Calvin, Jean - Hebräerbrief - Kapitel 4.

Calvin, Jean - Hebräerbrief - Kapitel 4.

V. 1. So lasset uns nun fürchten. Das Wörtlein „nun“ weist auf den Fehltritt jener zurück, der uns zur Demut und Wachsamkeit antreibt, wie auch Paulus (Röm. 11, 20) sagt: Jene sind gefallen um ihres Unglaubens willen; darum sei du nicht stolz, sondern fürchte dich! Die Furcht wird uns empfohlen, nicht dass sie die Gewissheit des Heils raube, sondern dass sie die Unruhe uns verleihe, die vor dem Schlaf der Sicherheit bewahrt. Gewiss, wir sollen nicht ängstlich tun oder am guten Ausgang verzweifeln; aber die Möglichkeit, selber zu versagen gegenüber der Gnade Gottes – das macht Furcht.

Nicht versäumen. Keinem wird die Verheißung wieder entzogen, der sie nicht selber durch Missachtung der Gnade von sich gewiesen hat. So wenig lässt sich Gott der Wohltat gereuen, dass er vielmehr in einem fort seine Gaben austeilt, es sei denn, dass wir unsrerseits die Berufung verschmähen.

Wieder (wie in 3, 12 f.) nimmt der Apostel Bezug auf den einzelnen: unser keiner. Es ist ihm ein Anliegen, alle ohne Ausnahme zu dem einen Gott zu führen. So ist es Pflicht des guten Gemeindehirten, neben der Sorge für die ganze Herde achtzuhaben auf die einzelnen Schafe, damit kein einziges verloren gehe; ja wir alle sollen uns gegenseitig so umeinander bekümmern, dass jeder für den Nächsten bangt wie für sich selbst.

V. 2. Denn es ist uns auch verkündigt usw. Das nämliche Wort, mit dem Gott uns heute zu sich einlädt, hat er einst an die Väter gerichtet. Wozu wird daran erinnert? Damit wir wissen, die göttliche Berufung werde uns ebenso wenig nützen, als sie jenen genützt hat, wenn sie nicht durch unseren Glauben rechtskräftig wird. Wohl ist es wahr, dass uns das Evangelium dargeboten ist; allein ohne hinzutretenden Glauben schafft das Hören keine Segensfrucht und gibt keinen Anteil am Heilsgut, mag auch das Wort direkt an uns gerichtet sein. Denn hier ist die zwischen Wort und Glauben bestehende Beziehung zu beachten: der Glaube kann überhaupt vom Wort nicht losgelöst werden; das Wort aber ohne Verbindung mit dem Glauben teilt uns nichts mit. Nicht als hinge die Wirksamkeit des Wortes von uns ab: sei auch alle Welt voller Lügen, so bleibt er doch wahrhaftig, der nicht lügen kann; aber das Wort bringt seine Kraft nicht anders an uns heran und in uns hinein, als wo ihm der Glaube Eingang verschafft. Es ist eine Kraft Gottes zur Seligkeit – denen, die glauben; in ihm wird geoffenbart die Gerechtigkeit Gottes – aus Glauben in Glauben (Röm. 1, 16 f.). Demnach ist Gottes immer wirksam und heilbringend an sich selbst und seiner Natur nach; doch die Frucht davon empfangen nur die Gläubigen. Die andere Seite des Verhältnisses ist nicht minder bemerkenswert: Glauben gibt es gar nicht, wo das Wort fehlt, und wer die Verbindung beider zu zerreißen sich erkühnt, bringt den Glauben zum gänzlichen Erlöschen und Absterben. Daraus erhellt, dass wirklicher Glaube nur bei den Kindern Gottes sich finden kann, an die allein die Verheißung der Kindschaft ergeht. Denn was für einen Glauben könnten die Teufel haben, denen kein Heil in Aussicht steht, oder die Gottlosen alle, denen das Wort eine unbekannte Sache ist? Dem Glauben muss also stets das Hören vorangehen, und zwar ein solches, worin wir Gott, nicht aber Menschen vernehmen.

