Baur, Gustav Adolph - Der Hingang des Herrn seiner sichtbaren Erscheinung nach, die Vorbedingung seiner Wiederkunft im Geiste.

Baur, Gustav Adolph - Der Hingang des Herrn seiner sichtbaren Erscheinung nach, die Vorbedingung seiner Wiederkunft im Geiste.

Am Sonntage Cantate.

Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er thut Wunder. Er sieget mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm. Der Herr lässet sein Heil verkündigen; vor den Völkern lässet er seine Gerechtigkeit offenbaren. Er gedenket an seine Gnade und Wahrheit dem Hause Israel; aller Welt Ende sehe das Heil unseres Gottes. Jauchzet dem Herrn alle Welt; singet, rühmet und lobet! - Amen.

Mit diesen Worten des 98. Psalms begann in der alten Kirche der Gottesdienst an dem heutigen Sonntage, und von dieser Aufforderung, dem Herrn zu singen, hat dieser Tag seinen Namen Cantate, d. i. Singet! erhalten, wie der vorige Sonntag einem ähnlichen Anlasse seinen Namen Jubilate verdankt. Singen und jubeln also soll die Gemeinde Christi in dieser Zeit, obwohl sie sich auf die Verkündigung vorbereitet, daß ihr Herr nun seiner sinnlichen Erscheinung nach völlig von ihr scheiden werde. Und sie darf singen und jubeln, weil sie ja weiß, daß ihr Herr durch seinen Hingang erst in den Vollbesitz seiner göttlichen Macht und Herrlichkeit zur Rechten seines Vaters eingetreten ist. Und ob auch die Wolken der Trübsal und kleinmüthigen Verzagens auf eine Weile die Sonne der Gerechtigkeit unseren Blicken verdunkeln, das Christenherz darf sich doch freuen, weil es weiß, daß sie darum doch fest und in unwandelbarem Glanze am Himmel stehn bleibt und dem, dessen Glauben durch Anfechtung bewährt wird, dahin voranleuchtet, wo es auch für unser Schauen keinen Wechsel von Licht und Finsterniß mehr gibt. Und wenn der alte böse Feind seinen Kampf auch noch nicht aufgibt, ja wenn er es jetzt wieder ganz besonders ernst zu meinen scheint und große Schaaren aufbietet zum Kampfe gegen das Reich Gottes; so darf doch die Gemeinde Christi in guter und fröhlicher Zuversicht sein, daß der, welcher das Werk der Erlösung in ihr angefangen hat, es auch vollenden und nicht ruhen wird, bis er den Herzog unserer Seligkeit aus dem Kampfe zum vollständigen Siege hindurchgeführt hat. Das ist die Freude, das ist der Lobgesang, das ist das neue Lied, welches dem größten Wunder gilt, daß Gott seinen eingeborenen Sohn, welchen er nach seiner großen Barmherzigkeit zu unserer Erlösung gesandt hat und welcher seiner Sendung treu geblieben ist, bis zum Tode am Kreuz, durch seine Allmacht von den Todten auferwecket und in die Herrlichkeit wiederaufgenommen hat, die er im Anfange bei seinem himmlischen Vater hatte. Das ist das Wunder der göttlichen Gnade und Allmacht, auf welches die Väter geharrt haben und welches der gläubigen Gemeinde Christi die Quelle und die Grundlage einer unerschöpflichen und unzerstörbaren Freude geworden ist. Denn es gibt ja, meine lieben Freunde, keine festere Grundlage für unsere Freude, als die unerschütterliche Gewißheit, daß der allmächtige Gott in seinem eigenen Sohne in Gnaden sich unserer angenommen hat, daß, wenn auch Berge weichen und Hügel hinfallen, doch seine Gnade nicht von uns weichen und der Bund seines Friedens nicht hinfallen wird, und daß dem, welcher „Jesus Christus gestern und heute und derselbige auch in Ewigkeit!“ zu seinem Wahlspruche gemacht hat, die Freude des endlichen Sieges gewiß ist.

O Heil‘ger Geist, kehr' bei uns ein,
Und laß uns deine Wohnung sein!
O komm, du Herzenssonne!
Du Himmelslicht, laß deinen Schein
In unsern Seelen kräftig sein
Zu steter Freud' und Wonne.
Reine Freude, himmlisch Leben
Willst du geben,
Wenn wir beten
Und in Demuth zu dir treten.

