Bengel, Johann Albrecht - Predigt am Karfreitag (1714)

Bengel, Johann Albrecht - Predigt am Karfreitag (1714)

Text: Lukas 23,1-25

„Gedenket an den, der ein solches Widersprechen von den Sündern wider sich erduldet hat“, sagt Paulus in Hebräer 12, 3. Von diesem Widersprechen handelt besonders unser heutiger Abschnitt der Leidensgeschichte. Laßt uns also der Ermahnung des Apostels folgen und reden:

1. von dem Widersprechen der Sünder und 2. von dem Leiden, das der unschuldige Heiland erduldet hat.

1.

„Wahrlich ja, sie haben sich versammelt in dieser Stadt wider deinen heiligen Knecht Jesus, welchen du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Völkern von Israel“ (Apg. 4, 27). Der Anführer war Judas, mit dem es ein schreckliches Ende nahm. Daran hätten sich andere ein Beispiel nehmen sollen, besonders da auch er selber sich gegen sie erklärte; aber sie beharren auf ihrer Bosheit.

Die Hohenpriester und Ältesten verklagen Jesus fälschlich, reizen und verleiten das Volk, verleumden die löblichsten Taten des Herrn Jesus aus Neid und Bitterkeit. Da sieht man, daß man nicht immer das nachmachen darf, was man vornehme Leute tun sieht; es hätte sonst damals niemand an Christus glauben dürfen. Die Schrift sagt: „Du sollst nicht folgen der Menge zum Bösen“ (2. Mose 23, 2).

Das jüdische Volk war Christi eignes Volk; aber in der Gesamtheit und mit großem Geschrei tritt es wider ihn auf. Es war so blind, daß es seinen König verleugnet. Sie verurteilen und verraten den Gerechten so beharrlich, daß sie, um den zagenden Pilatus zu ermuntern, Jesu Blut auf ihre Seele nehmen. Ihr König ist ihnen feil. Das muß Jesus besonders weh getan haben. „Dein Volk und die Hohenpriester“, sagt Pilatus selbst.

Hast du angefangen, etwas auf Jesus zu halten, so laß ihn dir nimmer feil werden, solltest du auch einen Acker damit gewinnen können. Wir sind ja seine Erkauften, weil er sich für uns hat verkaufen lassen. Er hat sich selbst für uns gegeben, auf daß er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum (Tit. 2, 14). Wähle nicht einen Barabbas, nicht einen Mörder, einen Dieb, einen Ehebrecher; wähle Jesus!

Er wird rohen Heiden übergeben, die allen Mutwillen an ihm üben, den sie nur erdenken können. Da heißt es: „Die im Tor sitzen, schwatzen von mir/und in den Zechen singt man von mir“ (PS. 69, 13). So geht es zu bei der Gottlosen Zusammenkünfte. Seine zwei angesehensten Feinde sind Herodes und Pilatus. Herodes hätte gleich beim ersten Anblick Ehrfurcht und Ehrerbietung vor Jesus haben sollen; aber er verachtet ihn, gibt nur seinem Fürwitz nach, will eine Augenlust haben und bleibt im Unglauben. Er behandelt den allerhöchsten Propheten nicht anders, als wie mutwillige Leute mit Blödsinnigen umgehen. Welch schrecklicher Frevel!

Es ist ein sehr übles Zeichen, wenn man nur solange etwas auf Jesus hält, solange man vom Hörensagen weiß und allein Zeichen sehen will. Man verachtet ihn aber hernach, wenn er einem näher kommt. Es heißt: „Lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig!“ (Matth. 11, 29.) Pilatus hielt noch am längsten aus. Anfangs ging er bescheiden zu Werke; er fragte ihn aus und verhörte ihn, legte öfters ein öffentliches Zeugnis ab von der Unschuld Jesu, schlug auch allerhand Mittel vor und versuchte, Christus loszulassen. Er hatte auch ein wenig Furcht, als er hörte, daß Jesus Gottes Sohn sei. Mit seinem Betragen beschämt er wohl manche, die sich zwar Christen nennen, aber doch bei ihrem geringeren Einfluß nicht so viel Billigkeit haben.