V. 3 ff.

Der Apostel lässt sich in eine freiere Verwertung der Psalmstelle, die er oben angeführt hatte, ein, indem er auf die Worte Davids mehr anspielt, als dass er sie auslegte. In gleicher Weise verfährt Paulus Römer 10, 6 mit der mosaischen Stelle: „Sprich nicht in deinem Herzen: wer will hinauf gen Himmel fahren?“ Es liegt nichts Ungehöriges in einer derartigen, bildlichen Übertragung des einfachen Sinnes, die bezweckt, das Schriftwort einem vorliegenden Fall anzupassen. Hier zielt nun der Grundgedanke dahin, dass es auch uns angehe, wenn Gott im Psalm mit dem Verlust seiner Ruhe droht, da er uns heute wieder zu einer Ruhe einlädt. Die meiste Schwierigkeit dieser Stelle entsteht dadurch, dass man vielfach mit Gewalt alles Mögliche aus ihr herauspresst, während doch der Apostel nichts anderes will, als mit der Versicherung, es sei für uns noch eine Ruhe übrig, unsre Sehnsucht danach entfachen und zugleich die Besorgnis wecken, wir könnten durch Unglauben darum betrogen werden. Auch das will er immerhin zeigen, jene Ruhe, in welche wir nun eingehen können, sei etwas viel Herrlicheres, als es die des Landes Kanaan gewesen ist. Doch wollen wir nun auf das Einzelne eingehen.

V. 3. Wir, die wir glauben, gehen in die Ruhe. Der Unglaube allein hindert den Eingang: was ihn also ermöglicht, ist der Glaube. Wir haben uns nämlich dessen zu erinnern, was früher dargelegt wurde, dass Gott dem Ungläubigen im Zorne schwur, sie sollten jenes Gutes nicht teilhaftig werden. Der Eingang steht daher, die Einladung Gottes vorausgesetzt, denen offen, die kein Unglaube aufhält. Dadurch aber, dass der Apostel in der ersten Person spricht, lockt er die Leser umso herzlicher, indem er sich mit ihnen den Fremden gegenüberstellt.

V. 4. Gott ruhte am siebenten Tage. An das Ruhen erinnernd, das von Gott selber nach der Erschaffung der Welt ausgesagt wird, deutet der Brief an, die wahre, ewige Ruhe der Gläubigen bestehe in der Gemeinschaft mit Gott. Mit seinem Gott vereinigt zu werden, ist für den Menschen höchste Seligkeit und muss das letzte Ziel sein, worauf alles Denken und Streben sich richtet. Indem Gott den Ungläubigen seine Ruhe versagt, ist es dagegen sein ausdrücklicher Wille, dass die Gläubigen bei und mit ihm ruhen sollen. Darum wird (V. 6) gesagt, es sei noch vorhanden, dass etliche sollen dazu kommen.

Mehr Schwierigkeit macht indessen die nachfolgende Bemerkung (V. 7), im Psalm werde uns, weil die Früheren es versäumt hätten, ein neues „Heute“ bestimmt. Die Worte Davids scheinen nichts Derartiges auszudrücken, sondern sagen nur, Gott habe die Untreue des Volkes geahndet durch Verwehrung des Eintritts in das Land. Und doch ist der Schluss ganz folgerichtig: wenn der heilige Geist ermahnt, wir sollen uns nicht durch eigene Schuld die nämliche Strafe zuziehen, so wird uns offenbar dasselbe angeboten, was jenen entzogen wurde. Die Warnung: Seht zu, dass es euch nicht gehe wie den Vätern, setzt voraus, dass uns Gleiches verheißen ist. Mit gutem Grund sagt daher der Apostel, weil die Glaubenslosigkeit der Väter unerfüllte, unbenützte Verheißung übrig gelassen habe, ergehe diese aufs Neue an die Nachkommen, damit sie erlangen möchten, was jene missachteten.

