalem, die sonst ein und dasselbe besagen, werden hier mit Nachdruck zusammengestellt; zum Zeichen dafür, dass Jerusalem vornehmlich um seines Heiligtums willen ausgezeichnet ist. Predigerin oder Verkündigerin aber heißt Zion, weil an dieser Stätte Priester und Leviten nach gesetzlicher Vorschrift die Lehre des Heils zu verbreiten hatten. Verkündigerin – diese Inschrift gibt auch das der Kirche Gottes eigentümliche und unterschiedliche Merkmal an. Wie könnte sie „Kirche“ genannt werden, wenn nicht die Verkündigung der göttlichen Lehre sie durchtönte! In diesem Sinne nennt sie auch Paulus eine Säule und Grundfeste der Wahrheit (1. Tim. 3, 15). Gott könnte uns wohl auch ohne die Mitarbeit der Menschen regieren, aber er hat der Kirche dies Amt befohlen und ihr die unschätzbaren Reichtümer seines Wortes anvertraut. So heißt es mit Recht aller Frommen Mutter. Und nicht dazu empfängt sie die Lehre vom Himmel her, um im Verborgenen für sich Genuss davon zu haben, sondern um auszubreiten, was sie empfangen hat. Frei und furchtlos muss diese Verkündigung sein; Propheten und Lehrer müssen in vollster Gewissheit reden, des Gottes voll, der nicht trügen kann.

Die Worte: „Siehe da ist euer Gott!“ – sind A und O unserer Freudigkeit: sie besteht in der Gegenwart Gottes, die aller Freuden Fülle mit sich bringt. Fehlte sie, dann müssten wir elend und unglücklich sein, selbst wenn alle Güter der Welt uns zuströmten. Zu bemerken ist hier, dass es dem Glauben zuwider wäre, sofort auch mit Augen schauen zu wollen, was Gott durch seine Propheten ankündigt; denn diese hätten damals sicherlich schweigen müssen, wenn sie nicht, für ihre Person über die Welt hinausgehoben, mit sieghafter Größe und Beständigkeit begabt eine Vollmacht gehabt hätten, mitten in verzweifeltem Unglück auch andere zu guter Hoffnung emporzuheben und auf die Gnadengegenwart Gottes hinzuweisen.

V. 10. Denn siehe, der Herr, Herr kommt usw. „Siehe“ – wird wiederholt, um den Gläubigen noch bessere Zuversicht zu geben. Das Folgende zeigt, wie viel in der Gegenwart Gottes für uns beschlossen liegt: gewaltig wird er kommen und seine Stärke wird nicht müßig, sondern wirksam und von Erfolg begleitet sein. Sein Arm herrscht ihm – Gott ist sich selbst genug; er bedarf niemandes Hilfe. Lohn und Vergeltung – im Hebräischen wird ein und dasselbe oft zwiefach ausgedrückt. Unter Lohn ist hier nicht das, was man dem Verdienst schuldet, zu verstehen, sondern Gottes Gerechtigkeit, durch die er allen ein Vergelter ist, die in Wahrheit und von Herzen ihn anrufen: kommen will er, dass man seine Stärke erfahre, seiner Wirkung inne werde.

V. 11. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte usw. Hier wird das Werk Gottes näher bezeichnet. Und eine bestimmtere Angabe darüber war zur Aufrichtung der gesunkenen Hoffnung sehr vonnöten. Segnen und schützen will Gott der Herr seine Kirche. Und so vergleicht ihn der Prophet mit einem Hirten und drückt damit die Unendlichkeit der Liebe aus, die sich so niedrigen Dienstes zu unserem Heil nicht weigert. Anderswo, ja kurz vorher und nachher, in die Rede von der Schreckensmacht Gottes, der sich zur Verteidigung seines Volkes rüstet. Hier aber erscheint er in lieblichster Gestalt; sanft sollen die Gläubigen in seinem Schutze ruhen. Zu bedenken ist hierbei, dass Gott nur denen ein Hirt sein kann, die in Demut und Lindigkeit Lämmern gleichen. So lasst uns unsere trotzige Wildheit bekämpfen, es dulden, dass er uns zähme und in die Hürde sammele, deren Wächter er sein will! Dass er die Lämmer tragen will, ist eine Bezeichnung der sonderlichen Geduld Gottes. Liebt er auch die ganze Herde mit gleicher Neigung, so ist er doch, wo irgendein Schaf schwach wäre, vornehmlich sorgfältig im Pflegen, freundlich im Erquicken, geduldig im Tragen. So versäumt er nichts, was zum Amt des guten Hirten gehört: milde und barmherzig ist er in der Sorge um die Seinigen und drückt die Gebrechlichen nicht über das Maß ihrer Kräfte hinaus.