Text: Joh. 16, 5-15. Nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und Niemand unter euch fragt mich: Wo gehest du hin? Sondern, dieweil ich solches zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauerns geworden. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden. Und wenn derselbige kommt, der wird die Welt strafen, um die Sünde, und um die Gerechtigkeit, und um das Gericht: Um die Sünde, daß sie nicht glauben an mich; um die Gerechtigkeit aber, daß ich zum Vater gehe, und ihr mich hinfort nicht sehet; um das Gericht, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnet es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von ihm selbst reden; sondern was er hören wird, das wird er reden; und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird es von dem Meinen nehmen, und euch verkündigen.

Dieser Text geht dem, welchen wir an dem vorigen Sonntage Jubilate zu betrachten hatten, unmittelbar voran, und sein Inhalt erinnert uns insbesondere wieder an die Worte des Herrn, welche wir damals in den Mittelpunkt unserer Betrachtung gestellt haben: „Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen, denn ich gehe zum Vater; und euer Herz wird sich freuen und eure Freude wird Niemand von euch nehmen.“ In unserem heutigen Texte zeigt uns nun Christus, wie gerade dadurch, daß er seiner sichtbaren Erscheinung nach von den Seinen geschieden ist, er ihre Freude vollkommen gemacht hat, indem so erst ihre geistige Gemeinschaft mit ihm sich vollenden kann, und der wesentliche Inhalt unseres Textes liegt zusammengefaßt in den Worten: „Es ist euch gut. daß ich hingehe; denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden.“ Christus fordert uns damit auf, zu erwägen, wie sein Hingang seiner sichtbaren Erscheinung nach die Vorbedingung ist seiner Wiederkunft im Geiste. Laßt uns zuerst sein Wort uns klar machen: „Es ist euch gut, daß ich hingehe,“ und dann sehen, worin das Wirken des Geistes besteht, welchen er nach seinem Hingang den Seinen sendet.

I.