V. 8. Denn so Josua usw. Er will nicht leugnen, dass David unter der „Ruhe“ das Land Kanaan versteht, wohin Josua das Volk gebracht hat; aber er bestreitet, dass das die endgültige Ruhe gewesen sei, nach der die Gläubigen sich sehnen und die den Frommen jener entfernten Zeit so gut wie uns zugehörte. Denn das Land Kanaan war Gleichnis und Pfand eines höheren, geistlichen Erbes. Einmal in seinen Besitz gekommen, durften sie nicht ausruhen, als wären sie nun am Ende aller Wünsche. Die, an welche David seinen Psalm richtete, besaßen das Land und wurden doch ermahnt, nach einer besseren Ruhe zu suchen. Wir sehen, Kanaan war eine Ruhe, aber bloß eine abbildliche, über welche die Gläubigen hinauskommen mussten. In diesem Sinne sagt der Apostel, Josua habe ihnen die Ruhe nicht verschafft: unter seiner Führung zog das Volk in das verheißene Land, um dann mit noch sehnlicherem Verlangen nach dem Himmel zu trachten. Hier zeigt sich auch der Unterschied zwischen ihnen und uns. Dort und hier das nämliche, vorgesteckte Ziel; aber so, dass jenen überdies äußerliche Vorbilder gegeben waren, nach denen sie sich richten konnten, während wir solche nicht haben und auch gar nicht brauchen, da uns die unverhüllte Wahrheit vor Augen gestellt ist. Wiewohl nämlich unsere Seligkeit zur Zeit noch auf Hoffnung beruht, haben wir doch im Wort eine gerade Straße zum Himmel, und Christus reicht uns die Hand, nicht um uns von einem Sinnbild zum andern zu führen, sondern um unsre Schritte von der Welt weg und nach dem Himmel hin zu lenken.

So ist denn also, schließt die Stelle, noch eine Sabbatruhe vorhanden dem Volke Gottes, eine Ruhe geistlicher Art, zu der Gott uns täglich einlädt.

V. 10. Denn wer zu seiner Ruhe kommen ist usw. Da haben wir die Beschreibung jenes ewigen Sabbats, der den Menschen in der Übereinstimmung mit Gott tiefste Befriedigung bringt. Alles, was die Philosophen je über das höchste Gut behauptet haben, ist kraft- und haltlos gewesen, weil sie den Menschen auf sich selbst stellten, während wir aus uns herausgehen müssen, um das Glück zu finden. Das höchste Gut des Menschen ist nichts anderes als die Verbindung mit Gott. Dahin gelangen wir, wenn wir nach seinem Bilde gestaltet sind. Der Apostel sieht nun diese Ebenbildlichkeit darin, dass wir ruhen von unsern Werken, woraus schließlich folgt, dass der Mensch auf dem Wege der Selbstverleugnung glückselig wird. Denn was ist das Ablassen von unsern Werken anders als Ertötung des Fleisches, indem man von sich selbst frei wird, um Gott zu leben? Wenn nach der Grundregel eines frommen und geheiligten Lebens gefragt wird, ist immer davon auszugehen, dass der Mensch, sich selber gleichsam abgestorben, das Leben Gottes in sich muss zur Herrschaft kommen lassen; dass er verzichtet auf eigenes Tun, um dem Wirken Gottes Platz zu machen. Unstreitig hat ja das Leben erst dann die rechte Verfassung, wenn es Gott untertan ist; bei der angeborenen Verderbtheit und dem Widerstreit zwischen Gottes Herrschaft und unsern Neigungen ist das aber nicht der Fall, bis wir uns alles Eigenen begeben. Weil es aber in diesem Leben niemals zu einem so völligen Ruhen in Gott kommt, muss stets danach getrachtet werden, und den Gläubigen ist der Eingang in die Ruhe nur beschieden, wenn sie in ihrem Lauf unablässig vorwärts schreiten.

Im Übrigen zweifle ich nicht, dass der Apostel mit bestimmter Absicht auf den Sabbat anspielt, indem er die Ruhe eine Sabbatruhe nennt: er will die Hebräer nebenbei von der äußeren Beobachtung des Sabbats lösen und zu seinem wahren Sinn und geistlichen Verstand hinleiten. Davon ist freilich hier nicht ausdrücklich die Rede; aber indem der Brief jenem Bestandteil des Gesetzes eine höhere Deutung gibt, zieht er dadurch die Leser sachte vom Vergänglichen ab. Vergegenwärtigt man sich nämlich, dass das Sabbatgebot im letzten Grund auf etwas anderes abzielte als auf äußerliche Enthaltung von der Arbeit und irdische Religionsübung, so wird einem gar bald klar, dass mit Christi Ankunft der äußere Brauch dahingefallen ist. Kommt die Wahrheit, so schwinden die Schatten. Das bleibt immer die grundlegende Lehre: Christus ist des Gesetzes Ende.