V. 12. Wer misst die Wasser mit der hohlen Hand usw. Auf die Rede von der freundlichen Fürsorge Gottes für den Schutz seines Volkes folgt der überschwängliche Lobpreis seiner Allmacht; und das wird uns erst recht verständlich, wenn wir die Absicht, das Ziel des Propheten im Auge behalten. Es ist ihm nicht um einige abgerissene Sprüche zu tun; er will den Glauben stützen, dass Gott auch tun wird, was er versprochen hat. So stellt uns auch Paulus Abraham als Vorbild des in sich gewissen Glaubens an Gottes Verheißung vor die Augen (Röm. 4, 20); wie er an einer anderen Stelle (2. Tim. 1, 12) spricht: „Ich weiß, an wen ich glaube: denn Gott kann mir bewahren, was mir beigelegt ist.“ Ebenso Christus (Joh. 10, 29): „Der Vater, der euch mir gegeben hat, ist größer, als alles.“ Und haben wir nicht oft mit Misstrauen zu ringen? Hindert nicht Satan unseren Glauben? So soll unser Gemüt über die Welt erhoben werden, damit wir Gottes Gnade nicht auf den Bereich menschlicher Mittel einschränken. Nicht nur, dass der Prophet Gott einfach als Schöpfer Himmels und der Erde bezeichnet; er wendet, was er von der unendlichen Macht Gottes zu preisen hat, auf die gegenwärtigen Verhältnisse an. Das sollen wir noch heute ihm nachtun zu unserem Nutz und Frommen. Trifft uns Unheil, dann verdunkelt sich uns wie hinter Wolken Gottes Allmacht; wir meinen, von ihm verlassen und versäumt zu sein. Wie viel weniger würde uns alle Widerwärtigkeit beunruhigen, wenn die feste Glaubensüberzeugung in uns wäre, die in der Weise eines Abraham und Paulus da noch hofft, wo nichts zu hoffen ist! Und wie tat jene Überzeugung auch den damaligen Juden not, die, von mächtigen Feinden bedrückt, ohne Hoffnung auf Befreiung nur die schrecklichste Vereinsamung vor Augen hatten! Wie hätten sie getröstet werden sollen, wenn sie nicht auf des Propheten Rat ihre aussichtslose Lage übersehen und die Herzen zum Himmel emporgerichtet hätten in der einfältigen Zuversicht auf die Allmacht ihres Gottes! – In der Aufzählung der Maße – Dreiling, Gewicht, Wage, - welche die Menschen in den kleinsten Verhältnissen anwenden, bequemt sich der Prophet unserer Ungeschicklichkeit an. In der Art pflegt Gott der Herr mit uns zu stammeln, Bilder und Gleichnisse von den uns gebräuchlichen Gegenständen zu leihen, wenn er von seiner Majestät redet: unsere beschränkten und engen Gemüter sollen ihn dadurch besser verstehen. Denn vor seiner Größe muss alle Kreatur verschwinden, Himmel, Erde, Meer und was darinnen enthalten ist – mag es auch noch so unermesslich sein!

V. 13. Wer unterrichtet den Geist des Herrn? usw. In diesem und dem nächsten Verse spricht sich der Prophet ähnlich über die Weisheit Gottes aus, wie vorher über seine Macht und Güte; dementsprechend, dass der fleischliche Sinn, der böswillig Gottes Kraft beschränkt, auch seinen unerforschlichen Rat der menschlichen Vernunft unterwirft. Bis zu dem Zeitpunkt, da Gott seine Herrschaft über alle Kreaturen unverkennbar wird hervorleuchten lassen, begegnet uns vieles, was den Lauf seines Werkes zu hemmen scheint. Und so sind wir, wenn wir nach unseren Vermutungen urteilen wollten, vielen Bedenklichkeiten ausgeliefert: wir zweifeln, ob und wie Gott dies und jenes durchsetzen werde, solange wir es nicht mit Augen sehen. Und wie vorhin Gottes Macht unserer Schwachheit, muss nunmehr hier seine Weisheit unserer Vermessenheit begegnen. Er braucht keinen Lehrer, der ihm über unbekannte Dinge Rat zu geben hätte. Unter dem „Geist“ des Herrn, der keines Unterweisers bedarf, ist hier nicht sein wesenhafter, heiliger Geist zu verstehen, sondern einfach sein Urteil und Verstand. Das ist dann freilich eine Redeweise, die sich nur durch einen Vergleich Gottes mit unserem menschlichen Wesen erklärt, der uns die Sache deutlich machen soll. Übrigens drückt der Prophet die gleiche Wahrheit in immer neuen Worten aus (V. 14). Es liegt ihm daran, die ganze Torheit der Menschen aufzudecken, die es wagen, sich in den Himmel zu versetzen und Gottes Werke zu meistern. Auch Paulus führt unseren Vers an (Röm. 11, 34), um uns vom Vorwitz dem unerforschlichen Rat des Herrn gegenüber abzuhalten; Gott will nicht, dass wir seine Weisheit anders als in besonnener Weise erforschen! Denn was etwa an Vernunft oder Licht in uns ist, erweist sich als eitel Finsternis, bis wir von Christo erleuchtet werden.