Endlich aber läßt sich Pilatus übertäuben, da er nicht offen und ohne Menschenfurcht handelte. Er hätte nur bei dem Spruch bleiben dürfen: „Ich finde keine Schuld an ihm“, dann hätten die Juden weiter nichts anfangen können. Er hätte nur seine Tür schließen und dem Zeugnis und Trieb seines Gewissens und der Warnung seiner Frau gehorchen dürfen; aber er läßt sich überschreien. Menschenfurcht macht ihn blöde, daß er den Sohn Gottes geißelt. Er gibt ihn lieber ans Kreuz, als daß er des Kaisers Gunst verlieren oder nur in die Gefahr dieses Verlustes kommen möchte. Darum überläßt er auch den Gerechten dem Mutwillen der Kriegsknechte. Er kannte nur die weltliche und natürliche, nicht aber die geistliche Wahrheit. Umsonst ist's, daß er die Hände wäscht; die Zeremonie macht ihn nicht gerecht. Seine schönen, leeren Worte machen nicht, daß er nicht ein Feind Christi sein sollte.

So ist's aber mit dem natürlichen Willen des Menschen: Heidnische Ehrbarkeit reicht bei weitem nicht zu. Eines Menschen Willen zwingt den ändern. Einer verführt den ändern. Ungern gesündigt, ist auch gesündigt. Ungern Gutes getan, ist zwar nicht gut; aber ungern Böses getan, ist dennoch böse. wiewohl wissentliche Sünde noch weit größere Sünde ist. Man muß sich auch zum Bösen nicht zwingen lassen. Ein jeder muß für sich Rechenschaft geben und noch für andere dazu. Man kann's auch nicht auf andere schieben. Pilatus sagt: „Da siehe du zu!“ Die Hohenpriester sagen zu Judas: „Da siehe du zu!“ Sie wollen auf diese Weise ihr Gewissen zum Schweigen bringen; es ist aber umsonst. Wie die Hohenpriester es dem Judas machen, so macht es Pilatus ihnen; aber jeder sollte sich vorher vorsehen.

Indessen vergriffen sich alle an Christus. Dem Judas werden seine Silberlinge nichts helfen, auch wenn die dreihundert Groschen dabei gewesen wären für das Nardenwasser. Den Kriegsknechten hilft ihr Mutwille, den Hohenpriestern ihr toller Eifer, dem Herodes seine Üppigkeit, dem Pilatus sein Händewaschen und die Gunst des Kaisers nichts. Ja, sie müssen noch zu seiner Zeit vor dem Richterstuhl dessen erscheinen, den sie verspottet, verleugnet, durchstochen und getötet haben.

Das Leiden unsres Heilands ist zwar schon längst überstanden; aber denket nicht, daß ein solcher Frevel, den die Sünder damals an ihm begangen haben, heutzutage nicht mehr begangen werden könne. Es geschieht dergleichen nur allzuoft auf geistliche Weise. 0 laßt uns die Sünde fürchten! Es ist bald viel Schaden angerichtet. Eine Feuersbrunst ist schnell entzündet, aber schwer eingedämmt; eine Wunde ist leicht geschlagen, aber schwer geheilt. Siehe den Judas, den Pilatus und die Hohenpriester an! In wenigen Stunden vollbringen sie, was sie in Ewigkeit gereuen wird und was nicht mehr zu ändern sein wird.

Wenn man Christus nicht als den Gerechten, nicht als den König und als die Wahrheit annimmt und ihm nicht gehorcht, dann widerspricht man ihm auch wie die Leute im Text. Wir sollen anders gesinnt sein. Findigkeit, Vorsicht und Ehrerbietung finde man bei uns; denn ohne sie könnten wir das, was jetzt noch folgt, uns nicht zunutze machen.

2.

Christi Leiden war mannigfach. Er wird gebunden, da er vorher den Gebundenen die Freiheit gepredigt; er wird umhergeschleppt, da er vorher umhergegangen ist und wohlgetan hat; er wird als ein Übeltäter angesehen, und zwar so, als ob kein Beweis nötig wäre; er wird von Herodes als ein Tor angesehen; alle seine untadeligen Worte und Werke werden auf das ärgste verleumdet; er wird gegeißelt und auf gemeine Weise verspottet. Die Kriegsknechte fangen ein entsetzliches Schauspiel mit ihm an. Mit keinem armen Sünder geht man so um. So kommt eins zum ändern durch jedermann: alles, was dem Menschen weh tun kann, Armut, Schmach, Blöße und Schmerzen. Verständige Menschen können sich leicht vorstellen, daß diese Schmach unserm Heiland sehr wehgetan hat. Es hieß bei ihm: „Die Schmach derer, die dich schmähen, ist auf mich gefallen“ (Rom. 15, 3) und: „Die Schmach bricht mir mein Herz“ (PS. 69, 21).