V. 11. Nachdem das Ziel aufgezeigt ist, wonach wir trachten sollen, werden wir ermahnt, den Weg dorthin unter die Füße zu nehmen, was durch Gewöhnung zur Selbstverleugnung geschieht. Dem richtigen Gange, der zum Eingang in die Ruhe führt, entspricht aber der entgegengesetzte, bildliche Ausdruck: dass nicht jemand falle. Zugleich liegt in diesem letzteren auch eine Anspielung auf jene Widerspenstigen, die nach dem angeführten mosaischen Bericht (4. Mose 26, 65) in der Wüste gefallen sind. Deshalb heißt es: nach demselbigen Beispiel, womit gesagt ist, dass uns dort wie in einem Gemälde die Strafe des Unglaubens und Trotzes vor Augen gestellt werde und dass unzweifelhaft der nämliche Ausgang unser warte, wenn bei uns die gleiche Gesinnung angetroffen würde. Fallen steht also hier für umkommen; es bezeichnet, noch deutlicher gesagt, nicht das Sündigen, sondern die Strafe dafür.

V. 12. Denn das Wort Gottes usw. Alles, war hier von der Kraft des Wortes gesagt wird, zielt dahin, dass es nicht ungestraft verachtet werden kann. Jedes Mal, wenn der Herr zu uns redet, hat er es ernstlich mit uns zu tun und will unsern ganzen inneren Menschen anfassen. Kein Gebiet der Seele, das nicht davon bewegt werden soll. Bevor wir aber weitergehen, ist zu fragen, ob der Apostel vom Wort im Allgemeinen spricht oder insonderheit die Gläubigen im Auge hat. Bekannt ist ja das Wort Gottes nicht unterschiedslos in allen wirksam. An den Auserwählten offenbart es seine Macht in der Weise, dass sie, niedergebeugt von wahrer Selbsterkenntnis, zu Christi Gnade Zuflucht nehmen, was nur durch sein Eindringen ins innerste Herz erklärlich ist. Da ist vorab die Heuchelei auszutreiben, welche erstaunliche, mehr als gewundene Schlupfwinkel im menschlichen Herzen hat. Dann müssen wir nicht nur obenhin getroffen oder geritzt, sondern tief hinein verwundet werden, damit wir im niederschmetternden Gefühl des ewigen Todes uns selbst absterben lernen. Niemals werden wir im Geiste des Gemüts gänzlich erneuert werden (wie Paulus Eph. 4, 23 verlangt), bis durch dieses geistlichen Schwertes Schärfe unser alter Mensch den Todesstoß erhalten hat. So sagt Paulus (Phil. 2, 17) von den Gläubigen, sie werden geopfert durch das Evangelium, weil sie nicht anders als durch den Tod ihres Eigenwillens zum Gehorsam gegen Gott gebracht werden und nicht anders als nach Erlöschen ihrer fleischlichen Klugheit das Licht göttlicher Weisheit schauen können. Bei den Gottlosen merkt man nichts von alledem: hochmütig verschmähen, ja verhöhnen sie die göttliche Rede oder setzen ihr lärmenden Widerspruch und Widerstand entgegen. Ist Gottes Wort ein Hammer, so ist ihr Herz gleich einem Amboss, der den noch so wuchtigen Schlägen durch seine Härte Trotz bietet. Also ist das Wort Gottes weit entfernt, bei ihnen „durchzudringen, bis dass es scheidet Seele und Geist“. Es scheint darum, als sei diese Aussage auf die Gläubigen einzuschränken, da nur bei ihnen das Wort dergestalt ins Lebendige schneidet. Allein der Zusammenhang zeigt, dass doch der Ausspruch umfassende Bedeutung hat und auch selbst die Gottlosen angeht. Denn ob sie auch nicht weichen werden, sondern dem Wort Gottes ein Herz aus Eisen oder Stahl entgegenbringen, so müssen sie sich doch darob in ihrer eigenen Schuld verstricken. Ihr Lachen ist ein gezwungenes; innerlich ist ihnen gleichsam die Kehle zugeschnürt. Auf jede Weise drehen und winden sie sich, um dem Richterstuhl Gottes auszuweichen; aber wider Willen sehen sie sich von eben dem Wort, das sie frech verspotten, als Angeklagte hingeschleppt, so dass sie mit wütigen Hunden verglichen werden können, die ganz vergeblich an der Kette, daran sie gebunden sind, herumbeißen und kratzen, da sie nichtsdestoweniger geschlossen bleiben. Weiter aber: sollte sich diese Wirkung des Wortes auch nicht sogleich am ersten Tage zeigen, so wird doch der endliche Ausgang lehren, dass es keinem umsonst gepredigt worden ist. Es ist gewiss allgemein zu verstehen, was Christus (Joh. 16, 8) sagt: der Geist werde, wenn er komme, die Welt überführen. Und dieses richterliche Amt übt der Geist eben in der Predigt des Evangeliums aus. Endlich: wiewohl das Wort diese Macht gegenüber den Menschen nicht immer deutlich offenbart, so wohnt sie ihm doch stets irgendwie inne. Der Apostel will sagen: Wenn jemand meint, unter dem Vortragen des göttlichen Wortes werde bloß die Zeit totgeschlagen mit leerem Getön, so irrt er gewaltig; denn es ist etwas Lebendiges, voll geheimer Kraftwirkung und lässt den Menschen auf keinem Punkte, wie er gewesen ist. Darum sollen, sobald Gott den heiligen Mund öffnet, alle unsere Sinne zur Aufnahme des Gesprochenen bereit sein, weil nicht willens ist, zwecklos Worte zu vergeuden, die verhallen oder unbeachtet zur Erde fallen. In sein Wort hat er diese Macht hineingelegt, damit es in alle Gründe der Seele hineinzünde, die Gedanken prüfe, die Begierden erforsche, kurz, sich als Richter beweise.