V. 15. Siehe, die Heiden sind geachtet wie ein Tropfen usw. Wiederum müssen wir, um dies mit rechter Frucht zu lesen, auf die Absicht des Propheten sehen. Nicht unvermittelt rühmt er die Größe Gottes, sondern den Umständen der Gegenwart entsprechend. Die Israeliten sollen an diesem einen Schild sich genügen lassen: haben sie einen gnädigen Gott, dann kann kein Ansturm und Wüten der Welt zu fürchten sein; sind doch alle Völker nichts gegen ihn, der mit einem Hauch sie alle zerstreut, wie in Stäubchen. So begegnet der Prophet den Einwänden des Misstrauens, so führt er uns zu Gemüt, dass nichts törichter ist, als die Kreatur zu erheben, um Gottes Trost zu mindern.

V. 16. Der Libanon wäre zu gering zum Feuer usw. Um dem Herrn würdiglich zu opfern, würde weder der Libanon, noch alles, was dort weidet, hinreichen; eine besondere Weise des Propheten, Gottes Allmacht einzuschärfen. Er scheint ja von der Verehrung Gottes zu handeln, und einige Ausleger meinen, hier sei die Unmöglichkeit, durch Opfer bei Gott ein Verdienst zu erwerben, ausgesprochen; aber, wie gesagt, die Absicht des Jesaja ist, das Vertrauen seines Volkes zu beleben.

V. 17. Alle Heiden sind vor ihm nichts. Scheint dies befremdlich? Sind nicht auch die Heiden geschaffen, um etwas zu sein? Der Prophet redet vergleichsweise. Entspricht es nicht der Verkehrtheit des menschlichen Geistes, Gottes Majestät zu verdunkeln? So mögen wir unbedenklich sagen, dass, mit Gott verglichen, nichts in der Welt irgendetwas gilt. Das soll keinen Makel auf die menschliche Natur werfen, wie sie aus der Hand des Schöpfers kommt, wohl aber dem Übermut steuern und wehren, der sich gegen Gott aufbäumt. Denn nicht anders als in ihm können wir Bestand haben, wie auch Paulus sagt (Apg. 17, 28): „In ihm leben, weben und sind wir“; und David (Ps. 62, 10): „Die Menschen wiegen weniger als nichts.“ So groß ist unsere Schwachheit und Eitelkeit.

V. 18. Wem wollt ihr denn Gott nachbilden? Dies schreibt der Prophet im Blick auf eine Anfechtung, die den Juden drohte: die Siege der Assyrer konnten sie stutzig machen; der Spott der Ungläubigen kam hinzu. So lag die Hinneigung zum Götzendienst nahe genug. Darum ermahnt der Prophet hier nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch die Nachkommen, die in der Gefangenschaft viel härter von der Versuchung angefochten werden mussten. Den Gott ihrer Väter stellt er ihnen vor die Augen, den Schöpfer aller Dinge, der mit den aus Gold und Silber, Holz und Stein verfertigten Heidengötzen nicht zu vergleichen sei. Auch diese Stelle hat Paulus als ein Zeugnis wider den Götzendienst verwertet (Apg. 17, 29).

Wem wollt ihr mich nachbilden? Wenn wir nur dieses eine Wort hätten, so würde es schon alle Abbildungen der Gottheit, mit denen die Päpstlichen sich betrügen, streng und bestimmt ausschließen. Und zwar redet der Prophet hier noch nicht einmal von der Anbetung, sondern von der Herstellung und Aufrichtung der Bilder: schon sie ist abscheulich und verwerflich! Nun aber ist die heilige Schrift voll des Bilderverbotes (z. B. 5. Mose 4, 15 ff.). So brauchen auch wir Gott nicht abzubilden, um ihn zu erkennen; an sein Wort sind wir gewiesen, in dem sein lebendiges Bild uns vor die Augen gemalt wird. An dieser Mitteilung wollen wir uns genügen lassen; andere Wege führen zur Eitelkeit und zur Lüge. Ein Holz muss ja ein nichtiger Gottesdienst sein, ruft Jeremia (10, 8); und Habakuk (2, 18) spricht von einem falschen, gegossenen Bild. Wenn aber Gott der Herr sich selbst bisweilen mit einem Löwen oder Bären oder mit Ähnlichem vergleicht, so hat das mit der Abbildung im eigentlichen Sinne nichts zu tun. Er muss doch, damit wir ihn kennenlernen, sich offenbaren und zwar derart, dass er an Ähnlichkeiten anknüpft, die uns bekannt sind.