Es liegt, meine geliebten Freunde, über die letzten Gespräche, welche Jesus in der Zeit zwischen dem heiligen Abschiedsmahle und zwischen seiner Gefangennehmung mit seinen Jüngern führte, und welche der Jünger, den der Herr lieb hatte, so ausführlich in seinem Evangelium aufgezeichnet hat, die Stimmung eines eigenthümlichen Halbdunkels ausgegossen. Es rührt dieses aber nicht her aus den Reden des Herrn. Denn wenn diese auch auf die tiefsten Geheimnisse des göttlichen Heilsrathschlusses, des Verhältnisses des eingeborenen Sohnes Gottes zu seinem himmlischen Vater und der Entwicklung des Reiches Gottes sich beziehen; so verbinden sie doch mit ihrer wunderbaren Tiefe eine nicht minder wunderbare Klarheit und Durchsichtigkeit, und man sieht in sie hinein, wie in die klare Tiefe eines durchsichtigen Meeres, auf dessen Grund die herrlichen Wunderschätze der Weisheit und Erkenntniß Gottes den Blicken entzückend sich aufthun. Sondern in die Klarheit der Reden Jesu selbst mischt sich das Dunkel, weil seine Jünger was er sagte noch nicht vollkommen zu verstehen vermochten. Sie sind uns eben ein Beweis dafür, daß, um die Worte des Herrn in Wahrheit zu verstehen, ein äußerliches Auffassen derselben mit dem bloßen Verstande nicht ausreicht, sondern daß die eigne lebendige innere Erfahrung von ihrer Wahrheit hinzukommen muß. Und diese Erfahrung hatten die Jünger jetzt noch nicht gemacht. Was Christus ihnen sagte von seinem baldigen Hingange, von den Leiden, welche ihm bevorständen und welche auch seine Bekennet zu tragen haben würden, wie er selbst, das lag zu weit ab von den Vorstellungen, welche sie von dem Erlöser Israels nach den Vorurtheilen ihres Volkes sich gebildet hatten, als daß sie es hätten fassen können. Erst nachdem das Verkündigte wirklich eingetreten war, und nachdem sie ihren durch den Tod auf eine kleine Zeit verlorenen Heiland durch seine Auferstehung auf immer wiedergefunden hatten, da erinnerten sie sich seiner Worte und gieng ihnen deren volle Bedeutung auf. Fürs erste aber konnten seine Worte keinen aufklärenden und erhebenden, sondern nur einen verwirrenden und niederschlagenden Eindruck auf sie machen. So stellt sie uns denn auch der Anfang unseres Textes dar, verdüstert und in Trauer versenkt durch die Worte ihres Meisters, so daß sie nicht einmal dazu kommen, ihn um eine nähere Erläuterung derselben zu bitten. Nun aber, so spricht Jesus zu ihnen, nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat, und Niemand unter euch fraget mich: Wo gehest du hin? Sondern dieweil ich solches zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauerns geworden.„ Aber in diese trauernden Herzen will er doch ein bestimmtes und nicht mißverständliches Trostwort hineinrufen, und darum spricht er weiter zu ihnen: „Es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden.' Auch diese Verheißung von dem Tröster, welcher zu ihnen kommen solle, mochte ihnen damals noch unverständlich sein. Sie sollte ihnen erst vollständig klar werden, als unter dem heiligen Geisteswehen am Pfingstfeste der verheißene Tröster wirklich zu ihnen kam. Jenes