Hier erhebt sich aber die andere Frage, ob dies vom Gesetz oder vom Evangelium zu verstehen sei. Die Ausleger, welche es auf das Gesetz beziehen, führen jene Aussagen des Paulus an, dasselbe sei ein tötender Buchstabe, ein Amt des Todes (2. Kor. 3, 6 f.), richte nur Zorn an (Röm. 4, 15) u. a. m. Allein der Apostel weiß hier noch von andern Wirkungen zu berichten: es gibt, wie wir sahen, eine Leben bringende Ertötung der Seele, die durch das Evangelium geschieht. Also spricht der Apostel vom gesamten Worte Gottes, wenn er sagt, es sei lebendig und kräftig. So bezeugt Paulus (2. Kor. 2, 16), seiner Predigt entströme ein Geruch des Todes zum Tode für die Ungläubigen, des Lebens zum Leben den Gläubigen, so dass Gott nie umsonst redet, sondern die einen dadurch zum Heil geführt, während die anderen ins Verderben gestürzt werden. Das ist die Macht zu binden und zu lösen, die der Herr seinen Aposteln gegeben hat (Matth. 18, 18); die geistliche Macht, deren Paulus sich rühmt (2. Kor. 10, 4). Und niemals wird uns ja in Christus Heil verheißen, ohne dass den Gegensatz dazu die Strafe für die Ungläubigen bildet, die sich durch Missachtung Christi den Tod zuziehen.

Weiter ist zu beachten, dass das Wort Gottes, von dem hier die Rede ist, durch den Dienst menschlicher Zeugen an uns ergeht. Auf das so genannte innere Wort abzustellen und ihm allein Kräftigkeit zuzuschreiben, das durch Menschenmund verkündigte dagegen als tot und wirkungslos zu bezeichnen, das entspränge einer törichten, ja gefährlichen Anschauung. Gewiss, die Wirksamkeit hängt nicht vom stets unvollkommenen, menschlichen Werkzeug ab, sondern ist durchaus Sache des heiligen Geistes; aber der Geist bedient sich nun einmal des gepredigten Wortes zur Entfaltung seiner Kraft. Redet Gott auch nicht vom Himmel her, sondern durch Menschen, so darf doch daraus nicht im mindesten Anlass genommen werden, die Heilsverkündigung herabzusetzen. Wenn Paulus das Evangelium eine Kraft Gottes nennt (Röm. 1, 16), so tut er es im bestimmten Blick auf seine eigene Predigt, von der er wusste, dass sie den einen ein Ärgernis, andern eine Torheit sei. Und an einem andern Ort (Röm. 10, 8) bemerkt er nachdrücklich, das Wort des Glaubens, das uns Heil zuträgt, sei das gepredigte. Immer hat das Wort, das menschliche Diener in Treue verwalten, seine göttliche Empfehlung bei sich und verlangt ehrfurchtsvolle Hörer.