V. 19. Der Meister gießt wohl ein Bild usw. Der Prophet will die Juden gegen die Macht der öffentlichen Meinung schützen, dass ihnen der Eifer der Heiden bei der Herstellung der Götzenbilder und die allgemeine Neigung der Menschheit zum Aberglauben nicht zum Fallstrick werden. Waren hier doch alle ohne Unterschied, Reiche und Arme, in gleicher Schuld; jene machten sich Götter aus Gold und Silber, diese aus köstlichem Holz. Den gegenwärtigen Gott will der Mensch haben: dies Streben wird Anfang und Quell alles Götzendienstes, der es übersieht, dass Gott nur im Wort und in der Kraft seines Geistes uns entgegentritt. Und indem er ein Bild seiner Gnade und aller geistlichen Güter uns entgegenhält im Sakrament, ladet er uns aufwärts zu sich selbst.

V. 21. Wisset ihr nicht? Höret ihr nicht? Nach der Verspottung des heidnischen Irrwahns wendet sich der Prophet wiederum an die Juden mit der Frage, ob sie nicht richtig empfangen und gelernt hätten, wer Gott sei? Und ein zwiefaches Zeugnis führt er vor: aus der Ordnung der Natur und aus dem Worte Gottes: auf beiderlei Weisen soll der wahre Gott von den falschen unterschieden werden. Der Blick auf das köstliche Schauspiel der Schöpfung, in dem aufwärts und niederwärts Gottes Herrlichkeit einen Widerschein gibt, hätte ja vor außenstehenden Weltkindern genügt, wie ja auch Paulus in Lystra sich darauf beschränkt (Apg. 14, 17). Aber vor den Juden durfte das Gesetz nicht unerwähnt bleiben; nicht durch den Anblick der Augen allein hatte Gott sich überführt, sondern auch durch eindringliche Predigt: Ist es euch nicht vorher verkündigt? Und weil sie gleichsam mit der Muttermilch die wahre Gotteserkenntnis in sich aufgenommen hatten und durch eine lange Zeitfolge hindurch von den Vätern unterrichtet waren, so konnte ihnen Jesaja mit Recht Undank und Verkehrtheit vorwerfen, wenn solcher Beistand vergeblich bei ihnen gewesen wäre.

Ihr habt keinen neuen Gott, ruft er ihnen zu, sondern den alten, der sich dem Abraham, dem Mose und anderen Vätern offenbart hat. Soll das hohe Alter der Lehre, die Jahrhunderte lang bei allen Gläubigen gegolten hat, uns nicht stärken? Und nicht das Alter für sich allein – das könnte ja schließlich auch der Götzendienst mit seinem Aberglauben für sich in Anspruch nehmen! – aber das von Anfang an geheiligte Ansehen des Gesetzes und das Zeugnis der Urheberschaft Gottes wird dadurch gestützt, dass wir uns in dem Besitz einer von den Vorfahren überlieferten Weise der Gottesverehrung wissen, die ohne schmähliche Befleckung niemals hat außeracht gesetzt werden dürfen. Das macht allem Zweifel ein Ende. Und auch wir haben noch heute denselben Glauben, wie jene Väter, da sie mit uns Gott, den Vater unseres Herrn Jesu Christi, erkannt haben. Ein Wort, eine Verheißung, ein Ziel aller Gläubigen!

Von Anbeginn der Erde. Hier setzt der Prophet die Erde, einen Teil der Welt, für das Ganze. Hat Gott nicht die ganze Welt als einen Spiegel der Menschheit vorgehalten, dass sie seine Majestät erkenne, als ein lebendiges Bild des Unsichtbaren, wie Paulus Röm. 1 ausführlich darlegt? So hat die Unwissenheit keine Entschuldigung; wie sollte der unbekannt sein, der sich auf so viele Arten offenbart hat? Und sicherlich sündigen die Menschen mehr aus Übermut und Stolz als aus Unwissenheit. Sie verachten den Gott, der sich handgreiflich offenbart, und verlieren sich in der Kreatur. So verdienen sie es, dass Gott sie verblendet und dazu verurteilt, die Geschöpfe anzubeten anstatt des Schöpfers. Wie viel weniger aber sind wir zu entschuldigen, wenn nun zu der Lehre, welche die Kreatur uns gibt, die des göttlichen Wortes hinzutritt? Und beides verbindet Jesaja an dieser Stelle miteinander.