Wir haben aber nicht nur auf die äußeren Umstände zu sehen, sondern auch auf den Grund. Er bestand darin, daß durch dieses mannigfache Leiden unsre ganze Strafe gebüßt werden und daß der Herr durch all dieses Leiden in seine Herrlichkeit eingehen mußte. Bei dem allem wird unsre Betrachtung noch weit mehr vertieft, wenn wir uns seiner vollkommenen Unschuld erinnern. Dies erkannte und bezeugte Judas: „Ich habe unschuldig Blut verraten“. Pilatus sprach: „Ich finde keine Schuld an ihm“. Herodes konnte auch keine Schuld finden. Die Frau des Pilatus bezeugt es mit den Worten: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten!“ Christus selbst, der die Wahrheit ist, bezeugte seine Unschuld. Das ist etwas Großes und Köstliches; an seiner Unschuld sollen wir im Glauben ein herzliches Wohlgefallen haben.

„Einen solchen Hohenpriester sollten wir haben, der da ist heilig, unschuldig, unbefleckt, von den Sündern abgesondert und höher, als der Himmel ist“ (Hebr. 7, 26). Er ist ein „unschuldiges und unbeflecktes Lamm“ (1. Petr. 1, 19). Gott selber hat sein höchstes Wohlgefallen an Christi Heiligkeit und um Christi willen auch an uns. Es ist schon überaus lieblich, wenn man die Unschuld eines unmündigen Kindes betrachtet. Laßt uns die Unschuld Christi betrachten und aus ihr Vertrauen zu ihm schöpfen; lassen wir uns zur Ähnlichkeit mit ihm umbilden! 0 wie unähnlich sind wir ihm! Wenn der Mensch meint, er sei unschuldig und es geschähe ihm zu viel der Bitternis, da tut es ihm nicht nur weh, sondern er wird auch sehr ungeduldig und mürrisch; Christus aber ist auch geduldig. Unschuld und Geduld war ihm eigen. Wie am Leib, so war er auch am Geist gebunden. Damit hat er seinen Gehorsam bezeugt und mit ihm Gott versöhnt. Er leidet alles, auf daß die Schrift erfüllt würde, in der der Wille seines himmlischen Vaters beschrieben ist. Da durfte kein Buchstabe noch ein Pünktlein abgehen.

Seine Geduld zeigt auch sein Stillschweigen; denn mit einem einzigen Wort hätte er ihre Zungen uneinig und sie alle zu Lügnern machen können; er leidet aber alles. Ja, auch seine Reden zeigen nichts anderes als Sanftmut an, und daneben sind sie auch voll Weisheit. Die Worte sind kurz, aber sehr hoch und über alle Maßen wichtig. Einem Menschen, der wenig Worte macht, hört man um so aufmerksamer zu, wenn er anfängt zu reden. So sollen denn auch wir auf Christi Worte von seinem Reich und von der Weisheit und ihren Jungem merken.

„Christus Jesus hat unter Pontius Pilatus bezeugt das gute Bekenntnis“ (1. Tim. 6, 13). Die Vernunft möchte zwar einwenden: Ja, das ist schon eine gute Sache, sich für einen König ausgeben; aber wir müssen bedenken, daß das Wort dem Pilatus eine Torheit war. Du darfst auch nichts anderes bekennen als das Reich Christi. Tue es nur wahrhaftig!

Wie demütig unterwirft sich der Heiland dem Willen seines himmlischen Vaters, als er die Macht erkennt, die dem Pilatus von oben gegeben war. Das sind große Dinge. Das heißt: Christus hat ein Widersprechen erduldet und selbst nicht widersprochen.

Nun frage ich dich, lieber Mensch: Kannst du dies alles anhören ohne Bewegung deiner Seele? Ach einmal sollte dein Herz weich werden. Gott hat dies alles von Anbeginn geordnet dir zum Heil. Das muß dich einmal in deinem letzten Stündlein trösten. So tue denn Fleiß, daß du bei Zeiten in solcher Wahrheit gegründet werden mögest!

Tut Buße und bekehrt euch! Zieht die Gerechtigkeit Christi an durch den Glauben! Nehmt die Schmach Christi auf euch wie Mose, der doch in der Welt so großen Vorteil hätte haben können!

„Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasset uns halten an dem Bekenntnis (Hebr. 4, 14)!“

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