Und dringet durch, bis dass es scheidet Seele und Geist. Das Wort Seele ist oft gleichbedeutend mit Geist. Wo aber beide nebeneinander genannt werden, umfasst ersteres alle Regungen und Begehrungen des Herzens, letzteres das Erkenntnisvermögen. Wenn z. B. Paulus den Thessalonichern wünscht (1. Thess. 5, 23), dass ihr Geist samt Seele und Leib unsträflich bewahrt werde auf die Zukunft Christi, so heißt das, dass sie nach Verstand, Willen und äußerem Wandel rein und lauter bleiben möchten. Nach unsrer Stelle hält das Wort Gottes Gericht über das ganze Innenleben des Menschen. Es erkundet die Gedanken, erforscht den Willen mit all seinem Verlangen. Es scheidet auch Mark und Bein: die härtesten Widerstände im menschlichen Wesen vermag es zu überwinden, in die dunkelsten Tiefen hinab zu dringen. Von der prophetischen Rede sagt Paulus übereinstimmend (1. Kor. 14, 24 f.), sie habe überführende und richtende Kraft, so dass die Hörer das Verborgene ihres Herzens zu offenbaren anfangen; und in der Predigt des Evangeliums betätigt Christus noch fort und fort seine Kunst, die geheimsten Gedanken aufzudecken und zum Bewusstsein zu bringen.

So ist das Wort Gottes in der Tat ein Richter. Es treibt den menschlichen Geist aus dem finsteren Irrgarten des Unglaubens, wo er sich versteckte, hervor an das helle Licht des Tages; der Heuchelei, dieser argen Selbstverblendung, reißt es die Larve vom Gesicht; dem Laster, das sich in den Schein der Tugend zu kleiden wusste, hilft keine Schminke mehr. Die Gottlosen fühlen wohl, dass über kurz oder lang in ihre hintersten Schlupfwinkel das richtende Licht eindringen wird. Der Unwille, ja wütende Zorn, den sie äußern, ist ein Zeichen davon, dass die ersten Strahlen sie schon getroffen haben. Sie möchten gern ausweichen, fliehen, sich verstellen; aber gegen Gott kommen sie nicht auf. Jede Widerrede, jedes Aufbrausen wider das Wort Gottes kommt dem unfreiwilligen Eingeständnis gleich, dass sie seine Kraft innerlich empfinden.

V. 13. Und keine Kreatur ist vor ihm unsichtbar. Das Wort Gottes muss wohl jene Wirkung haben; denn es hat Anteil an dem Wesen seines Urhebers. Gott ist der Herzenskündiger; kein Geschöpf kann sich seinen Blicken entziehen. Darum vermag auch sein Wort das Verborgenste aufzuspüren; er selbst bedient sich desselben wie einer Sonde, um den innersten Zustand unseres Herzens zu erforschen.

Gott ist der, dem wir Rechenschaft zu geben haben, mit dem wir es zu tun haben, der mit uns handelt; er lässt seiner nicht spotten. In Gedanken an sein alldurchdringendes Wesen muss jedes Mal, wenn sein Wort an uns ergeht, eine heilige Scheu uns erfüllen.

V. 14. Dieweil wir denn einen großen Hohenpriester haben. Bis hierher (von 3, 2 an) war von Christi Lehr- und Apostelberuf die Rede. Jetzt aber wendet sich der Brief zum anderen Amt, das der Sohn Gottes in seiner irdischen Sendung auszurichten hatte, dem priesterlichen. Nach der Ermahnung an die Hebräer, Christi Lehre gehorsam aufzunehmen, folgt also nun eine Unterweisung über die Frucht seines Priestertums. In passender Weise stellt der Brief diese beiden Lehrstücke, Priestertum und Apostelamt, zusammen: das eine wie das andere will uns den Weg zu Gott weisen. Schon vorher (2, 17; 3, 1) war Christus beiläufig unser Hoherpriester genannt worden; das Wörtchen „denn“ weist darauf zurück. Weil aber die Kraft seines Priestertums nur im Zusammenhang mit seinem Wort erkannt werden kann, musste zunächst darauf Bedacht genommen werden, die Herzen zum Hören des Wortes Christi willig zu machen. Sehen sie jetzt mit empfänglichem Jüngersinn zu ihm als ihrem Meister auf, so bleibt ihnen die weitere Aufgabe, aus seinem Munde und aus seiner Schule die Art und den ganzen Segen seines Priestertums verstehen zu lernen.