V. 22. Er sitzt über dem Kreis der Erde usw. Der Prophet fährt fort, die Herrlichkeit und Macht Gottes zu erheben. Er weiß, wie sehr wir zum Misstrauen geneigt sind; so will er umso eifriger die wankenden Gemüter festigen im Vertrauen auf Gott. Und wenn er vorher von der Schöpfung der Welt geredet hat, so kommt er hier auf die beständige Weltregierung Gottes. Es wäre dürftig, Gott als Urheber der Welt zu denken, wofern seine Hand nicht fortgesetzt ausgestreckt bliebe, um das, was er geschaffen hat, auch zu erhalten. Er sitzt über dem Kreis der Erde; das ist ein uneigentlicher Ausdruck für: Er herrscht. Können doch Himmel und Erde nicht unerschüttert bleiben, wo Gottes Kraft sie nicht stützte! Und der Vergleich der Menschen mit Heuschrecken weist darauf hin, dass Gott in so engen Grenzen nicht beschlossen ist: aller Himmel Himmel begreifen ihn nicht! Und wie lächerlich ist alle menschliche Anmaßung! Stehen die Prahler nicht da wie Heuschrecken, die da meinen, ihr Tanzen sei etwas Sonderliches? Wie bald müssen sie zur Erde sinken!

Und breitet den Himmelaus wie eine Hütte usw. (vgl. Ps. 104, 2). Die Meinung ist nicht, als ob Gott den Himmel ausbreite, um selbst in ihm zu wohnen: uns will er den sicheren Wohnort geben; denn wir bedürfen, um auf Erden sicher zu sein, des gut bereiteten und gedeckten Himmelsdaches. Setzen diese vom Propheten gebrauchten Bilder die Würdigkeit der Sache, die uns beschäftigt, herab? Was ist denn ein Fell, ein Zelt? Jesaja will sagen: So leicht wird von Gott der Himmel ausgebreitet, wie von dem Menschen ein Fell. Und wenn der Mensch mit vieler Mühe und großem Aufwand an Zeit und Geld sich Zelte bereitet, wie groß und gewaltig ist Gottes Kunst, auf dessen einzigen Wink die unendliche Höhe der Himmel sich spannt!

V. 23. Der die Fürsten zunichtemacht usw. Gottes Vorsehung regiert nicht nur den Erdkreis, sondern insbesondere das Menschengeschlecht. Im Menschenleben zeigen sich uns die bedeutsamsten Zeichen seiner gegenwärtigen Kraft. Und was uns am wirksamsten aufzurütteln vermag, das sind nicht die einer besonderen Beachtung nicht weiter würdigen Schicksale des niederen Volkes, sondern Königreiche und Monarchien, der jähe Absturz hoch stehender Menschen, der die Erde erschüttert. Denn Fürsten und Obrigkeiten scheinen über dem Los der niederen Menschheit zu schweben und blenden mit ihrem Glanz Augen und Herzen: und siehe, wie völlig fällt ihre Kraft dahin! Vermag aber Gottes Hand so viel gegen Hohe und Gewaltige, was wird vom Volk zu halten sein? Wird er nicht erst recht mit ihm verfahren nach seinem Gutdünken, ihm Kraft geben und nehmen, ganz wie es ihm gefällt?

V. 24. Als wären sie nicht gepflanzt und gesät, und als hätte ihr Stamm keine Wurzel in der Erde. So gänzlich sollen die Fürsten ausgerottet werden, dass nicht die geringste Spur von ihnen übrig bleibt. Und wie fest und unbesieglich schienen sie! Und dergleichen wiederfährt nicht nur einzelnen Menschen, sondern auch den blühendsten Königreichen. Wie müssen solch Beweise göttlicher Macht uns erschrecken, wie müssen wir es verlernen, auf menschliche Stützen zu bauen! Von ihm bleiben wir abhängig, mögen auch Mittel und Wege in Fülle vorhanden sein! Er dreht und wendet die Welt nicht nur in regelmäßigen Bahnen, wie ein Spieler seinen Ball dreht; seine Gerichte kommen immer da zum Vorschein, wo der Mensch sich in Anmaßung rühmt und damit nicht aufhört, bis der jähe Absturz vorhanden ist. So ist es auch falsch, den Ausgang der Begebenheiten dem Zufall oder anderen Ursachen zuzuschreiben. Nicht ein Augenblicksschöpfer ist Gott, der fortan die Sorge um sein Werk dahinten ließe; seine Hand bleibt im Spiel: es darf nichts geschehen ohne sein Gutdünken und Wollen. Stürzt also vor unseren Augen das, was wie für die Ewigkeit gebaut schien, so lasst uns die Vorsehung Gottes zu Herzen nehmen.