Wort aber: „Es ist euch gut, daß ich hingehe,“ das mußte doch als ein klares und deutliches Trostwort in ihrem Herzen haften. - Und so laßt uns denn, meine geliebten Freunde, zuerst fragen, warum es für die Jünger gut war, daß der Herr seiner sichtbaren Erscheinung nach von ihnen gieng. Die Antwort auf diese Frage deutet Christus selbst uns an in den Worten, welche unserem heutigen Texte unmittelbar vorangehen. Da sagt er nämlich: „Solches habe ich euch von Anfang nicht gesagt, denn ich war bei euch.“ Also so lange der Herr noch in leiblicher Gegenwart bei seinen Jüngern weilte, erkannte er es nicht für nöthig, sie in das tiefere Geheimniß des Gnadenrathes seines Vaters im Himmel einzuweihen, dessen Vollendung nun durch seine Kreuzigung, Auferstehung und Erhöhung begründet werden sollte. War er doch selbst noch bei ihnen, um ihre etwaigen Zweifel zu lösen, ihre Irrthümer zu beseitigen und in ihrem Kleinmuth sie aufzurichten. Als aber die Zeit seines Scheidens von ihnen nahe bevorstand, da galt es, sie in die vollere Wahrheit einzuführen; ja er kündigte ihnen an, daß erst der heiligen Geist, welchen er ihnen senden werde, sie in alle Wahrheit leiten werde, weil dieser ihnen auch das mittheilen könne, was er selbst ihnen noch verschweigen müsse, da sie es doch jetzt noch nicht würden tragen und fassen können. In unserem Herrn und Meister stellt sich uns damit das rechte Vorbild eines weisen Lehrers und Erziehers dar, welcher sich ja auch voraussagen muß, daß er bei seinen Schülern und Zöglingen nicht beständig bleiben kann, und daß er darum bei Zeiten darauf bedacht sein müsse, sie mit den erforderlichen Kenntnissen und mit der nöthigen Selbständigkeit des Geistes und Willens auszurüsten, damit sie auch ohne seine unmittelbare persönliche Leitung ihren Weg finden und wandeln können. Wie ein Kind, welches doch fortwährend, auch wenn es den Jahren der Mündigkeit schon entgegenreift, unter ängstlicher persönlicher Aufsicht der Eltern und Erzieher gehalten wird, niemals den Halt gewinnt, welcher ihm unentbehrlich ist, wenn es in dem Leben sich selbständig zurecht finden und behaupten soll; so würden auch die Apostel, wenn der Herr in leiblicher Gegenwart bei ihnen geblieben wäre, nicht zur vollen Festigkeit und Lebendigkeit des Glaubens und zur recht selbständigen Verwaltung ihres apostolischen Berufes gelangt sein. Hätte er sie auch ausgesandt zur Verkündigung seines Evangeliums: sie würden in allen zweifelhaften Fällen nach seiner Entscheidung sich gesehnt haben und zur vollen Sicherheit eines selbständigen Verfahrens nicht gekommen sein. Dadurch aber, daß er von ihnen schied, wurde ihnen zugemuthet, zu beweisen, daß sie zur Mündigkeit und männlichen Selbständigkeit ihres Glaubens hindurchgedrungen waren, und jetzt erst vermochten sie mit voller Sicherheit und Freiheit den Befehl ihres Meisters zu erfüllen: „Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten Alles, was ich euch gesagt habe“ - umsomehr, da er, wenn auch der sichtbaren Erscheinung nach von den Seinen getrennt, doch alle Tage bei ihnen bleibt in der Kraft seines Geistes. -