Lasset uns halten an dem Bekenntnis. Bekenntnis bedeutet hier so viel wie Glaube. Da das priesterliche Tun des Sohnes Gottes die feierliche Besiegelung und Verbürgung seines Wortes in sich schließt, so haben wir, schließt der Apostel, nicht den mindesten Grund, im Glauben an das Evangelium unsicheres Schwanken zu zeigen. Wer die Lehre des Heils nicht für vollgültig ansieht, tastet die priesterliche Ehre des Sohnes Gottes an; ein solches Pfand, wie es da vorliegt, muss unsere Zuversicht derart festigen, dass wir uns rückhaltlos auf das Evangelium verlassen.

V. 15. Denn wir haben nicht usw. Der soeben gebrauchte Name „Sohn Gottes“ ist freilich erhaben genug, um uns Ehrfurcht und Gehorsam abzunötigen. Indessen, wenn wir in Christus nichts anderes sähen, kämen unsere Gewissen noch nicht zum Frieden. Denn wer würde nicht, zumal wenn wir an unsere Niedrigkeit und an unsere Sünden gedenken, vor dem Anblick des Sohnes Gottes zurückscheuen? Jenen Hebräern konnte überdies noch ein besonderer Umstand Schwierigkeit bereiten. Im levitischen Priestertum, an das sie gewöhnt waren, sahen sie einen sterblichen Menschen als Vertreter aller übrigen das Heiligtum betreten, um seine Brüder durch seine Fürbitte mit Gott zu versöhnen. Es ist von großem Werte, wenn der Mittler zwischen uns und Gott einer der Unsrigen ist. Diesem Gefühl, das mit bestrickendem Reiz die Hebräer leicht beim levitischen Priestertum hätte festhalten können, kommt nun der Apostel entgegen, indem er zeigt, wie der Sohn Gottes doch nicht bloß in Herrlichkeit thront, sondern voll gütigen Wohlwollens und nachsichtiger Liebe gegen uns ist. Dahin zielt die Bemerkung, Christus sei in unsern Schwachheiten geübt worden, um mit uns fühlen zu können.

Was das Mitleiden betrifft, so möchte ich darüber nicht zu tiefe Untersuchungen anstellen. Es ist eine ebenso wertlose wie wunderliche Frage, ob denn unser gegenwärtiges Elend dem Herrn Christus Leiden bereite. Der Apostel hat es gewiss nicht auf solche Spitzfindigkeiten und müßige Grübeleien abgesehen. Er will nur sagen, jedes weitere Suchen nach einem Mittler sei unstatthaft, weil Christus uns von sich aus die Hand darreiche; seine Herrlichkeit brauche uns nicht abzuschrecken, da er unser Bruder sei; auch dürfe die Furcht nicht aufkommen, dass ihm die Bekanntschaft mit den Übeln und daher auch jedes menschliche Gefühl und der Trieb zu helfen abgehe, da er ja vielmehr unsere Schwächen auf sich geladen habe, um sich desto hilfsbereiter erweisen zu können. Die Stelle ist soweit ganz auf die Glaubenserfahrung zu beziehen; sie handelt nicht davon, was Christus an sich ist, sondern wie er sich gegen uns erzeigt.

Der versucht ist allenthalben gleichwie wir. Christus hat mit unserem Fleisch auch unsere Gefühle, das Anzeichen seiner wahren Menschheit, angenommen, damit in der Arbeit an den Elenden eigene Erfahrung ihm zur Seite stehe. Nicht als hätte der Sohn Gottes einer solchen Schulung bedurft; aber auf keine andere Weise hätte uns die große Mühe, die er sich um unser Heil gibt, fasslich werden können. So oft wir daher von Schwachheiten unsres Fleisches gedrückt sind, wollen wir uns erinnern, dass der Sohn Gottes, um uns durch seine Kraft aufrecht zu erhalten, gleiches durchgemacht hat.