Wo ein Wind unter sie weht, verdorren sie. Wie leicht und nichts bedeutend ist in Gottes Augen das, was uns in staunende Bestürzung versetzt! Vor ihm sind Könige und Fürsten wie die vom Wirbelwind gejagten Strohhalme. Ihm, nicht irgendwelcher Kreatur, gebührt Ehre und Ruhm. Welch ein Trost für die gefangenen Juden, die wohl auch das Reich der Chaldäer, ihrer Überwinder, für unbezwinglich halten mussten! Nicht verzweifeln sollen sie an ihrer Rettung, sondern auf den Blitz Gottes harren, der alle Kraft der Feinde zerschmettern musste.

V. 25. Wem wollt ihr mich denn nachbilden, dem ich gleich sei? Hier wiederholt Jesaja, was er oben gesagt (V. 18): Gott wird nicht dulden, dass man ihm die Götzen gleichsetzt und den Juden konnte das in ihrer Gefangenschaft nahe genug liegen. Wie in Entrüstung ruft der Herr abermals: Wem wollt ihr mich denn nachbilden, dem ich gleich sei? Wollt ihr mir meine Majestät rauben durch eure Bilder? Mögen die Menschen auch nach ihrer Begierde Gott den Herrn formen, er bleibt sich selbst gleich und ändert seine Natur nicht um menschlicher Machwerke willen. Darum heißt es auch: spricht der Heilige. Auf Gottes Heiligkeit weist der Prophet hin, um die Juden zu verpflichten, ihn, der sie abgesondert und geheiligt hat, auch ihrerseits heilig zu halten: schnöder Undank, wenn man die Götzen mit Gott wetteifern ließe, als vermöchten sie mehr, als er!

V. 26. Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat solche Dinge geschaffen? usw. Warum verweilt der Prophet so lange bei diesem Punkte, der doch klar und deutlich genug ist? Er weiß, dass wir Menschen zu böswillig und undankbar sind, um Gottes Macht recht zu schätzen. Fürchten wir uns doch vor der Larve eines Menschen mehr, als wir durch Gottes Verheißungen uns stärken lassen! Täglich hat der Mensch den Himmel und die Gestirne vor Augen, aber wer denkt des Schöpfers? Und der Mensch ist doch von Natur so gestaltet, dass er zur Betrachtung des Himmels wie geboren erscheint! Während Gott alle Tiere den Blick zur Erde nach Futter richten lässt, hat er den Menschen aufrecht geschaffen und ihn so zum Anblick der Wohnung des Höchsten bestimmt. So singt auch der Dichter1):

Vorwärts geneigt, zur Erde gebückt, so wandeln die Tiere.
Aufrecht schreitet der Mensch, denn so hat der Schöpfer geboten,
Dass er den Himmel erschaue, den Blick zu den Sternen erhebend!

Wird nun der Mensch nicht dem Tiere gleich, wenn er das Maul zur Erde hängen lässt, wo uns doch, so wir nur aufmerksam die Augen erhöben, Gottes Majestät überwältigen müsste? – Die Sterne erwähnt der Prophet, um uns auf ihre wunderbare Ordnung hinzuweisen: welche Predigt hält sie uns von Gott, dem Schöpfer der Welt! Bei solcher Zahl und Verschiedenheit der Weltkörper so bestimmte Grenzen und wohlgeordnete Bahnen, so dass keines auch nur um eines Haares Breite von dem vorgeschriebenen Wege abbiegen kann. Fürwahr, die Menschen können die Augen nicht auftun, ohne die Majestät Gottes in seinen Werken anzuschauen!

Er führt ihr Heer bei der Zahl heraus. Der Ausdruck „Heer“ erinnert an ein Doppeltes: an die schier unendliche Menge und die bewunderungswürdige Anordnung. Denn eine müßige Menschenzahl kann ebenso wenig Heer heißen, wie ein zufällig und ohne Wahl sich vermischender oder zerstreuender Haufe. Und wenn kein Feldherr umherschweifende Soldaten beim Klang der Trompete in einem Augenblick zu sammeln und aufzustellen vermag: Gott hat sein Sternenheer „bei der Zahl“ in Bereitschaft. Er ruft sie alle mit Namen, d. h. nicht nur, die unendliche, uns unbekannte Sternenzahl ist ihm bewusst, sondern er gebietet den Sternen ähnlich, wie ein Herr dem Diener, den er bei Namen zu sich ruft.