Und wie seinen Jüngern, so ist sein Wort: „Es ist euch gut, daß ich hingehe“, auch uns zum Tröste gesagt, denen es ja, wie ich auf Anlaß unserer in dieser Zeit zu betrachtenden Texte schon öfter hervorgehoben habe, so nahe liegt, zu bedauern, daß wir den Heiland nicht, wie seine Jünger, mit leiblichen Augen von Angesicht zu Angesicht haben sehen können. Auch uns wird durch jenes Trostwort verbürgt, daß wir darum doch keiner der wesentlichen Segnungen verlustig gehn sollen, welche er seinen Brüdern gebracht hat. Und auch einen sichtbaren Stellvertreter hat er uns ja hinterlassen. 'Das erste Geschlecht nach der Zeit des irdischen Lebens Jesu hat noch als feine persönlichen Stellvertreter die Apostel gehabt, deren Entscheidung man in Zweifeln über die Lehre und die kirchlichen Ordnungen anrufen konnte. Den späteren Geschlechtern ist als der sichtbare Stellvertreter des Herrn und Hauptes der Kirche sein Wort geblieben, welches in fester Gestalt zu bleibendem Gedächtniß in der heiligen Schrift des neuen Testamentes verzeichnet ist. Aber wie nun, Geliebte? Das Neue Testament enthält ja nur die Schriften der Evangelisten und Apostel. Sollen wir denn nicht wiederum bedauern, daß Christus, wenn er denn selbst von uns hat scheiden müssen, nicht wenigstens eine Schrift von seiner Hand hinterlassen hat? Würde nicht das erst die vollkommene untrügliche Richtschnur für unseren Glauben und unser Leben geworden sein, durch welche der durch alle christlichen Jahrhunderte sich hindurchziehende ärgerliche Streit über die verschiedene Auffassung des apostolischen Wortes am sichersten würde vermieden worden sein? Nun, meine Lieben, auch eine Schrift des Herrn selbst würde schwerlich der Verschiedenheit menschlicher Auffassung entgangen sein. Aber wenn selbst dem so viel als möglich dadurch wäre vorgebeugt worden, daß Christus uns ein bis ins Einzelste genau bestimmtes Lehrsystem hinterlassen hätte: würde nicht dieser von dem eingeborenen Sohne Gottes selbst aufgezeichnete heilige Buchstabe uns ein Abgott geworden sein, welcher uns von dem lebendigen Heiland selbst abgezogen hätte? Würde nicht das in solcher Gestalt uns überlieferte Evangelium uns vielmehr ein neues Gesetz geworden sein, das durch die ängstliche Behutsamkeit, auch im geringsten nicht gegen es zu verstoßen, uns zur Freudigkeit und Freiheit der lebendigen geistigen Gemeinschaft mit Christus nie hätte kommen lassen? Nein, meine geliebten Freunde, wie es gut gewesen ist für die Jünger des Herrn, daß er seiner sichtbaren Erscheinung nach von ihnen geschieden ist; so ist es auch gut für uns und wir haben darin eine heilsame Fügung der göttlichen Weisheit zu erkennen, daß er uns nicht als einen sichtbaren Stellvertreter seiner Wahrheit eine von ihm selbst verfaßte Schrift hinterlassen hat. Seine Apostel haben unter der Leitung seines Heiligen Geistes Alles zur Genüge aufgezeichnet, was zu unserer Seelen Seligkeit uns zu wissen nöthig ist, und indem der gemeinsame wesentliche Grund des christlichen Glaubens in den verschiedenen Aposteln auf eigentümliche Weise sich abspiegelt, werden auch wir aufgefordert, ihn lebendig uns anzueignen, damit er nach der Gabe, die einem jeden geworden ist, in uns eine eigenthümliche Gestalt gewinne und im Leben sich wirksam erweise, - Aber die Trägheit unseres Geistes und der Hochmuth unseres Herzens versucht uns fortwährend, nach den unbedingt bindenden Formen eines äußerlichen Gesetzes zu trachten; die Trägheit, weil sie dadurch des eignen Suchens und Arbeitens überhoben ist, und der Hochmuth, weil ihm dadurch das Mittel gegeben ist, die Geister zu beherrschen. Die römische Kirche ist dieser Versuchung zu ihrem Verderben verfallen. Sie hat das Wort des Herrn vergessen: „Es ist euch gut, daß ich hingehe“, und hat gewähnt, in dem römischen Bischof der Kirche einen sichtbaren Stellvertreter des Herrn geben zu müssen. Was dieser bestätigt hat, das gilt ihr, als ob es von dem Herrn selbst verordnet wäre. Aber an ihren Früchten erkennt man auch, daß sie die wahre Kirche desjenigen nicht ist, der uns aus der Knechtschaft des Gesetzes zur herrlichen Freiheit des Evangeliums hat hindurchführen wollen. Die Menge des christlichen Volkes wird in ihr niedergehalten in Unwissenheit und geistiger Dumpfheit und Trägheit, die nur, wenn sie das drückende Joch plötzlich abschüttelt, in die blinde Wuth eines alles zerstörenden Unglaubens, oder im Kampfe mit evangelischer Freiheit in wilden fanatischen Eifer umschlägt. Mögen doch die Angehörigen der evangelischen Kirche durch solche Vorgänge sich warnen lassen, daß sie sichtbare menschliche Formen der Lehre, des Gottesdienstes und der kirchlichen Ordnung niemals mit dem lebendigen Heiland selbst verwechseln. Und mögen sie nicht trauern, wenn mit diesen eine Veränderung vorgeht, als ob nun Christus selbst von uns genommen werde. Denn wie gut auch solche menschliche Formen sein mögen: vollständig geht doch der lebendige Geist des Herrn niemals in ihnen auf. Und darum ist es gut für uns, wenn auch sie zuweilen erschüttert und theilweise von uns genommen werden. Es liegt darin eine Mahnung für uns, auf den lebendigen Heiland unser Vertrauen zu sehen und seines Geistes uns zu versichern, der sich neue Formen schafft, um uns, dem Willen des Herrn gemäß, stets vollständiger in alle Wahrheit zu leiten.