Was ist aber unter jenen Schwachheiten zu verstehen? Einige denken an Frost und Hitze, Hunger und andere leibliche Beschwerden, oder an Verachtung, Armut und ähnliche Dinge (2. Kor. 12, 10). Richter begreift man aber nebst den äußeren Mühseligkeiten auch Gemütsbewegungen darunter, wie Furcht, Traurigkeit, Todesangst u. dgl. Andernfalls hätte der einschränkende Zusatz keinen passenden Sinn: doch ohne Sünde. Denn die Gemütsstimmungen sind der Teil unsres Wesen, der bei uns wegen unserer Verderbtheit stets mit sittlichen Gebrechen vermischt, bei Christus dagegen, dem völlig Gesunden und gänzlich Reinen, frei von jedem Fehl ist. Ist von Schwachheiten die Rede, die mit Sünden zusammenhängen, so sind also damit unzweifelhaft solche Regungen des Herzens gemeint, die der menschlichen Natur, eben wegen ihrer Schwachheit, zu schaffen machen. Denn die Engel haben es in dieser Hinsicht besser als wir, da sie keinen Schmerz, keine Furcht, keine quälende Sorge, keine Todesfurcht kennen. Jene Schwachheiten hat Christus als wahrer Mensch auf sich nehmen und bestehen wollen, nicht allein damit er uns den Sieg darüber erwürbe, sondern auch damit wir in jeder gedrückten Lage des versichert sein könnten, dass er uns nahe sei. Indessen ist die Einschränkung: „doch ohne Sünde“ beigefügt, weil zwischen Christi und unsern Gemütsbewegungen immer der Unterschied festgehalten werden muss, dass jene jederzeit vollkommen normal und wohlgeordnet gewesen sind, die unseren aber aus trüber Quelle fließen und diesen Ursprung stets durch etwas Ungeklärtes und Ungezügeltes verraten.

V. 16. Darum lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit. Aus dem Gesagten schließt der Apostel, der Zugang zu Gott stehe allen offen, die im Vertrauen auf Christus, den Mittler, hinzutreten. Er ermuntert die Gläubigen, herzhaft, ohne alle Bedenklichkeit, das Angesicht Gottes aufzusuchen. Diese Freudigkeit zur Anrufung Gottes ist die vornehmste Frucht der Lehre des Heils, während anderseits die ganze religiöse Stellung in sich zusammenbricht, wo solche Zuversicht den Herzen entschwindet. Halten wir fest daran, dass die Hand Christi sich uns entgegenstreckt, wer sollte dann nicht alles Vertrauen fassen, hinzuzutreten?

Der Grund der Zuversicht liegt darin, dass Gottes Thron nicht durch bloße Majestät, die uns niederschmettern müsste, gekennzeichnet ist, sondern die freundlich lockende Aufschrift „Gnadenstuhl“ trägt. Eine kühne Anrufung Gottes ist möglich, wenn wir wissen, dass er uns geneigt ist; dazu braucht man aber die Vermittlung Christi (Eph. 3, 12), weil er, indem er uns in seinen Schutz und Schirm aufnimmt, die Majestät Gottes, die sonst Schrecken einflößen könnte, mit Güte umkleidet, so dass nun nichts als Gnade und väterliche Liebe hervorleuchten.

Auf dass wir Barmherzigkeit empfangen usw. Diese mit Bedacht hinzugefügten Worte sollen denen, die Barmherzigkeit nötig haben, Mut machen; keiner soll, niedergeschlagen durch das Gefühl seines Elends, sich den Weg durch Kleinmut versperren. Wer irgend im Vertrauen auf Christi Selbstvertretung zu Gott fleht, darf gewiss sein, Barmherzigkeit zu erlangen. Darin liegt jedoch für alle, die diesen Weg nicht gehen wollen, eine Drohung versteckt; der Apostel bedeutet ihnen, Gott werde für ihre Bitten unerreichbar sein, da sie das einzige Mittel, ihn zu versöhnen, verachten.

Zu rechtzeitiger Hilfe. Die Frage ist, ob es nun darum zu tun ist, das zu bekommen, was wir zum Heil bedürfen. Die rechte Zeit dafür ist die Zeit der Berufung, nach jenem Wort bei Jesaja (49, 8), das Paulus auf die Verkündigung des Evangeliums bezieht (2. Kor. 6, 2): Siehe, jetzt ist die angenehme Zeit usw. Der Apostel schaut auf jenes „Heute“ zurück, wo Gott mit uns redet. Verschieben wir das Hören auf morgen, so kommt die unheimliche Nacht, in der nicht mehr möglich ist, was man jetzt noch kann, und umsonst das Klopfen an der verschlossenen Tür verhallt.

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