Sein Vermögen und starke Kraft ist so groß, dass es nicht an Einem fehlen kann. So mächtig ist Gott der Herr, dass alle Sternenheere ihm gehorsam sind, und die Vornehmsten unter seinen Schöpfungen unterwerfen sich ihm am willigsten und erkennen ihn damit als Schöpfer an. Gibt es nun nichts im Himmel und auf Erden, was von seinem Wink und Wollen nicht abhängt, wie töricht ist es dann, ihn mit nichtigen Götzen zu vergleichen!

V. 27. Warum wirst du denn, Jakob, und du, Israel, sagen: Mein Weg ist dem Herrn verborgen? Hier redet Jesaja von der Zukunft; er entnimmt dem Vorhergehenden die Mahnung für das Volk, geduldig auszuhalten, bis die Stunde der Hilfe Gottes gekommen ist. Hat der Herr alle einzelnen Teile der Welt in seiner Gewalt, wie sollte er seine Gemeinde im Stiche lassen! Und jedenfalls schweift der Blick des Propheten schon hinüber zu den Klagen, mit denen – wie er voraussah – später das Volk Gott übertäuben würde, als sei er zu langsam und gehe mit verschlossenen Augen an dem Unglück der Seinen vorüber. So pflegt es ja zu gehen: Wir fühlen uns von Gott verlassen und der Beraubung ausgesetzt und verzweifeln an seiner Vorsehung. Dass aber das Volk als „Jakob“ und „Israel“ bezeichnet wird, ist eine Erinnerung an den Bund, den Gott mit so vielen Verheißungen bekräftigt hatte: zu seinem Eigentum hat er euch erwählt; wie sollte er eure Umstände übersehen, der nicht trügen kann! Der „Weg“ ist von der Lage und den Verhältnissen des Volkes zu verstehen. Dass derselbe „verborgen“ ist, will besagen, dass er vom Herrn vernachlässigt oder ihm unbekannt ist. Verzieht Gott ein wenig mit seiner Hilfe, dann glauben wir es nicht, dass sich seine Sorge auf uns erstrecke. So soll auch hier das Misstrauen des Volkes gestraft werden.

Mein Recht geht vor meinem Gott vorüber. Ja, unser Recht ist der Gegenstand brünstiger Bitte in der Anfechtung, wenn wir unter dem Druck des Unrechts ohne Ursache zu leiden haben. Wir meinen, unser Recht gehe vor Gott vorüber, wenn er zulässt, dass unsere Feinde uns berauben. Vor dieser Verzweiflung will Jesaja sein Volk schützen, um dem rechten Trost die Bahn zu brechen.

V. 28. Weißt du nicht? usw. Wiederum kommt Jesaja darauf zurück, dass das so liebreich in der Schule Gottes erzogene Volk keine Entschuldigung für seine Gedankenlosigkeit hat: Weißt du nicht? Vom Wissen ist zuerst die Rede; hatte doch Gott seine Herrlichkeit durch viele Wunder und mancherlei Beweise bezeugt. An zweiter Stelle steht das Hören: Hast du nicht gehört? Wie ungelehrig müsst ihr sein, wenn alle in Wort und Tat enthaltene Predigt von der unablässigen Treue Gottes nichts bei euch gefruchtet hat!

Der Herr, der ewige Gott. Das unterscheidet ihn ja von dem vergänglichen Machwerk der Götzen; darin ist ja beschlossen, dass er sich nicht ändert, oder wankt; er bleibt sich selbst beständig gleich. Und das vergaßen die Juden immer wieder, obwohl sie es oft genug gehört. So rückt der Prophet es ihnen ins Gewissen: zwiefach schuldig seid ihr, wenn ihr dem Herrn nicht die gebührende Ehre gebt!

Denn: Er wird nicht müde noch matt. Unermüdlich im Wohltun ist Gott, nichts kann ihn hindern, seine Guttat zu erzeigen; denn er ist nicht wie der Mensch, dessen Vermögen sich erschöpft, wenn er oft schenkt, der in wiederholter Dienstleistung ermattet oder wohl gar seine Gefälligkeit bereut. Unerschöpflich seine Guttat: Er, der den Vätern freundlich gewesen, wird sich auch den Kindern nicht entziehen. Sein Verstand ist unausforschlich: Gott handelt oft anders, als wir in unserem Interesse für ersprießlich halten; darum sollen wir nicht murren. Nichts kann unsere Hoffnung stärker anfachen, als die Nüchternheit, dass wir bei der Betrachtung der Wunderwege, die Gott bei der Erhaltung der Seinigen einschlägt, sinnend verweilen und seinem Geheimnis uns unterwerfen.