II.

Aber freilich, meine geliebten Freunde, muß der Geist, welcher die alten Formen zersprengt und sich neue schafft, wenn wir ihm mit gutem Grunde und zu unserem Heile vertrauen sollen, auch in Wahrheit der Geist des Herrn sein. Und dieß führt uns denn zu dem zweiten Theil unserer Betrachtung, in welchem wir zu sehen haben, worin denn das Wirken des Geistes besteht, welchen der Herr nach seinem Hingange den Seinen sendet. Also noch einmal: darauf kommt es vor Allem an, daß der Geist, welcher in der Gemeinde Christi und in seinen einzelnen Bekennern waltet, von dem Herrn gesendet sei. Wehe uns, wenn der unheilige Geist willkürlichen menschlichen Gelüstens unter trügerischer Berufung auf Fortschritt und evangelische Freiheit, den Herrn selbst verläugnet, uns von dem Grunde, welchen Er gelegt hat, wegreißt und was auf diesem Grunde in lebendigem Glauben aufgebaut worden ist, frevelhaft zerstört! Der wahre, heilige Geist ist kein Geist der Willkür, er redet, wie unser Text sagt, nicht von ihm selber; sondern was er in den Tiefen der Gottheit erforschet und vernimmt (1. Kor. 2, 10), das spricht er aus, und was er verkündiget, das nimmt er aus der Fülle des Herrn. Er schöpft seine Wahrheit und seine Kraft aus der Tiefe des ewigen Grundes unseres Heiles. Er entfernt mit seinem heiligen Wesen und mit seiner heiligen Glut je mehr und mehr was menschliches Wollen und Meinen von Holz, Heu und Stoppeln auf diesen Grund aufgebaut hat, und schaffet, daß das reine Gold unseres Glaubens herausgeläutert wird, und daß wir in unserem gesammten Erkennen und Leben und Wesen je mehr und mehr als lebendige Bausteine jenem Grunde eingefügt worden. In diesem Geiste ist der Herr, nachdem er hingegangen war zu seinem Vater, an jedem Pfingstfeste wieder zu den Seinen gekommen in großer Kraft und hat sie erinnert an das Wort, das er ihnen gesagt hatte, und sie überzeugt, wie gut es war, daß er hingieng. In diesem Geiste bleibt er immerdar bei seiner Gemeinde und wenn sie in Heilsbegierde die Herzen ihm aufschließt, so theilt er seine heilige Kraft ihr mit durch die Gnadenmittel des Wortes Gottes und der Sacramente, damit er sie leite in alle Wahrheit und selbst in seiner Gemeinde verklärt werde. Und das Wirken dieses von dem Herrn gesendeten Geistes faßt denn auch unser Text zusammen in dem Worte, daß er die Welt strafen werde um die Sünde, um die Gerechtigkeit und um das Gericht. Der Heilige Geist straft die Welt, das will nach dem Grundtexte unseres Evangeliums sagen: er überführt die Welt, den Gläubigen zum Heile und den Ungläubigen zum Gericht, von der Wahrheit, welche der ewige Gott in seinem eingeborenen Sohne ihr geoffenbaret hat. Das fortwirkende Walten des Heiligen Geistes stellt diese Wahrheit in ein immer klareres Licht, also daß das Auge sich vor ihm nicht mehr verschließen kann und das schwankende Herz sich für oder wider entscheiden, entweder sich ihr zuwenden, oder sich selbst richten muß, indem es von ihrem heilsamen Strahle sich abwendet und statt des Lichtes die Finsterniß erwählt. Es straft aber der Heilige Geist, wie unser Text weiter ausführend hinzufügt, die Welt zuerst um die Sünde, daß sie nicht glaubet an den eingeborenen Sohn Gottes, der zu ihrer Erlösung gesandt ist. Als die Welt ihren Heiland verworfen und au das Kreuz geschlagen hatte, da meinten viele noch, damit ein Gott wohlgefälliges Werk gethan zu haben. Aber durch die Kraft des Heiligen Geistes wurden sie aufgerüttelt aus ihrer Verblendung und aus ihrer Sicherheit. Als Petrus, des Heiligen Geistes voll, ihnen zurief: „So wisse nun das ganze Haus Israel gewiß, daß Gott diesen Jesum, den ihr gekreuziget habt, zu einem Herrn und Christ gemacht hat!“ - da gieng es ihnen durch's Herz, da wurden sie ihrer Sünde überführt, daß sie an den Sohn Gottes nicht geglaubt hatten, da fiel es wie Schuppen von ihren Augen und erschütterten Gemüthes sprachen sie zu Petro und zu den andern Aposteln: „Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun?“ Und offenbar, meine lieben Freunde, tritt ja das Verderben der uns Gott entfremdenden Macht der Sünde in nichts so deutlich hervor, als darin, daß wir nicht glauben wollen an seinen eingeborenen Sohn, in welchem doch die Herrlichkeit des unsichtbaren Gottes uns menschlich nahe tritt und welchen die ewige Liebe und Barmherzigkeit zu unserer Erlösung hingegeben hat. Mag nun auch unserem Widerstreben, das uns dargebotene Heil im Glauben zu ergreifen, eine Zeit lang noch das Gebet des Herrn zu gute kommen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!