V. 29. Er gibt dem Müden Kraft usw. Der Prophet geht zur Anwendung seiner allgemeinen Sätze über; er erinnert das gebrochene, von aller Kraft verlassene Volk an ihn, dessen Amt es ist, den Müden und Matten zu helfen. So lange er uns geneigt ist, dürfen wir an unserer Rettung nicht verzweifeln. Ist dies zunächst im Blick auf das Volk in der Gefangenschaft gesagt, so mag es auch uns zugutekommen, wenn wir kraftlos am Boden liegen. Nur muss man zuvor seiner Armut und Müdigkeit innewerden, ehe man Gottes Hilfe erfahren kann; damit sich das Wort erfülle (2. Kor. 12, 9): „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

V. 30. Die Knaben werden müde und matt usw. Das ist eine Weiterführung des vorher Gesagten: Menschenkraft mag bald zu Ende sein, Gottes Kraft niemals. Zwar geht auch das, was an natürlicher Lebensfrische in uns ist, von Gott aus; aber weil es die Menschen so leicht als ihr Eigenes in Anspruch nehmen, so unterscheidet der Prophet zwischen der Kraft, die den Menschen eingeboren ist, und der, mit welcher Gott seine Auserwählten insbesondere stützt. Das ist die Hilfe Gottes, die übernatürliche Gnade, welche da anfängt, wo unsere Kraft aufhört; sie heißt ewig, und um ihretwegen ist die Gemeinde Gottes von dieser Welt verschieden. Wie groß der Vorzug, dessen Gott seine Kinder vor anderen würdigt: sie können mit ihrem Lose zufrieden sein und brauchen die irdisch Gesinnten nicht zu beneiden! Und welch ein Selbstbetrug, wenn der Mensch im Vertrauen auf seine Stärke sich erhebt: wie bald lässt sie im Stich! Darauf scheint der Prophet auch anzuspielen in dem Ausdruck: „Knaben und Jünglinge“. Wer sich von seiner Stärke und seiner frischen, natürlichen Blüte dazu verführen lässt, immer die schwierigsten Wagnisse in Angriff zu nehmen, der pflegt kein hohes Alter zu erreichen: mitten im Lauf wird er müde und muss die Strafe seiner Vermessenheit büßen. Ebenso auch Leute, die, mit göttlichen Gaben geschmückt, in Übermut verfallen; das Geschenk, was sie empfangen, zergeht, ja es dienst zu ihrem Verderben.

V. 31. Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft. Dies bestätigt, was schon früher (Kap. 30, 15) geschrieben steht: Im Stillsein und Hoffen wird eure Stärke sein. Das „Harren“ besagt die leidenschaftslose, besonnen aushaltende Geduld. Ungestüme Menschen kommen in ihrem Anlauf zu Fall; die Kraft der Frommen macht weniger Aufsehen, ja sie scheint hier und da wie am Boden zu liegen, doch sie wird bei ruhigem Harren auf Gottes Hilfe erneuert. So müssen wir wohl darauf bedacht sein, der Kraft Gottes Raum zu geben. Das tat den gefangenen Juden nicht minder not, als heutzutage uns bei der beklagenswerten Verwirrung der Gottesgemeinde.

Dass sie auffahren mit Flügeln, wie Adler. So sagt auch der Psalm (103, 5): „Dass du wieder jung wirst, wie ein Adler.“ Nach dem Zeugnis der Alten erreicht der Adler ein sehr hohes Alter. So ist der Sinn unserer Stelle, dass die, welche Gott vertrauen, bis ins höchste Greisenalter hinein bleiben werden. Aber da der Adler auch höher fliegt als die anderen Vögel und darin seine besondere Lebendigkeit zeigt, so ist hier nicht nur von der Länge, sondern auch von der Frische des Lebens der Gläubigen zu reden. Nicht nur, dass ihre Kräfte erneuert, nein, sie selbst sollen erhöht und belebt werden. Dasselbe liegt auch in den Worten: dass sie laufen und nicht matt werden. Gott stärkt die Seinen, dass sie den Lauf ohne Schwierigkeit vollenden; eine figürliche Rede, die besagt, dass die Frommen, von Gott gestützt, immer tüchtig sein werden, ihr Amt zu verrichten. Aber können wir denn frei von Müdigkeit sein, da wir doch in diesem Leben solche Lasten zu tragen haben? Die Frommen gehen immer wieder neu gestärkt aus ihrer Ermattung hervor. An ihnen erfüllt sich, was Paulus sagt (2. Kor. 4, 8 f.): „Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“ Lasst es uns lernen, unsere Zuflucht zu Gott nehmen. Der uns den Weg bereitet und uns als Läufer in die Bahn gestellt hat, der wird uns nicht mitten im Laufe verlassen, sondern uns aushelfen bis zum Ziel.

1)
Der römische Dichter Ovid (gest. 17 n. Chr.) in seinen „Verwandlungen“ I. 84 ff.
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