“ - so weiden wir doch, je mehr durch das Walten des Heiligen Geistes die seligmachende Gotteskraft des Evangeliums sich offenbart, um so mehr unserer Sünde überführt, also daß wir keine Entschuldigung mehr haben. Es wird unsere Sünde um so mehr jene Sünde gegen den heiligen Geist, die nicht vergeben werden kann, weil sie eben in dem hartnäckigen, wissentlichen Widerstreben gegen die erleuchtende und zur Buße und Bekehrung rufende Macht des Heiligen Geistes besteht; und wer in diesem Widerstreben wissentlich und willentlich verharret bis an's Ende, der spricht sich selbst das Urtheil, von welchem auch der allmächtige und barmherzige Gott ihn nicht freisprechen kann. Weiter besteht das Wirken des Heiligen Geistes nach den Worten des Herrn in unserem Texte darin, daß er die Welt auch strafe um die Gerechtigkeit, indem Christus wieder zu seinem Vater gehe und seine Jünger ihn hinfort nicht mehr sehen. Wenn der Heilige Geist, indem er die Welt ihrer Sünde und ihres daraus hervorgehenden verderblichen und verwerflichen Unglaubens überführt, sein Strafamt übt; so übt er dagegen sein Lehramt, indem er sie mit unverkennbarer Klarheit auf den Weg zu der Gerechtigkeit hinführt, die vor Gott gilt. Auch die vorchristliche Welt hat diesen Weg gesucht, aber sie hat ihn nicht gefunden. Selbst die Besten im Volke des alten Bundes kamen auf dem Wege des Gesetzes nur zu der niederschlagenden Erkenntniß, daß auf diesem Wege die vollkommene Gerechtigkeit nicht zu finden sei; und darum sehnten sie sich nach einem Erlöser, der sie befreie von dem Banne der Sünde und sie mit göttlicher Kraft der Heiligung durchdringe. Wenige heilsbegierige Herzen fanden diesen Erlöser in Jesu von Nazareth, bis mit seinem Tode auch ihr Glaube erstarb. Dadurch aber, daß Gott ihn von den Todten auferweckte und zu seiner himmlischen Herrlichkeit erhob, wurde auch ihr Glaube und ihre Hoffnung neu belebt. Gerade dadurch, daß er wieder zu seinem Vater gieng und sie ihn nicht mehr sahen, lernten sie auf ihn sehen, als auf den, der nicht um seiner Sünde willen gestorben sei, sie erkannten, daß Gott den, welcher von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht hat, auf daß wir in ihm hätten die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Und je mehr durch das Walten seines Heiligen Geistes offenbar wird, wie er den Seinen allezeit nahe ist mit seiner erlösenden und versöhnenden und heiligenden Gotteskraft, und wie aller wahre geistige Fortschritt von dem lebendigen Glauben an ihn ausgeht, desto mehr muß der Welt auch klar werden, daß es keinen Weg zur Gerechtigkeit und zum Heile gibt, als ihn. - Aber weil wir nun doch sehen, Geliebte, daß so viele dennoch diesen Weg nicht wandeln wollen, sondern den Rath der göttlichen Gnade wider sich selbst verachten; so ist nöthig, daß der Heilige Geist außer seinem Straf- und Lehramte auch ein Trostamt an uns übe. Und auch das thut er, indem er die Welt des Gerichtes überführt, daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist. Sehen wir auch noch nicht, daß unserem Herrn Alles unterthan sei, so verbürgt uns doch sein Heiliger Geist, daß sein Vater im Himmel ihm alles unterthan habe. Hört auch der Fürst der Welt noch nicht auf, gegen das Gottesreich anzukämpfen, welches Christus gegründet hat: wir wissen doch, daß er ihm und uns nichts anhaben kann, weil er gerichtet ist; und der Heilige Geist gibt Zeugniß unserem Geiste, daß wir einem Herrn angehören, aus dessen gewaltiger Hand keine Macht der Welt uns reißen kann. Er verbürgt uns die Erhörung des hohenpriesterlichen Gebetes Jesu: (Joh. 17, 22-26): „Vater, ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie Eins seien, gleich wie wir Eins sind. Ich in ihnen und du in mir, auf daß sie vollkommen seien in Eins und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast und liebest sie, gleichwie du mich liebest. Vater, ich will, daß wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast; daß sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast.“ - So, meine Lieben, ist Jesus Christus durch seinen Hingang zu dem Vater erst recht wieder zu uns gekommen, um durch das strafende, lehrende und tröstende Walten seines Heiligen Geistes verklärt zu werden in seiner Gemeinde. O so gib denn, du Gott der Gnade, daß auch in dieser Gemeinde dein lieber Sohn je mehr und mehr Gestalt gewinne, auf daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntniß des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei in der Maße des vollkommenen Alters Christi; und stehe mit deiner allesvermögenden Kraft der Schwachheit der Bauleute bei, welche berufen sind, deine Gemeinde zu einer Behausung Gottes im Geist aufzubauen auf dem Grunde der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist. - Amen.

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